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Disput·Ecclesiastica·Res publica

Tote Punkte Neutestamentliche Einwürfe zu einem ambivalenten Phänomen


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Die christliche Verbrämung toter Punkte kann tödlich sein. Sicher: Die Auferstehung des Gekreuzigten ist das Fundament des christlichen Glaubens, ohne die jede Verkündigung, wie Paulus sagt, leer und der Glaube nutzlos (vgl. 1 Korinther 15,14.17). In einer oberflächlichen, von der christlichen Auferstehungshoffnung abgeleiteten Spiritualisierung kann man dann sowohl schnell davon reden, dass man nie tiefer fallen könne als in Gottes Hand1), oder eben die „österliche“2) Hoffnung beschwören, dass „tote Punkte“ zu „Wendepunkten“ würden3). Es ist sicher kein Zufall, dass solche Spiritualisierungen einschneidender Schritte von jenen beschworen werden, die von einem leitenden Kirchenposten zurücktreten. Auch in der Dunkelheit muss halt irgendwo Licht sein, wo käme man sonst hin. Vielleicht sind solche kalenderspruchartigen Reminiszenzen einer österlichen Hoffnung, die dem Tod mit seinen Schrecken den Stachel nehmen möchte, bevor man ihn erleiden muss, dann doch letztlich etwas seicht, zeigt sich doch bei näherer Betrachtung, dass nicht nur aus biblischen, sondern sogar aus mathematischen Gründen tote Punkte höchst ambivalent sind.

Wende oder Krümmung, das ist hier die Frage

Zuerst muss man, um der Ehrlichkeit willen, eine kurze Begriffsklärung vornehmen. Wer sich den kurzen mathematischen Exkurs ersparen möchte, kann gerne direkt zum nächsten Kapitel springen. Nicht alles nämlich, was nach Wendepunkt aussieht, ist auch ein Wendepunkt. Das zeigt jedenfalls die Ambivalenz „toter Punkte“4) in der Mathematik. Dort könnte man „tote Punkte“ als jene Punkte in einer Funktion begreifen, deren Ableitung, also die Steigung innerhalb eines Graphen, „0“ ist. Das ist sicher bei einer klassischen Hyperbel der Fall: Auf einen Abstieg folgt nach einem „toten Punkt“ wieder der Anstieg – meist sogar exponentiell. Das ist in der Wirtschaft die sogenannte klassische „V-Antwort“, mit der man nach einer Krise – wie etwa der Corona-Krise – einen ökonomischen Aufschwung prognostiziert5). Allerdings gilt das Phänomen auch bei einer Spiegelung der Hyperbel – dann folgt auf einen Anstieg dem „toten Punk“ der Abstieg. Freilich bezeichnet man in der Mathematik den Punkt, bei dem die Ableitung „0“ beträgt, in diesem Fall eben nicht als „Wendepunkt“, sondern als Krümmung.

„Tote Punkte“ als „Wendepunkte“ kennt die Mathematik aber auch. Auch hier beträgt in einer Funktion die Ableitung „0“. Allerdings gibt es eine zweite Bedingung: Bei „Wendepunkten“ muss auch die zweite Ableitung „0“ betragen. Das aber ist bei Funktionen der Fall, die nach dem Muster x3 gerechnet werden. Der dazugehörige Graph beschreibt eine sich exponentiell abflachende Linie, die zum „toten Punkt“ führt, und von da aus exponentiell steigernd die vorherige Richtung fortsetzt. Der „tote Punkt“ wird hier gerade nicht zum Umkehrpunkt; im Gegenteil: er wird zum Punkt, von dem aus sich eine Tendenz in negativer oder positiver Weise exponentiell steigernd fortsetzt.

Anders als in der Umgangssprache werden Umkehrpunkte in der Mathematik also als „Krümmungen“ bezeichnet, während „Wendepunkte“ lediglich Zäsuren bedeuten, nach denen es schnell weiter im vorherigen Trend geht. Das zu verstehen, ist sicher nicht nur für Schülerinnen und Schüler einfach, auch ein Kardinal, der tote Punkte als Wendepunkte erhofft, mein sicher etwas anderes als die Expertinnen und Experten der Mathematik, die sicher schon an ihrem Navi verzweifeln, das mathematisch völlig inkorrekt am Ende einer Sackgasse „Bitte wenden!“ fordert und nicht „Bitte krümmen!“.

Trotzdem kann die Mathematik hilfreich sein, den rhetorischen Köder „toter Punkte“ zu hinterfragen – gerade dann, wenn sie biblisch oberflächlich verbrämt werden …

Biblische Anfragen

Auch biblisch ist der Tod nicht immer der Wendepunkt zum Leben hin. Sicher ist das der Urgrund der christlichen Hoffnung. Natürlich findet man diese V-förmige Bewegung von Abstieg, totem Punkt und Aufstieg im Neuen Testament – ganz klassisch in jenem Hymnus, den Paulus im Philipperbrief überliefert. Dort folgt der κένωσις (gesprochen: kénosis), der Entäußerung, die ihre Totalität im Gehorsam zum Tod findet, der erlösende Aufstieg:

Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters. Philipper 2,6-11

Der im wahrsten Sinn des Wortes „tote Punk“ wird durch den tautologischen Zusatz „bis zum Tod am Kreuz“ sogar noch übersteigert: tiefer kann man eben nicht sinken – da ist keine Hand Gottes mehr … – nur gehorsam geworden sein (γενόμενος ὑπήκοος – gesprochen: genómenos hypékoos) des Christus Jesus. Dieser Punkt wird dann zur Umkehr (mathematisch also zur „Krümmung“), die sich textlich in der kleinen Partikel διό (gesprochen: dió – darum) ausdruckt. Der Gehorsam bis zum Tod am Kreuz ist der Grund für die anschließende Erhöhung. Ein Tod am Kreuz ohne den vorgängigen Gehorsam, so könnte man meinen, hätte also durchaus ganz andere Konsequenzen haben können …

Tatsächlich ist der tote Punkt aus dem Philipperbrief nicht für alle neutestamentlichen Schriften der ultimative Tiefpunkt. Im 1. Petrusbrief etwa geht es noch weiter bergab:

Denn auch Christus ist der Sünden wegen ein einziges Mal gestorben, ein Gerechter für Ungerechte, damit er euch zu Gott hinführe, nachdem er dem Fleisch nach zwar getötet, aber dem Geist nach lebendig gemacht wurde. In ihm ist er auch zu den Geistern gegangen, die im Gefängnis waren, und hat ihnen gepredigt. Diese waren einst ungehorsam, als Gott in den Tagen Noachs geduldig wartete, während die Arche gebaut wurde; in ihr wurden nur wenige, nämlich acht Menschen, durch das Wasser gerettet. 1 Petrus 3,18-20

Dem Kreuzestod Jesu Christi folgt ein weiterer Abstieg: Der Christus lebt zwar weiter, muss aber in die Unterwelt hinabsteigen, um die dort Einsitzenden, die keine Hand Gottes hält, zu predigen. Dabei lässt der Autor des 1. Petrusbriefes offen, ob die so bepredigten Geister auch Befreiung erfahren. Vielleicht ist es auch schon Gnade genug, dem Erlöser zu lauschen. Das kennt man als einfache Christin und als einfacher Christ: Die Wirkung beseelender Predigten jener, die sich als Repräsentanten Christi als des Hauptes der Kirche bezeichnen. Wer diese beseelende Wirkung nicht immer und überall verspürt, muss wohl verstockt sein. Salbungsvolle Worte können doch so viel Schönes haben, selbst wenn man in der Hölle sitzt …

Zweifellos haben schon frühe Christinnen und Christen diesen Gedanken als wenig charmant und unvollkommen empfunden. Pastorale Kalenderspruchromantik zog schon damals nicht und man dachte weiter. Im ebenso apokryphen wie wirkungsgeschichtlich höchst relevanten Nikodemusevangelium wird deshalb von der „Höllenfahrt Christ“ berichtet6). Nach Aufsprengen der Pforten der Unterwelt und mächtigem Ringen mit dem Fürsten der Unterwelt heißt es dort schließlich:

Wende dich um und schaue, dass kein Toter bei mir zurückgeblieben ist und dass du alles, was du durch das Holz der Erkenntnis gewonnen, durch das Holz des Kreuzes verloren hast! Nikodemusevangelium XXIII

Hier wird also nicht nur geredet, sondern gehandelt. Christus geht über den toten Punkt hinaus und befreit die, die im Reich der Schatten ihr Dasein fristen. Er kehrt nicht einfach in die Herrlichkeit zurück, sondern übersteht den toten Punkt und übergeht ihn in die Tiefe um die, die an der 0-Linie ihrer Existenz angelangt sind, zu befreien.

0-Linien

Diese 0-Linie ist dem späteren Erlöser selbst ja nicht fremd. Man kann lange darüber diskutieren, ob der wahre Mensch Jesus in seiner irdischen Existenz darum wusste, dass er wahrer Gott ist. Die Signale, die sich in den Evangelien finden lassen, sind weder in die eine noch in die andere Richtung eindeutig. Die Idee des oben zitierten Philipperhymnus geht mit der Idee der Kenosis eher in die Richtung, dass die Gottheit zwar ganz im Menschen Jesus gegenwärtig war, zur Kenosis (Entäußerung) aber eben auch gehörte, dass sie nicht nur nicht angewendet, sondern um der ganzen Menschlichkeit willen auch nicht gewusst wurde. Wörtlich bedeutet der Satz:

Hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein. Philipper 2,6

sogar:

Er hielt sein Gottsein nicht wie eine Beute (etwas Geraubtes – ἀρπαγμὸν ἡγήσατο – gesprochen: arpagmòn hegésato) fest.

Auch manche Szene im Leben Jesu deutet darauf hin, dass der ganze Mensch Jesu die Göttlichkeit vielleicht ahnte, das Ahnen aber angesichts der sich abzeichnenden Todesschicksals nichts half. Seine persönliche 0-Linie, der tote Punkt, die unüberwindbare Hoffnungslosigkeit findet Jesus wohl im Garten Gethsemane als er Blut und Wasser schwitzend in Todesangst betend bittet:

Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, was ich will, sondern was du willst. Markus 14,36 parr

Auch hier findet sich der Gehorsam, sich dem Willen des Vaters zu unterwerfen. Gerade weil es ein Gehorsam in der Hoffnungslosigkeit ist, wird dieser Gehorsam im Philipperhymnus zu Grund des Wiederaufstiegs. Nur darf man für die tatsächliche Situation, in der Jesus sich im Garten Gethsemane befindet, die Absolutheit der Hoffnungslosigkeit nicht vorschnell auflösen, nur weil wir ein nachösterliches Wissen haben. Die Verzweiflung ist existentiell. Die 0-Linie absolut. Gerade deshalb kann der Hebräerbrief festellen:

Da wir nun einen erhabenen Hohepriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns an dem Bekenntnis festhalten. Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat. Hebräer 4,14-15

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Spaltpotenziale

Nun muss man der Ehrlichkeit halber festhalten, dass Reinhard Kardinal Marx in seinem Brief an Papst Franziskus von einer „österlichen Hoffnung“ spricht. Das „Österliche“ der Hoffnung mag eine für nicht nur geweihte Theologen nicht unübliche euphemistische Bestärkung sein, mit der man die eigene Glaubenstiefe adressieren möchte. Der einfache Hinweis auf die „Hoffnung“ hätte sicher gerecht. Auch hier gibt es freilich eine Ambivalenz. Paulus etwa korreliert „Hoffnung“ mit „Gewissheit“, wenn er ausführt:

Auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Denn wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. Römer 8,24-25

Umgangssprachlich hingegen wird der Begriff „Hoffnung“ heutzutage viel vager benutzt. Man ist sich – im Unterschied zu Paulus – eben noch lange nicht sicher, ob das Erhoffte auch wirklich eintreten wird …

Tatsächlich deuten die Reaktionen auf die Marx’sche Verkündigung, er habe Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten, an, dass die Botschaft des Rücktritts nicht nur nicht eindeutig ist; sie zeigen auch, wie sehr gespalten die Kirche (vielleicht nicht nur) in Deutschland gegenwärtig ist. So sehen die einen in dem medienwirksamen Schritt des noch amtierenden Erzbischofs von München und Freising eine eigentlich versteckte Kritik am Papst daselbst, dem es nicht gelungen sei, Blockaden lösen7), während andere einen allgemeinen Aufruf an alle deutschen Bischöfe auszumachen meinen8). Wieder andere schießen sich auf den Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki ein, dem das Rücktrittsangebot von Reinhard Kardinal Marx als Signal, mehr noch: sogar als Angriff gilt9), eine Tendenz, die sich auch in der sinister-subtilen Feststellung des Vorsitzenden des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Thomas Sternberg, findet, der lakonisch feststelle, der Falsche sei gegangen10). Abgesehen davon, dass die Trauer um den Rückzug eines vermeintlichen Reformers eine möglicherweise voreilige Charakterisierung ist, die zumindest vergessen lässt, dass der, der sich für eine gemeinsames Abendmahl beim ökumenischen Kirchentag 2021 den katholischen Priester Gotthold Hasenhüttl wegen der Zelebration einer solchen Feier beim Ökumenischen Kirchentag 2003 als Bischof von Trier noch maßregelte, suspendierte11) und ihm 2006 die kirchliche Lehrerlaubnis entzog, weil er diese „Straftat“ nicht bereute12). Eventuell hat Kardinal Marx hier aber auch sein persönliches Damaskuserlebnis gehabt, das möglicherweise in einer zeitlichen Koinzidenz mit dem Wechsel auf dem Stuhl Petri im Jahr 2013 zu tun haben könnte. Sicher ist das nicht, denn er selbst hat nie über seinen Gesinnungswechsel gesprochen … Des Weiteren ist aber auch die Aufarbeitung mindestens eines Missbrauchsfalles im Bistum Trier, in den die heutigen Bischöfe Reinhard Kardinal Marx, Stefan Ackermann und Georg Bätzing involviert sind, noch völlig ungeklärt13). Auch wurde die Veröffentlichung eines Gutachtens der Kanzlei Westphal, Spilker und Wachtl zur Untersuchung möglicher Missbrauchsfälle in der Erzdiözese München und Freising verschoben – ein Vorgang, der im Erzbistum Köln trotz der Veröffentlichung eines alternativen Gutachtens der Kanzlei Gercke und der zwischenzeitlichen Zugänglichmachung des früheren Gutachtens der Kanzlei Westphal, Spilker und Wachtl zu erheblicher Kritik geführt hatte. Auch wenn das unter nicht wirklich nachvollziehbaren Beschränkungen geschah, erscheint die Behauptung, dieses Gutachten seit vom Erzbischof von Köln unter Verschluss gehalten worden, doch einigermaßen verwegen. Wer wollte, konnte es einsehen.

Es kann nur einen Sieger geben – oder?

Wie auch immer: Die Experten, die sich in den frühen Juni-Tagen des Jahres 2021 nach der Veröffentlichung des Rücktrittsgesuchs Reinhard Kardinal Marx‘ zu Wort melden, ähneln faktisch theologischen Wahrsagern, die aus episkopalen Innereien lesen, im katholischen Kaffeesatz lesen und den Flug von Domspatzen deuten. Was da alles vorher- und geweissagt wird, muss die Propheten des Alten Bundes vor Neid erblassen lassen. Es fehlt zwar die klassische Propheten-Formel „Spruch des Herrn“ – an den vorgesagten vermeintlichen Automatismen aber lassen die Kommentatoren keinen Zweifel: Rom hat doch schon apostolische Visitatoren geschickt und Marx bietet seinen Rücktritt an! Das kann doch kein Zufall sein!
Die Reminiszenz auf die rhetorische Valenz von Verschwörungsphantasien ist selbstredend nicht rein zufällig, sondern natürlich rein satirisch! Fakt ist, dass gemäßigte und differenzierte Stimmen kaum vernehmbar sind. Aber es gibt sie! So bemerkt die Wuppertaler Theologin Ricarda Menne in einem Standpunkt für katholisch.de, dass die Visitation Misstrauensvotum und Chance zugleich sein könne und man deshalb die Visitatoren erst mal einfach ihren Job machen lassen solle:

„Die Visitation ist bzw. soll beides sein. Zeichen, dass der Haussegen in unserem Erzbistum mächtig schief hängt, das Vertrauen und Wohlwollen auch der Kirchenaffinen nachhaltig gestört ist – und der Versuch, das Ausmaß und die Ursachen der Vertrauenskrise auszuloten und nach Wegen aus der Krise zu suchen.“14)

Auch zur Bewertung des Rücktrittsangebotes von Reinhard Kardinal Marx kann man Differenzierteres als voreilige Weissagungen lesen. Thomas Jansen und Tobias Schröers etwa werfen auch ein anderes Licht auf eine alles andere als jene eindimensionale Persönlichkeit, die manche nur als Reformer wahrnehmen wollen, wenn sie feststellen:

„Dass Marx im Februar 2020 als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz zurücktrat, hatte jedoch nicht mit der Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch zu tun, sondern mit der Art und Weise, wie er das Amt des Vorsitzenden ausübte. Vor allem jüngere Bischöfe wollten seinen als selbstherrlich und autoritär empfundenen Führungsstil nicht länger dulden. Zudem fehlte dem oft aufbrausenden Marx die Fähigkeit, im Kreis der Bischöfe zu moderieren und zu vermitteln.“15)

Angesichts der Möglichkeiten differenzierter Analysen, die auf voreilige Schlussfolgerungen verzichten, verwundern die theologischen Weissagungen um so mehr. Das erinnert doch sehr an jene korinthischen von Paulus beklagen Parteiungen:

Es wurde mir nämlich, meine Brüder und Schwestern, von den Leuten der Chloë berichtet, dass es Streitigkeiten unter euch gibt. Ich meine damit, dass jeder von euch etwas anderes sagt: Ich halte zu Paulus – ich zu Apollos – ich zu Kephas – ich zu Christus. Ist denn Christus zerteilt? Wurde etwa Paulus für euch gekreuzigt? Oder seid ihr auf den Namen des Paulus getauft worden? 1 Korinther 1,11-13

Quo vadis?

Es scheint so, als habe sich die deutsche Kirche in Parteien aufgespalten. Die jeweils andere Partei kann nur falsch handeln, die eigene Partei nur gut. Was auch immer zu dieser Sicht geführt haben mag an persönlichen Erfahrungen oder theologischen Standpunkten: so, wie derzeit gesprochen wird, ist eine konstruktive Kommunikation wohl kaum mehr möglich – und das liegt nicht nur an den (Erz-)Bischöfen. Es scheint fast so, als bewahrheite sich ein Wort Jesu aus dem Markusevangelium:

Wenn ein Reich in sich gespalten ist, kann es keinen Bestand haben. Wenn eine Familie in sich gespalten ist, kann sie keinen Bestand haben. Markus 3,24-25

Dafür tragen sicher die (Erz-)Bischöfe ihren Teil der Verantwortung, aber auch all jene, die vor das Hören schon das eigene Urteil gesetzt haben. Sicher ist jedenfalls, dass der gegenwärtige Zustand der Kirche zwar noch lange nicht schismatisch, aber doch der einer pastoralen und kommunikativen Spaltung ist. Kardinal Marx hat Recht: Die Kirche ist an einem toten Punkt angelangt. Die Frage ist nur, wie die zweite Ableitung aussieht: Kann sich die Kirche noch krümmen und die Richtung ändern? Müsste sie dazu nicht neu denken, was Kirchesein bedeutet? Bedeutet das nicht auch, über die Frage des Amtes und seiner Einordnung in das Volk Gottes neu nachzudenken? Oder ist der tote Punkt nur ein Wendepunkt, nach dem es immer rasanter bergab geht. Die zweite Ableitung wäre dann wieder eine 0. Null Kommunikation, ein kirchenrechtliches Nullum als synodaler Weg, Null Bereitschaft zur Veränderung auf allen Seiten – der neutestamentliche Fährtenleser fürchtet Fatales … kann so eine Kirche noch Bestand haben? Quo vadis ekklesia?

Und doch habe ich Hoffnung wider alle Hoffnung, denn es gibt sie, die aufrechten Christinnen und Christen, die nicht nur reden, sondern das Wort Gottes tun, indem sie die Schwachen und Kleinen in die Mitte stellen. Kalenderspruchprosa hilft jedenfalls schon lange nicht mehr. Lasst also die Toten ihre Toten begraben, ihr aber verkündet den lebendigen Gott – zur Not auch mit Worten!

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Bildnachweis

Titelbild: Flatline (Horst Gutmann) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY-SA 2.0.

Bild 1: Achtung keine Wendemöglichkeit (Lupus in Saxonia) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC BY-SA 4.0.

Einzelnachweis   [ + ]

1. So Margot Käsmann nach ihrem Rücktritt als Vorsitzende der EKD am 24.2.2010 – Quelle: https://taz.de/Kaessmann-erklaert-Ruecktritt/!5147031/ [Stand: 6. Juni 2021].
2. Die Anführungszeichen sind wohl auch im Original nicht umsonst gesetzt – siehe die folgende Anmerkung.
3. So Reinhard Kardinal Marx in seinem Schreiben an Papst Franziskus vom 21.5.2021, mit dem er seinen Rücktritt als Erzbischof von München und Freising anbietet – Quelle: https://www.erzbistum-muenchen.de/cms-media/media-55270120.PDF [Stand: 6. Juni 2021]. Manch ein Interpretator sieht hier eine Anspielung auf eine Äußerung des Märtyrers Alfred Delp, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Ob es sich wirklich um ein Zitat handelt, ist nicht sicher, fehlt doch eine entsprechend konkretisierende Anspielung in dem Brief von Reinhard Kardinal Marx. Nichtsdestotrotz gibt es in jedem Fall eine gewisse thematische Verwandtschaft, wenn man die Worte Alfred Delps liest: „Die Kirchen scheinen sich (…) durch die Art ihrer historisch gewordenen Daseinsweise selbst im Wege zu stehen. Ich glaube, überall da, wo wir uns nicht freiwillig um des (wahren) Lebenswillen von der (gewohnten) Lebensweise trennen, wird die geschehende Geschichte uns als richtender und zerstörender Blitz treffen. Das gilt sowohl für das persönliche Schicksal des einzelnen kirchlichen Menschen wie auch für die Institutionen und Brauchtümer. Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts. Immer noch liegt der ausgeplünderte Mensch am Wege.“ (Alfred Delp, Gesammelte Schriften, IV 321).
4. Mathematikerinnen und Mathematiker mögen mir diesen Begriff hier verzeihen, er wird aus rhetorischen Gründen verwendet.
5. Vgl. hierzu etwa Christian Kraemer und Rene Wagner, Altmeier sieht Wirtschaft im Aufwind – „V-förmige Erholung“, Reuters.com, 1.9.2020 – Quelle: https://www.reuters.com/article/deutschland-wirtschaft-altmaier-idDEKBN25S4GH [Stand: 6. Juni 2021].
6. Zum Text siehe Wilhelm Schneelmelcher, Neustestamentliche Apokryphen, Bd. I: Evangelien, Tübingen 1990, S. 414ff, online findet sich die Erzählung von der Höllenfahr Christi in griechischer und deutscher Sprache unter http://12koerbe.de/euangeleion/pilatus.htm [Stand: 6. Juni 2021].
7. So Tilman Kleinjung in einem Kommentar in den ARD-Tagesthemen vom 4.6.2021 – Quelle: https://twitter.com/tagesthemen/status/1400911461199851529 [Stand: 6. Juni 2021].
8. So etwa Raoul Löbbert, Aufruf zum Umsturz, Zeit online, 4.6.2021 – https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-06/katholische-bischoefe-kardinal-marx-ruecktritt-sexueller-missbrauch [Stand: 6. Juni 2021].
9. So etwa der Kirchenrechtler Thomas Schüller in Neues Ruhrwort online, 4.6.2021 – Quelle https://neuesruhrwort.de/2021/06/04/kirchenrechtler-schueller-marx-ruecktritt-auch-angriff-auf-woelki/ [Stand: 6. Juni 2021].
10. Siehe hierzu Neues Ruhrwort online, 4.6.2021 – https://neuesruhrwort.de/2021/06/04/sternberg-ueber-kardinal-marx-da-geht-der-falsche/ [Stand: 6. Juni 2021].
11. Vgl. hierzu FAZ, Priester wegen ökumenischen Abendmahls suspendiert, FAZ online, 17.7.2003 – Quelle: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kirche-priester-wegen-oekumenischen-abendmahls-suspendiert-1119339.html [Stand: 6. Juni 2021].
12. Siehe hierzu die Meldung von Spiegel online, 3.1.2006 – Quelle: https://www.spiegel.de/panorama/kirche-bischof-entzieht-hasenhuettl-lehrerlaubnis-a-393394.html [Stand: 6. Juni 2021].
13. Siehe hierzu Raoul Löbbert und Georg Löwisch, „In der Tat sind Fehler passiert“, Zeit online, 7.5.2021 – Quelle: https://www.zeit.de/2021/19/missbrauchsfall-trier-reaktion-bischof-marx-baetzing-ackermann [Stand: 6. Juni 2021].
14. Ricarda Menne, Eine Visitation ist Misstrauensvotum und Chance zugleich, katholische.de, 3.6.2021 – Quelle: https://www.katholisch.de/artikel/30069-eine-visitation-ist-misstrauensvotum-und-chance-zugleich [Stand: 6. Juni 2021].
15. Thomas Jansen und Tobias Schrörs, Das System, der Kardinal und die Schuld, FAZ online, 4.6.2021 – Quelle: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/marx-bietet-papst-ruecktritt-an-das-system-der-kardinal-und-die-schuld-17373901.html?premium [Stand: 6. Juni 2021].
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