Kapitel
Annus Liturgicus·Ecclesiastica

Versöhnungstag Vom Ausgleich der Sünde

Das Judentum feiert einmal im Jahr den großen Versöhnungstag. In diesem Jahr beginnt er am Abend des 8. Oktober. Im heutigen Israel ist dieser Tag durch Fasten und ein Stillstehen der Gesellschaft geprägt. Es gibt keine Geschäftigkeit, ja selbst Autos findet man auf den Straßen nur vereinzelt. Der Puls des Lebens schlägt langsamer – alles verlangsamt sich aufgrund der persönlichen Sünden. Die Tage zuvor sind geprägt durch die wiederholte Bitte um Vergebung. Was wird aus den eigenen Sünden? Lassen sie sich aus der Welt schaffen?

Auch im Christentum sucht man immer nach einem passenden Sündenbock, der die Verantwortung zu tragen hat für die eigenen schwerwiegenden Fehler. Doch der Versöhnungstag, dessen Liturgie im Buch Levitikus und somit auch in der christlichen Bibel beschrieben wird, lehrt, dass jemandes Schuld und Sünde nicht einfach aus der Welt geschafft werden können – selbst nicht durch einen Sündenbock.

Ausgleich

Auf Hebräisch heißt der große Versöhnungstag יוֹם כִּפּוּר (gesprochen: jom kippur). Im Hintergrund dieses Festnamens steht ein Rechtbegriff, der die Bedeutung des Versöhnungstag zu verdeutlichen hilft: כֹּפֶר (gesprochen: kofer). Dieser bezeichnet ein materielles Gut, das als Ausgleich zwischen einem Geschädigten und dem den Schaden Verursachenden gegeben wird.

Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau so stößt, dass der Betreffende stirbt, dann muss man das Rind steinigen und sein Fleisch darf man nicht essen; der Eigentümer des Rinds aber bleibt straffrei. Hat das Rind aber schon früher gestoßen und hat der Eigentümer, obwohl man ihn darauf aufmerksam gemacht hat, auf das Tier nicht aufgepasst, sodass es einen Mann oder eine Frau getötet hat, dann soll man das Rind steinigen und auch sein Eigentümer muss sterben. Will man ihm stattdessen eine Sühneleistung [כֹּפֶר] auferlegen, soll er als Lösegeld für sein Leben so viel geben, wie man von ihm fordert. Exodus 21,28-30

Der für die Taten seines Rindes verantwortliche Eigentümer kann sein Leben durch ein Lösegeld retten. Ihm wird die Möglichkeit einer materiellen Sühne gegeben, deren Umfang jedoch vollends in die Hand der trauernden Familie gelegt wird. Das alttestamentliche Recht scheint aus heutiger Perspektive überzogen streng, ja unmenschlich. Doch es gibt eine Perspektive, die nicht vergessen werden darf: Eine Sühneleistung wird nicht durch den Täter festgelegt, sondern sein Schicksal ist abhängig von Barmherzigkeit.

Unsichtbar machen?

Sowohl das Wort כֹּפֶר als auch das Wort כִּפּוּר stammen im Hebräischen von derselben Wortwurzel. Lange Zeit brachte man diese mit einem arabischen Verb mit der Bedeutung „bedecken“ in Verbindung. So deutete man den Sühnevorgang als ein Zudecken von Schuld, sodass sie nicht mehr sichtbar ist. In altbabylonischen Texten aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. findet man jedoch ein den hebräischen Worten ähnliches Verb, das eine kultische Reinigung von Personen und Objekten bezeichnet. Sühne bedeutet kein Bedecken der Schuld, sondern eine erneute Ermöglichung einer heilbringenden Beziehung zu Gott – und der große Versöhnungstag lehrt, dass diese nur möglich ist, wenn die Sünden öffentlich gemacht werden.

Im Zentrum des großen Versöhnungstags steht im Buch Levitikus keine magische Handlung und kein Tieropfer, sondern das gesprochene Wort:

Aaron [der Hohepriester] soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Schuld der Israeliten und alle ihre Frevel mitsamt all ihrer Sünden bekennen. Levitikus 16,21

Es ist die Aufgabe des Hohenpriesters an diesem Tag alle Schuld, alle Frevel und alle Sünden des Volkes laut auszusprechen. Die Verantwortung des Volkes für die eigenen Taten soll verbalisiert und damit das eigene Unvermögen bekannt werden. Der Priester ist kein Richter, sondern mit seinem Volk ein reumütig auf Barmherzigkeit Hoffender. Symbolisch legt er mit seinen Händen die Missetaten der Israeliten auf den Kopf des Bockes. Doch weder wird er und somit die Schuld Israels nun getötet, noch lässt sich das Bekannte irgendwie aus der Welt schaffen.

Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste schicken und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen. Levitikus 16,21-22

Symbolisch werden so die bekannten Sünden aus der Mitte des Volkes verbannt. Doch das Ausgesprochene ist in der Welt. Es ist von allen erkannt und das Wissen darum, kann nicht rückgängig gemacht werden.

Bekennt!

Ein ewiges Schuldbekenntnis ändert das Verhalten noch nicht – im Besonderen nicht, wenn es ritualisiert und entleert wird. Doch im Angesicht Gottes und aller Menschen die eigene Schuld zu bekennen und zu verstehen, dass sich die begangenen Sünden nicht einfach aus der Welt schaffen lassen, ist der erste Schritt, um nicht selbst in die Wüste geschickt zu werden.

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Bildnachweis

Titelbild: Alter Bock. Fotografiert von Glasseyes View. Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/” rel=”noopener noreferrer” target=”_blank”>CC BY-SA 2.0.

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