Kapitel
Ecclesiastica·Pastoralia

Keine Vollmacht, etwas zu ändern? Von wegen! Neutestamentliche Impulse für einen Ausweg aus einer scheinbar verfahrenen kirchlichen Situation

Leider haben die Christen in der Kirche aufgehört zu streiten. Nicht, dass es keine Konflikte gäbe – Gott bewahre! Die gibt es genug. Was für einen echten und guten Streit fehlt, ist die Dialogfähigkeit auf allen Seiten. Im Stellungskampf festgefahren sind die einen gegen das, für das die anderen sind. Während die einen – etwa auf dem synodalen Weg – auf schnelle und bisweilen radikale Reformen drängen, wiegeln andere entweder mit dem Hinweis ab, die Kirche habe keine Vollmacht etwas zu ändern1), oder die apostolische Verfasstheit der Kirche lasse keine demokratischen Verfahrensweisen zu2).

Wen zwei Wege unmöglich erscheinen, um die Einheit zu wahren, ist die Suche nach einem dritten Weg notwendig. Die Kirche ist eben nicht (Selbst-)Zweck, sondern

„Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Lumen Gentium 1).

Das Konzil sieht hierin die eigentliche Sakramentalität der Kirche.

Tatsächlich steht die Kirche weder seit kurzem an einem Scheideweg noch zum ersten Mal. Dass sie immer wieder neue Pfade gefunden hat, ist der Grund, warum sie heute überhaupt noch da ist.

Neue Fragen? Neue Lösungen!

Wenn behauptet wird, die Kirche habe keine Vollmacht Jesu dieses oder jenes zu ändern, dann stimmt das einfach nicht. Tatsächlich stünde in diesem Fall das besondere Priesteramt selbst ohne faktische Einsetzung durch Jesus da. Schlimmer noch: Es könnte sogar gegen den Willen Jesu stehen, dessen Handeln an sich kultkritisch ist (man denke nur an die sog. Tempelreinigung); zudem predigt er eine Vergebung der Sünden, die keiner priesterlichen Vermittlung mehr bedarf. Er ermächtigt die Menschen und lehrt eine Gottunmittelbarkeit, die dann deutlich wird, wenn der Auferstandene die im Johannesevangelium die Jünger (und das sind offenkundig nicht nur die Zwölf) mit dem Geist behaucht und sie mahnt:

„Denen ihr die Sünden erlasst, denen sind sie erlassen; denen ihr sie behaltet, sind sie behalten.“ Johannes 20,23

Vordergründig sieht es so aus, als würde hier eine exklusive Vollmacht zur Vergebung und Vergebungsverweigerung erteilt. Tatsächlich aber geht es um mehr. Die Sünde ist biblisch der Zustand der Trennung von Gott. Die sündenvergebende Praxis Jesu signalisiert genau deshalb das Erleben der Gottunmittelbarkeit. Wo die Vergebung verweigert wird, stellt sich der Jünger zwischen den Menschen und Gott. Er verhüllt das Antlitz Gottes und steht bloß im Weg.

Ähnlich verhält es sich mit dem ähnlichen Zitat aus dem Matthäusevangelium. Dort sagt Jesus:

„Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein.“ Matthäus 18,18

Hier signalisiert der Kontext, worum es wirklich geht. In Matthäus 18,15-17 wird nämlich das gemeindliche Krisen- und Konfliktmanagement durch Jesus installiert: Ein Streit zwischen Glaubenden soll erst unter vier Augen geregelt werden, bei Nichterfolg im zweiten Schritt unter Zeugen, dann vor der Gemeinde. Gelingt auch das nicht, muss man sich trennen. Klare Anweisungen, die auch heute noch hilfreich wären – wenn man sich an der Vollmacht Jesu orientieren würde. Da gibt es nämlich eine Weisung des Herrn!

Keine Weisung? Selbst entscheiden!

Anders aber ist es, wenn es keine Weisung des Herrn gibt. Schon Paulus musste deshalb selbst entscheiden, als es um die Frage der Ehe zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden ging. Da betont er, dass er diese Entscheidung trifft, nicht der Herr (1 Korinther 7,12) – und entwickelt eine Regel, die heute noch als Privilegium Paulinum im kirchlichen Eherecht verankert ist. Genau damit erfüllt er den Auftrag Jesu: Er löst das Problem und bindet sich an seine Lösung. Genau das ist Tradition: Treue zum Vorhergehenden und Mut, das Neue zu wagen.

Diese Vollmacht für neue Entscheidungen ist also durchaus durch Jesus selbst gegeben. Der aber beauftragt und entsendet gerade nicht nur die zwölf Apostel, in seinem Namen das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden. Im Lukasevangelium entsendet und beauftragt er nahezu wortgleich in Judäa 72 Jünger – darunter sicher auch Jüngerinnen. Sie schickt er wie Schafe unter die Wölfe (Lukas 10,3), eben nicht nur die Apostel. Sie sind es, gerade nicht die Apostel, denen er zuspricht:

„Wer euch hört, der hört mich, und wer euch ablehnt, der lehnt mich ab; wer aber mich ablehnt, der lehnt den ab, der mich gesandt hat.“ Lukas 10,16

Die längst erteilte Vollmacht

Sicher hat Jesus Christus kein Priesteramt eingesetzt. Der Hebärerbrief stellt sogar fest, dass er der einzige und wahre Priester ist (Hebräer 4,14-5,7), der ein einziges und unwiederholbares Opfer vollzogen hat (Hebräer 9,12). Das Priesteramt aber war in der frühen, sich ausbreitenden Kirche die Antwort auf neue Herausforderungen – kurz: die Bischöfe als Nachfolger der Apostel brauchten Mitarbeiter. Das sind die Priester bis heute: Mitarbeiter der Bischöfe. In diesem Sinn ist es sicher eine Frucht des Geistes. Der aber ist dynamisch und duldet keinen Stillstand. Was, wenn die Zeit reif ist, für eine Weiterentwicklung des Verständnisses des Priesteramtes? Was, wenn der Geist wieder lehrt, dass die Zeit der 72 neu gekommen ist, der Getauften und Gefirmten, durch die Gott im Auftrag des Herr eben auch unmittelbar spricht und nicht nur durch die, die in der apostolischen Sukzession stehen. Was, wenn die Zeit einer Rückbesinnung auf das Volk als Leib Christi wieder anbricht. Der ist auch eine Hierarchie, aber eine, die nicht bloß von oben und unten, sondern von organischer Lebendigkeit geprägt ist. Gott spricht vielfältig und auf vielerlei Weise (Hebräer 1,1) immer neu in die Zeiten. Er braucht heute Menschen, die nicht bloß klug ausgedachten Geschichten folgen, sondern Zeugnis ablegen von seiner Macht und Größe (2 Petrus 1,16). Allen, die durch Handauflegung und Gebet das Firmsakrament erhalten haben, ist dieser Auftrag längst erteilt!

Dieser Beitrag erschien in einer leicht gekürten Form auch in der Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln vom 2. September 2022 (Nr. 35/22), S. 17.

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Bildnachweis

Titelbild: Yes Karten (Gerd Altmann) – Quelle: pixabay – lizenziert mit der pixabay license.

Einzelnachweis   [ + ]

1. So etwa Kardinal Gerhard Ludwig Müller – siehe hierzu beispielsweise SZ online, Kardinal: Deutsche machen sich bei Reformen Illusionen, 31.7.2022 – Quelle: https://www.sueddeutsche.de/bayern/kirche-rom-kardinal-deutsche-machen-sich-bei-reformen-illusionen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-220731-99-220284 [Stand: 3. September 2022].
2. So etwa Peter Schallenberg, Geschenk der Liebe und Gnade Gotte – kein Recht, in: Kirchenzeitung für das Erzbistum Köln, 19. August 2022 (Nr. 33/22), S. 17.
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