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Disput·Ecclesiastica

Der Bischof und die Professorin Neutestamentliche Wegweisungen aus der ekklesialen Sackgasse


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Der Umkehrruf erschallt seit Jahrhunderten. Er ist keine christliche Erfindung. Bereits Johannes der Täufer verkündete eine Taufe der Umkehr (vgl. Markus 1,4 parr) und fasste seine Botschaft kategorisch in dem Imperativ μετανοεῖτε (gesprochen: metanoeîte) zusammen:

Kehrt um! Matthäus 3,2

Dabei bringt der Begriff selbst streng genommen etwas der praktischen Umkehr Vorausgehendes zum Ausdruck, bedeutet er doch wörtlich „denkt um!“. Das ist der erste Schritt, das Andersdenken, einen Punkt von einer anderen Perspektive aus betrachten. Damit könnte es anfangen; damit muss es anfangen. Aber wo ist der Haltepunkt, der die Perspektive für das Umdenken geben kann. Das ist der entscheidende Fortschritt und das Eigene an der Verkündigung Jesu. Wie ein Fanal heißt es zu Beginn des Markusevangeliums:

Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Markus 1,15

Zwei Wahrnehmungen gehen dem Umkehrruf – oder besser: der Aufforderung zum Umdenken – voraus: Die Zeit ist erfüllt! Es eilt. Jetzt muss neu gedacht und gehandelt werden. Wo aber das Neue Raum greifen soll, muss Altes weichen. Das ist der Übergang, die παράδοσις (gesprochen: parádosis), die traditio – ein steter Vorgang von Altvertrautem in das Neue. Verlässlich ist eigentlich nur der Übergang selbst, jene stete Erneuerung, die notwendig zu Regeneration ist. Wo sie ausbleibt, regiert der Tod.

Jetzt, nicht bald

Das ist der zweite Aspekt in dem programmatischen Ausruf Jesu:

Das Reich Gottes ist nahe. Markus 1,15

Es geht eben um dieses Reich Gottes, um nichts anderes. Worin aber besteht das Reich Gottes? – möchte man da fragen. Das wird in der ebenso programmatischen Erzählung vom Beginn des öffentlichen Wirkens im Lukasevangelium deutlich. Wie in einer Antrittsrede predigt Jesus in der Synagoge seiner Heimatstadt Nazareth und verkündet dort aus dem Propheten Jesaja:

Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe. Lukas 4,18-19 (vgl. Jesaja 61,1-2)

Von hier aus entfaltet er sein Programm:

Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt. Lukas 4,21

Bis hierher können sie ihm noch folgen. Das ist das Altvertraute, die Lehre, die niemanden erschreckt und die nach Zeiten des immer wieder Hörens ihre ursprünglich herausfordernde Kraft verloren hat. Das Wort Gottes, das zu Worten fixiert niedergeschrieben und in katechetische Lehrformeln gegossen wird, ist eben erstarrt wie ein in Form gegossene Bronzefigur: Schön anzuschauen aber merkwürdig kalt und unlebendig. Wohl nicht zuletzt deshalb folgt die ultimative Provokation Jesu, denn das „Heute hat sich das Schriftwort erfüllt“ muss doch eigentlich Konsequenzen haben:

Amen, ich sage euch: Kein Prophet wird in seiner Heimat anerkannt. Wahrhaftig, das sage ich euch: In Israel gab es viele Witwen in den Tagen des Elija, als der Himmel für drei Jahre und sechs Monate verschlossen war und eine große Hungersnot über das ganze Land kam. Aber zu keiner von ihnen wurde Elija gesandt, nur zu einer Witwe in Sarepta bei Sidon. Und viele Aussätzige gab es in Israel zur Zeit des Propheten Elischa. Aber keiner von ihnen wurde geheilt, nur der Syrer Naaman. Lukas 4,24-27

Das führt zum Tumult; ja, der Mob möchte den, der so spricht, am liebsten lynchen (vgl. Lukas 4,29) und so mundtot machen. Wo aber ist der Skandal?

Er liegt in dem Verweis auf den Syrer Naaman, der vom Aussatz geheilt wird, während viele Israeliten aussätzig blieben (vgl. 2 Könige 5,1-27). Das widerspricht offenkundig dem Empfinden derer, die in der Synagoge der Auslegung Jesu lauschen. Sie sind doch das erwählte Volk Gottes! Was will dieser Handwerkersjunge aus ihrer Heimatstadt? Was bildet er sich ein? Wo soll das hinführen?

Die Geschichte endet unversöhnlich hoffnungsvoll. Der Konflikt lässt sich nicht bereinigen – Jesus aber geht seiner Wege … und das Neue wird wahr und wirklich:

Er aber schritt mitten durch sie hindurch und ging weg. Lukas 4,30

Zurückgeblieben

Die Traditionalisten von Nazareth wirken wie Zurückgebliebene am Abgrund. Das Festhalten an der reinen Lehre wird sie noch einige Jahre und Jahrzehnte über Wasser halten. Der Absturz aber ist vorprogrammiert. Wo das Neue theologisch gut begründet ist, aber doch um des Erhaltes des Status quo willen verworfen wird, ist die Glut der Leidenschaft wohl längst erloschen. Jesus wählt da wohl den einzig richtigen Weg: Statt zu diskutieren und unnütze, weil erkennbar erfolglose Überzeugungsarbeit zu leisten, geht er einfach weg – und ruft eine neue Bewegung ins Leben.

Wie alle Bewegungen ist auch diese Bewegung, die nach seiner Auferstehung vom Kreuzestod in die Entstehung erster Gemeinden und schließlich der Kirche münden wird, immer wieder von der Gefahr der Erstarrung bedroht. Ist es nicht etwa erstaunlich, dass Jesus zwar kein einziges Gesetz der Thora für ungültig erklärt, diese aber dem Menschen und seinem Heil unterordnet, und schon in der ersten christlichen Generation das pure Festhalten an Regeln wieder in den Vordergrund tritt? Wie sonst hätte es über den Streit der Heidenmission zum Apostelkonzil mit der Jakobusklauseln (vgl. Apostelgeschichte 15,28-29) und dem anschließenden Konflikt zwischen Paulus und Petrus in Antiochia (vgl. Galater 2,11-21) kommen können. Das Neue ist nie einfach nur da. Es muss wohl immer errungen werden. Nur eines sollte wohl gerade in der Kirche feststehen, dass jeder Konflikt unter dem Programm Jesu ausgefochten werden muss:

Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium! Markus 1,15

... bis in alle Ewigkeit

Nun wird in diesen Tagen – man möchte sagen: wieder einmal – ein Konflikt zwischen Vertretern des römisch-katholischen Lehramtes und Vertreterinnen und Vertretern der römisch-katholischen Theologie ausgefochten. Die Tübinger Theologie Johanna Rahner sagte im Rahmen eines Frauenforums, das am 17./18. April 2021 stattfand,

„wer an der Diskriminierung von Frauen in der katholischen Kirche nichts ändern wolle, sei nichts anderes als ‚ein Rassist‘.“1)

Dabei stellt sie später klar:

„Ich habe nicht diejenigen, die sich gegen Frauenordination aussprechen – aus welchen Gründen auch immer – als Rassisten bezeichnet. Da würde ich mich also explizit dagegen wehren. Würde aber einen Vorwurf aufrechterhalten: Wer Diskriminierung in der katholischen Kirche ignoriert, sie gar als nicht existent bezeichnet oder sie gar durch eine theologische Denkform überhöht und als solche dann doch wieder legitimiert, der kann sich durchaus den Rassismusvorwurf einhandeln, und zwar zu recht.“2)

Nun kann man trefflich darüber streiten, ob der Begriff „Rassismus“ hier angemessen verwendet wird und ob der Vorwurf, den Johanna Rahner erhebt, nicht besser mit „Sexismus“ beschreiben worden wäre – ein Vorwurf, der in seiner rhetorischen Wucht mindestens genau so wirksam ist. Aber darüber wird nur am Rande debattiert. Der Grund hierfür liegt in der reflexartigen Reaktion des Passauer Bischofs Stefan Oster, der die Äußerungen Johanna Rahners auf die Frage der Frauenweihe reduziert, die als solches ursprünglich gar nicht im Vordergrund stand, und dann wenig subtil eine Drohkulisse aufbaut:

„Wir Bischöfe, die eigentlich in besonderer Verantwortung für die katholische Lehre sind und das auch feierlich versprochen haben, ermöglichen durch unsere Zustimmung die Verwendung von Kirchensteuermitteln für die die Finanzierung bestimmter Medien und ermöglichen damit eine große Bühne, auf der wir selbst (ich fühle mich zumindest gemeint) als „Rassisten“ bezeichnet werden dürfen – ohne dass sich großer Widerspruch regt oder ohne dass eine Redaktion bei aller sehr gerne zugestandenen journalistischen Freiheit, überlegt, was sie da produziert. Auch haben wir Bischöfe Mitverantwortung dafür, wer an unseren Fakultäten katholische Theologie unterrichten darf. Eigenartige Welt, nicht wahr? Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass das eine Debatte wert ist.“3)

Dabei äußert Bischof Oster unmittelbar anschließend die Sorge, dass auf seine Einlassung wieder nur mit Hatespeech oder zugespitzter Polemik reagiert würde. Er möchte stattdessen eine Debatte mit inhaltlichen Verbindlichkeiten haben, bei die Beliebigkeiten der Auslegung durch das Lehramt eingehegt würden. Ok, möchte man sagen, dann wäre die Debatte damit eigentlich beendet. Die Lehre steht ja fest, nicht wahr? Da kann man dann auch schon mal polemisch drohen und sich doch jede Polemik verbieten. Das ist schon eine eigenartige Welt, dieser Katholizismus …

Katholische Schizophrenien

Es wurde schon deutlich, dass jede Neuerung Streitpotential in sich birgt. Die Jesusbewegung ist eine Erneuerungsbewegung gewesen, die sogar einen todbringenden Konflikt heraufbeschworen hat. Der Sohn Gottes schläft ja nicht friedlich im Kreis der Seinen ein, sondern wird am Kreuz in zutiefst demütigender Weise wie ein Gottverfluchter hingerichtet. Und doch rettet Gott ihn aus dem Tod. Gott scheint das Neue zu wollen, den Aufbruch des Erstarrten. Der Mensch steht im Mittelpunkt – oder, wie Jesus es im Johannesevangelium sagt:

Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben. Johannes 10,10

Die Erwirkung des Lebens in Fülle aber ist kein rein spiritueller Prozess. Wie die programmatische Erklärung Jesu in der Synagoge von Nazareth zeigt, ist das Leben in Fülle ein höchst konkretes Ziel in der menschlichen Lebenswirklichkeit. Sein ganzes Leben stemmt sich in Wort und Tat gegen die Ausgrenzung und Diskriminierung. Deshalb werden Lahme gehen, Blinde sehend und Aussätzige gesund. Es ist die Reintegration der Randständigen in die menschliche Gemeinschaft. Die führt bisweilen in die unmittelbare Nachfolge Jesu, bisweilen aber gerade nicht. So schickt er den ehemals Besessenen von Gerasa zurück zu seiner Familie – dort hat er seine Aufgabe, vor der er sonst fliehen würde4) . Es geht offenkundig primär nicht um Gründung von Gemeinden oder einer Kirche – es geht um den Menschen! Hier müsste eben auch die Kirche in der Nachfolge Jesu ihren Fokus haben. Sie ist eben nicht um ihrer selbst willen da, sondern mit dem Auftrag, das Werk Jesu weiterzuführen. Ebenso ist die kirchliche Lehre nicht um ihrer selbst willen da, sondern muss immer wieder daraufhin überprüft werden, ob sie dem Leben in Fülle dient!

Hier aber hat sich, wie Hermann Häring, analysiert, nicht zuletzt das Zweite Vatikanische Konzil eine merkwürdig widersprüchliche Situation bewirkt. Mit Blick auf die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ stellt er fest:

„Ihr 2. Kapitel über das ‚Volk Gottes‘ erzielt einen epochalen Durchbruch, von dem wir heute noch zehren, doch das 3. Kapitel über die ‚hierarchische[!] Verfassung der Kirche‘ tut so, ob Kapitel 2 überhaupt nicht existierte. Bis heute hat das katastrophale Folgen. Seit 1965 berufen sich die ‚Volk-Gottes‘-Leute euphorisch auf den fortschrittlichen Geist des Konzils, auf sein Aggiornamento. Doch übersehen sie geflissentlich, dass die Reaktionären einen ganz anderen Konzilsgeist entdecken, der kontradiktorisch die ‚hierarchische Verfassung‘ beschreibt. Pesch5) erklärte dazu: ‚In der Praxis empfiehlt sich eine ‚gespaltene Interpretation‘, nämlich eine theologische und eine kirchenpolitische.‘“6)

Verhältnisbestimmungen

Die Situation zwischen der Tübinger Professorin Johanna Rahner und dem Passauer Bischof Stefan Oster scheint verfahren. Der Grund liegt in jener katholischen Schizophrenie, die einen sensus fidelium, einen Glaubenssinn des Volkes Gottes, der nicht irren könnte, behauptet und gleichzeitig ein authentisches Lehramt insinuiert, an dem exklusiv die Bischöfe partizipieren. Das kann nur harmonieren, wenn dieses unwillige Volk endlich einsieht, dass sein sensus eben nur dann richtig funktioniert, wenn es gehorcht. In der Tat fordert deshalb der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, in einer am 23. April 2021 bei Facebook veröffentlichten Johanna Rahner höflich, aber bestimmt auf:

„Es wäre gut, wenn Frau Prof. Rahner den zugespitzten Satz zurücknehmen könnte.“7)

Wohlgemerkt: Hier geht es nicht bloß um den Begriff „Rassismus“, über den man in der Tat streiten sollte. Es geht gleich um den ganzen Satz!

Alles schon einmal dagewesen

Nun ist der Disput zwischen der Professorin und dem Bischof an sich nichts Neues. Solche Dispute gab, gibt es und wird es sicher immer in der Kirche geben. Nur allzu oft standen die Sieger vorher fest: Die Bischöfe und das Lehramt. Die unverhohlene Drohung am Ende des Statements von Bischof Stefan Oster kann auf eine lange „bewährte“ Praxis zurückgreifen. Diese aber konnte funktionieren, weil die Verhältnisse klarer waren als heute. Es galt eben nicht nur Roma locuta, causa finita est – Rom hat gesprochen, die Sache ist erledigt. Auch die weltliche Macht, auf die die Kirche in früheren Zeiten zurückgreifen konnte, bewirkte das ihre. Schließlich gewährte die Kirche als Sozialform den Menschen einen Halt, ohne den sie an den Rand gedrängt worden wären. All das aber hat die Kirche längst eingebüßt. Freilich noch nicht ganz: Bischöfe können ihre Macht über die Zuteilung finanzieller Mittel und als Dienstgeber noch über die ausüben, die eben mittelbar und unmittelbar in ihren Diensten stehen. Alle anderen aber machen ihr Seelenheil schon lange nicht mehr von der Kirche abhängig – sie gehen dann einfach weg und suchen das Leben in Fülle woanders. Das ist für die Kirche eine neue und ungewohnte Situation. Alle Appelle helfen nichts. Die Menschen wenden sich einfach ab. Das wäre eigentlich eine Zeit des Umdenkens! Für die Bischöfe! Denn sie müssen nicht nur die Einheit der Kirche gewährleisten. Auch ihr eigenes Seelenheil hängt letztlich davon ab, dass da noch Herde ist. Eigenartige Welt, nicht wahr?

Nicht so eigenartig, wie man meinen mag. Es ist gerade der Heidenmissionar Paulus, der diese eigenartige Erfahrung machen muss. Weil das Reich Gottes nahe und die Zeit erfüllt ist, hat er keine Zeit für Zukunftsprozesse. Er verkündet. Er will es tun bis ans Ende der ihm bekannten Welt – bis nach Spanien. Er gründet Gemeinden und zieht dann weiter. Die Gemeinden sollen vor Ort die Verkündigung weitertragen. Das ist neu – und konfliktiv, denn Paulus erhebt nicht nur den Anspruch, Apostel wie die Zwölf zu sein. Als Gründervater der Gemeinden beansprucht er auch Autorität – und zwar dergestalt, dass er bei Konflikten auch schon einmal gerne droht. Das müssen die Korinther erfahren. Nach sanftmütig-väterlichen Mahnungen droht er nach Bischofsart wenig subtil:

Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich das, sondern um euch als meine geliebten Kinder zu ermahnen. Hättet ihr nämlich auch unzählige Erzieher in Christus, so doch nicht viele Väter. Denn in Christus Jesus habe ich euch durch das Evangelium gezeugt. Darum ermahne ich euch: Haltet euch an mein Vorbild! Deswegen habe ich Timotheus zu euch geschickt, mein geliebtes und treues Kind im Herrn. Er wird euch erinnern an meine Wege in Christus Jesus, wie ich sie überall in jeder Gemeinde lehre. In der Annahme, dass ich nicht selber zu euch komme, haben sich einige wichtig gemacht. Ich werde aber bald zu euch kommen, wenn der Herr will. Dann werde ich diese Wichtigtuer nicht auf ihre Worte prüfen, sondern auf ihre Kraft. Denn nicht in Worten erweist sich die Herrschaft Gottes, sondern in der Kraft. Was zieht ihr vor: Soll ich mit dem Stock zu euch kommen oder mit Liebe und im Geist der Sanftmut? 1 Korinther 4,14-21

Umdenken!

Die Korinther freilich waren offenkundig keine Kinder von Traurigkeit. Sie scheinen ihm nicht nur die Zusammenarbeit bei der von ihm initiierten Kollekte für die Jerusalemer Urgemeinde aufgekündigt zu haben. Bei einem erneuten Besuch des Paulus in Korinth muss der Konflikt auch eskaliert sein. Paulus jedenfalls reist überstürzt ab und schreibt in seiner Verzweiflung einen Brief an die Gemeinde:

Und eben dies habe ich geschrieben, um nicht bei meinem Kommen von denen betrübt zu werden, die mich erfreuen sollten; ich bin sicher, dass meine Freude auch die Freude von euch allen ist. Denn ich schrieb euch aus großer Bedrängnis und Herzensnot, unter vielen Tränen, nicht um euch zu betrüben, nein, um euch meine übergroße Liebe spüren zu lassen. Wenn aber einer Betrübnis verursacht hat, hat er nicht mich betrübt, sondern mehr oder weniger – um nicht zu übertreiben – euch alle. 2 Korinther 2,3-5

Der drohende Stock hat das Gegenteil bewirkt. Der autoritäre Paulus steht vor der Niederlage. Und die ist für ihn mehr als schmählich, sondern aus seiner Sicht auch eschatologisch bedrohlich. Was soll er dem, der ihn vor Damaskus berufen hat, wohl sagen, wenn der ihn fragt: Paulus, wo sind meine Gläubigen?

Paulus erkennt, dass zwischen ihm als Apostel und Gründervater der Gemeinde und der Gemeinde ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit besteht. Sie sind einander wechselseitig bedeutsam. Das wirkt sich darin aus, dass er in dem Brief 2 Korinther 1-98) einen werbenden Ton anschlägt. Er befiehlt nicht, er bittet. Er belehrt nicht, er argumentiert. Der neue Ton kommt dabei in einem bemerkenswerten Bild zum Ausdruck:

Fangen wir schon wieder an, uns selbst zu empfehlen? Oder brauchen wir – wie gewisse Leute – Empfehlungsschreiben an euch oder von euch? Unser Brief seid ihr; eingeschrieben in unsere Herzen und von allen Menschen erkannt und gelesen. Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch. 2 Korinther 3,1-3

Die Gemeinde ist sein lebendiges Empfehlungsschreiben. Ohne die Gemeinde ist er nichts (und umgekehrt ist auch die Gemeinde ohne ihn nichts). Die gemeinsame Kooperation und Einheit ist ewigkeitsrelevant:

Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat. 2 Korinther 5,10

Das gilt eben nicht nur für die Gemeinde, sondern in besonderer Weise auch für ihn – eben für alle! Das eben führt bei Paulus zu einem Strategiewechsel:

Damit wollen wir uns euch nicht wieder empfehlen, sondern wir geben euch Gelegenheit, rühmend auf uns hinzuweisen, damit ihr denen entgegentreten könnt, die sich äußerlich, nicht im Herzen rühmen. 2 Korinther 5,12

Sein Ziel ist erfüllt, wenn auch die Gemeinde sich seiner rühmen kann. Deshalb bittet (!) er an Christi statt:

Lasst euch mit Gott versöhnen! 2 Korinther 5,20

Das ist mehr ein Flehen um Versöhnung als ein Bitten. Für ihn hängt alles davon ab. Deshalb betont der, der noch vor kurzem mit dem Stock drohte:

Wir sind nicht Herren über euren Glauben, sondern wir sind Mitarbeiter eurer Freude; denn im Glauben steht ihr fest. 2 Korinther 1,24

Aus der Sackgasse

Es gehört wohl zu den unlösbaren Geheimnissen des Menschen, dass jede Generation die immer gleichen Fehler neu machen muss. Man kann aber auch hier von Vorbildern lernen. Eine Kirche, deren Führungspersonal immer wieder auf der eigenen Autorität beharrt, befindet sich ebenso in einer Sackgasse, wie eine Kirche, deren Erneuerungspotential sich im Volke Gottes mit vollmundigen Forderungen erschöpft, ohne dass ein neuer Weg gegangen wird. Über Jahrhunderte hinweg konnte der sich so stetig perpetuierende Konflikt mit Mitteln weltlicher Macht klein gehalten werden: Wer nicht spurte, wurde eben ausgeschlossen, abgeurteilt und gerichtet. Die Bedrohung der eigenen Existenz zeitigte nur allzu oft die gewünschten Folgen. Das geht eben heute nicht mehr. Die Menschen gehen einfach. Damit stehen die Verantwortlichen in der Kirche eigentlich wieder da, wo Paulus schon stand. Auch ihm fehlten die Möglichkeiten echter Sanktion. Kein Zweifel – er hätte sie gerne gehabt. Er hatte sie aber nicht. Er musste umdenken und um die Gemeinde werben. Wo belehren nicht weiterführt, müssen Argumente gefunden werden. Wo der Befehl nicht wirkt, tritt die Bitte nach vorne. Es wäre schon viel gewonnen, wenn das die Bischöfe erkennen würden – und das Volk Gottes auch. Schweigen ist keine Option. Miteinander ringen schon! Aber dann bitte mit den richtigen Mitteln:

Das tut im Wissen um die gegenwärtige Zeit: Die Stunde ist gekommen, aufzustehen vom Schlaf. Denn jetzt ist das Heil uns näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe. Darum lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts! Lasst uns ehrenhaft leben wie am Tag, ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht! Römer 13,11-13

Ringen wir also so, dass die Welt erkennt: Das Reich Gottes ist nahe und die Zeit ist gekommen! Für Stellungskriege jedenfalls sollte keine Zeit mehr sein. Schade um die, die sich mit der Asche begnügen wo das Feuer neu entfacht werden könnte.

Edit (30. April 2021): Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrages lag der Text des Originalvortrages “Wieviel Macht- und Gewaltenteilung ist in der katholischen Kirche überhaupt möglich und was hat die Frauenfrage damit zu tun?” von Johanna Rahner vom 17. April 2021 noch nicht vor. Die Aussagen von Prof. Rahner konnten deshalb nur aufgrund von Sekundärbeiträgen oder aus nachfolgenden Aussagen in Interviews zitiert werden. Mittlerweile wurde der Originaltext unter https://kirche-und-gesellschaft.drs.de/fileadmin/user_files/122/Dokumente/frauen/Aktuelles/Vortrag_Rahner.pdf [Stand: 30. April 2021] veröffentlicht, so dass die Aussage von Prof. Johanna Rahner nun auch im ursprünglichen Kontext gelesen werden kann.

In der Zwischenzeit – ebenfalls nach Veröffentlichung dieses Beitrages – gab es außerdem eine klärende Kommunikation zwischen Professorin Johanna Rahner und Bischof Stefan Oster, dessen Ergebnis am 30. April 2021 auf der Homepage von Bischof Stefan Oster in der gemeinsamen Erklärung “Den Streit beilegen” veröffentlicht wurde. Diese kann hier eingesehen werden: https://stefan-oster.de/den-streit-beilegen-unsere-gemeinsame-erklaerung/ [Stand: 30. April 2021].

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Bildnachweis

Titelbild: Fingerhakeln (Voskos) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC0.

Video: Kath 2:30 – Episode 26: Der Laie (Katholische Citykirche Wuppertal/Christoph Schönbach) – Vimeo – alle Rechte vorbehalten

Einzelnachweis   [ + ]

1. Indirekte Rede zitiert nach Christian Röther, „Katholischer Kulturkampf“, Deutschlandfunk online, 23.4.2021 – Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/debatte-ueber-frauenrechte-und-rassismus-in-der.886.de.html?dram:article_id=496116 [Stand: 25.4.2021].
2. Zitiert nach Christian Röther, „Katholischer Kulturkampf“, Deutschlandfunk online, 23.4.2021 – Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/debatte-ueber-frauenrechte-und-rassismus-in-der.886.de.html?dram:article_id=496116 [Stand: 25.4.2021].
3. Stefan Oster, Ist Katholizismus „rassistsich“ – Und wer ist eigentlich katholisch?, 19.4.2021 – Quelle: https://stefan-oster.de/ist-katholizismus-rassistisch-oder-wer-ist-eigentlich-katholisch/ [Stand 25.4.2021].
4. Vgl. hierzu Werner Kleine, Das Opium der Zweifler. Ein neuer Blick auf die Wundererzählungen des Neuen Testaments, Dei Verbum, 17.10.2017 (vor allem das Kapitel „Wunderbare Normalität“) – Quelle: https://www.dei-verbum.de/das-opium-der-zweifler/#scrollNav-8 [Stand: 25. April 2021].
5. Hermann Häring bezieht sich hier auf Otto Hermann Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil, Kevelaer 2011, 148-160.
6. Hermannn Häring, Bravo, Herr Bischof!. Zu den Drohworten aus Passau, 24.4.2021 – Quelle: https://www.hjhaering.de/bravo-herr-bischof-zu-den-drohworten-aus-passau/ [Stand: 25. April 2021].
7. Georg Bätzing, Stellungnahme bei Facebook, 23.4.2021 – Quelle: https://www.facebook.com/dbk.de/posts/291381809129563 [Stand: 25. April 2021].
8. Zur literarkritischen Diskussion siehe Werner Kleine, Zwischen Furcht und Hoffnung. Eine textlinguistische Untersuchung des Briefes 2 Kor 1-9 zur wechselseitigen Bedeutsamkeit der Beziehung von Apostel und Gemeinde, BBB 141, Berlin 2002, S. 36-57.
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