Kapitel
Exegetica·Res publica

Die drei Jünglinge Eine synoptische Typologie


den Artikel
vorlesen lassen

Die Jugend hat einen schlechten Ruf. Den hatte sie immer schon. Zu allen Zeiten vergaßen die Alten, dass sie, als sie selbst noch jung waren, es auch besser wussten als die, die zu den Zeiten ihres Sturm und Drangs, alt waren. So hallt die schon dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschriebene Klage seit Jahrhunderten durch die Gassen der Städte und Täler der Dörfer:

„Die Jugend liebt heute den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt mehr vor älteren Leuten und diskutiert, wo sie arbeiten sollte. Die Jugend steht nicht mehr auf, wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widerspricht den Eltern und tyrannisiert die Lehrer.“1)

Der Generationenkonflikt ist nicht nur nicht neu; über Generationen hinweg wurden die Jungen selbst Ältere und klagten über die zu ihren alten Zeiten Jungen. Man kann sicher in jungen Zeiten übersehen, dass man selbst irgendwann zu den Alten gehören wird; aber kann man als alter Mensch tatsächlich vergessen, dass man selbst einmal jung war und den Alten zeigen wollte, wie es eigentlich geht? Offenkundig! Denn im Jahr 2020 sind die alten Revoluzzer von 1968 selbst in die Jahre gekommen – und sind erstaunt über jene junge revolutionäre Kraft, die sich im Jahr 2019 Raum verschaffte und auf den Straßen den Ex-Jugendlichen im Rahmen der „Fridays for future“-Demos zurief:

„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut.“

Jung und Alt

Die Alten sahen tatsächlich alt aus. Hatten sie die Zukunft der Jugend schon verspielt? Manch ein junger Mensch übersah im Eifer der eigenen Juvenalität, dass selbst die Alten heute noch ein gehöriges Kontingent an Zukunft haben können, steigt die Lebenserwartung in wohlhabenden Gesellschaften doch seit vielen Jahren sukzessive an. Da kann es unversehens passieren, dass die Jungen, wenn sie selbst Alte geworden sind, mit den ehemals Alten, die nun sehr alt sind, gemeinsam im Seniorenwohnheim Freiluftschach spielen. Das schien zumindest im Bereich des Möglichen, bis SARS-CoV-2 kam. Die Corona-Pandemie machte die Alten plötzlich zur Risikogruppe, deren Leben in Gefahr war, wenn die Jungen sich nicht benehmen würden. Der Schlachtruf von der geklauten Zukunft wurde binnen kürzester Zeit von

„Fuck Corona, save Oma“

abgelöst. Oma (und auch Opa!) sollten eben auch eine Zukunft haben. Der innerhalb kürzester Zeit vollzogene Rollentausch führte vor Augen, dass die Generationen eben doch mehr aufeinander ver- und angewiesen sind, als es bisweilen den Anschein hat. Wer sollte auch die Alten schützen, wenn die Jugend ihre eigenen Wege geht? Und wer sollte Erfahrung, Geschichten und weises Lebenswissen weitergeben, wenn die Alten den Kontakt zu den Jungen abbrächen? Ohne die Alten müssten die Jungen alles immer von Neuem aufbauen. Das, was sie aber jetzt aufbauen, bauen sie auf dem Fundament der Alten auf – ein Fundament, das verrotten würde, wenn es die Jungen nicht instand hielten. Nichts würde vom Werk der Alten bleiben, wenn es die Jungen nicht erhalten und weiterentwickeln würden. Die Jugend wird vieles anders machen. Gott sei Dank! Dass sie manches besser wissen werden als die Alten, die es zu ihren jungen Zeiten besser wussten, mag manchmal schmerzlich sein. Das aber ist das Leben! Und es ist gut so!

FuckCoronaSaveOma_Schoenbach
Banner am Döppersberg in Wuppertal-Elberfeld zu Beginn des durch die Corona-Pandemie bedingten Lockdowns im März 2020 (Foto: Christoph Schönbach)

Wenn Alte jung und Junge alt sein wollen

Freilich ist diese Beschreibung eher idealtypisch. In der Realität mangelt es den Alten allzu oft an Weisheit, um die Jungen weise gewähren zu lassen, während jugendliche Eitelkeit nicht selten die Ohren taub werden lässt, für das Erfahrungswissen Älterer. Manche Fehler müssen halt immer wieder neu gemacht werden. So lernt jede Generation, dass nicht jeder Klugscheißer auch ein Besserwisser ist. Solange man aus Fehlern lernt, ist das auch akzeptabel. Schwierig hingegen wird es, wenn Junge nie alt werden wollen und an ihrer Juvenalität um den Preis des Lebens festhalten wollen oder wenn Junge schon wie Alte sind, als wenn sie das Glück jugendlicher Unbekümmertheit nie gekostet haben. Merkwürdig sind allerdings auch jene Alten, die ihr Altsein verleugnen, indem sie sich jugendlich gebärden. Freilich ist auch das ein Phänomen, das Sokrates offenkundig vertraut war, wenn er feststellt:

„Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern. Und überhaupt spielen die jungen Leute die Rolle der alten und wetteifern mit ihnen in Wort und Tat, während Männer mit grauen Köpfen sich in die Gesellschaft der jungen Burschen herbeilassen, darin von Possen und Späßen überfließen, ähnlich den Jungen, damit sie nur ja nicht als ernste Murrköpfe, nicht als strenge Gebieter erscheinen.“2)

27 Jahre – forever young, step into live or what?

Der Begriff, wer zur „Jugend“ gehört, ist unscharf. Juristisch endet die „Jugend“ in der Bundesrepublik Deutschland mit Vollendung des 21. Lebensjahres3). Jugendstudien – wie die Shell-Jugendstudie4) – definieren die Jugendphase hingegen anders. Hier kommen weitere Parameter zum Tragen, wie die der wirtschaftlichen oder emotionalen Autonomie. Bisweilen wird die Phase der Jugend dann auf das Alter von 29 Jahren, manchmal sogar darüber hinaus ausgedehnt. In der Tat sind die Grenzen hier fließend. Tatsächlich zeigt sich etwa im Alter von 27 Jahren schon eine gewisse Typologie. Auf der einen Seite markiert dieses Lebensalter für manche den Eintritt in das eigene selbstständige Leben. Sie haben Studium und Ausbildung abgeschlossen, schaffen die Grundlage für eigene Existenzen, werden Vater und Mutter und gründen eine Familie. Andere haben bis hierhin so schnell und intensiv gelebt, dass sich mit ihrer Jugend auch das Leben vollendet. Der sogenannte „Klub 27“ bezeichnet jene Künstlerinnen und Künstler, die im Alter von 27 Jahren verstarben und vielleicht auch deswegen zur Legende wurde. Zu ihnen gehören etwa Amy Winehouse, Jimi Hendrix, Janis Joplin oder Kurt Cobain. Sie wurden nicht alt, sondern blieben für immer jung. Während die einen zu Erwachsenen reifen, andere (zu) früh sterben, bleiben manche hingegen in einem merkwürdigen Status der Unreife stecken – entweder, weil ihnen die Weiterentwicklung ins Erwachsenenalter nicht gelingt, oder indem sie wie junge Alte erscheinen, denen es aber an der Erfahrung der Alten fehlt. Zu Letzteren gehört vielleicht der aufstrebende Jung-CDU-Politiker Philipp Amthor, der trotz seiner Jugend mit rhetorischer Eloquenz, medialer Präsenz und selbstbewusster Penetranz auffiel, nun aber im zarten Alter von 27 Jahren über sein Engagement in der eher obskuren Firma „Augustus Intelligence“ und damit verbundenen Netzwerk konservativer Männer zu straucheln droht5). Seine Eloquenz stellte er noch im Frühjahr 2020 unter Beweis, als er in einem Interview sagte:

„Konservative Politik beginnt nämlich zuallererst damit, dass man sich anständig benimmt.“6)

Nun scheinen die Taten die hehren Worte die Lippenbekenntnisse mit dem Herpes der Unglaubwürdigkeit zu infizieren, so dass der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfang Bosbach dem Jungpolitiker altväterlich attestiert:

„Junge, das tut man nicht.“7)

Feuerprobe

Hätte er als alter weiser Mann den Rat dem jugendlichen Nachfolger doch eher gegeben und hätte der nicht eitel auf jene Alten gehört, die nur eigenen Interessen folgen. Angesichts der verfahrenen Situation möchte man Philipp Amthor, der erst vor kurzem in die römisch-katholische Kirche durch den Empfang der Initiationssakramente aufgenommen wurde8), ein Psalmgebet ans Herz legen:

Gedenke nicht meiner Jugendsünden und meiner Frevel! Nach deiner Huld gedenke meiner, HERR, denn du bist gütig! Der HERR ist gut und redlich, darum weist er Sünder auf den rechten Weg. Psalm 25,7-8

Nun aber muss Philipp Amthor wohl erst die öffentliche Feuerprobe bestehen und es muss sich zeigen, welchen Weg er geht. Es ist fast wie mit jener Feuerprobe die die drei Jünglinge antreten mussten, die nicht dem Befehl Nebukadnezars im Buch Daniel folgten:

Ihr Männer aus allen Völkern, Nationen und Sprachen, hört den Befehl! Sobald ihr den Klang der Hörner, Pfeifen und Zithern, der Harfen, Lauten und Sackpfeifen und aller anderen Instrumente hört, sollt ihr niederfallen und das goldene Standbild verehren, das König Nebukadnezar errichtet hat. Wer aber nicht niederfällt und es verehrt, wird noch zur selben Stunde in den glühenden Feuerofen geworfen. Daniel 5,4-6

Ob im öffentlichen Feuer Rettung sein wird, wie für die drei Jünglinge, wird sich daran erweisen, welchem Typ Jüngling die so Erprobten entsprechen. Interessanterweise hält das Neue Testament hier eine bemerkenswerte Typologie bereit.

Die drei synoptischen Jünglinge

Ein Blick in eine Konkordanz zeigt, dass das griechische Wort für „Jüngling“, νεανίσκος (gesprochen: neanískos) jeweils in den synoptischen Evangelien in einem jeweils spezifischen narrativen Zusammenhang vorkommt. Die verschiedenen Erzählungen entwerfen dabei ein je eigenes Bild eines bestimmten Archetyps von „Jüngling“. Sie zeigen so auch relevante Analogien für die Gegenwart – ähnlich der sokratischen Weisheit, die die Alten über Generationen hinweg immer wieder beobachten konnten. An erster Stelle steht die lukanische Erzählung der Erweckung des Jünglings von Naïn:

Und es geschah danach, dass er in eine Stadt namens Naïn kam; seine Jünger und eine große Volksmenge folgten ihm. Als er in die Nähe des Stadttors kam, siehe, da trug man einen Toten heraus. Es war der einzige Sohn seiner Mutter, einer Witwe. Und viele Leute aus der Stadt begleiteten sie. Als der Herr die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr und sagte zu ihr: Weine nicht! Und er trat heran und berührte die Bahre. Die Träger blieben stehen und er sagte: Jüngling (νεανίσκος), ich sage dir: Steh auf! Da setzte sich der Tote auf und begann zu sprechen und Jesus gab ihn seiner Mutter zurück. Alle wurden von Furcht ergriffen; sie priesen Gott und sagten: Ein großer Prophet ist unter uns erweckt worden: Gott hat sein Volk heimgesucht. Und diese Kunde über ihn verbreitete sich überall in Judäa und im ganzen Gebiet ringsum. Lukas 7,11-17

Der lukanische Typ: Forever young

Lukas erzählt nichts über das Alter des Jünglings. Freilich muss er ein gewisses Alter erreicht haben, denn Lukas spricht eben von νεανίσκος (gesprochen: neanískos) und nicht von τέκνον (gesprochen) oder παῖς (paîs), also einem Kind, oder gar einem παιδίον (paidíon), einem kleinen Kind. Der Begriff νεανίσκος steht eher für einen jungen, jugendlichen Menschen der an der Schwelle zum Erwachsensein steht. Im Fall des Jünglings von Naïn ist dessen Ableben, das in sich dramatisch ist, von besonderer Tragik, betont Lukas doch, dass es sich bei ihm um den einzigen Sohn seiner Mutter handelt, die zudem bereits verwitwet ist. Mit dem Tod ihres einzigen Sohnes steht sie nun vor dem Scheitern ihrer Existenz. Niemand ist mehr da, der ihr Leben existentiell absichern kann. Auch endet die Familienlinie mit dem Tod des Jünglings. Für die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse kann die Katastrophe für die Mutter des Toten nicht größer sein.

Lukas schildert die Begegnung Jesu mit der verwitweten Trauernden als Zufallsbegegnung. Er ist gewissermaßen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Dass sich die Szene in der Nähe des Stadttores zuträgt, aus dem man den Toten gerade herausgetragen hat, deutet an, dass sich die Begebenheit vor dem Tor abspielt. Die Lebenssphäre der Stadt ist schon verlassen, die Schwelle eigentlich unwiederbringlich überschritten. Und doch bleibt die Erzählung gewissermaßen an dieser Schwelle stehen. Es ist eine Entscheidungssituation zwischen Wiederbringlichkeit und Unwiederbringlichkeit.

Bemerkenswerterweise geht die Aktion von Jesus aus. In vielen Heilungserzählungen geschieht der Impuls von den Heilsuchenden oder ihren Angehörigen oder Bekannten. Die vielen Leute, die die Witwe begleiten und sie selbst bleiben allerdings passiv. Jesus hingegen scheint die Hintergründe des Ereignisses zu erahnen. Vielleicht kennt er sie oder er deutet den Klagegesang so, dass hier eine katastrophale Existenzgefährdung droht. Der Text sagt darüber nichts, außer, dass Jesus Mitleid mit der Witwe hat. Dabei ist die Übersetzung „Mitleid“, die die Einheitsübersetzung 2016 in V. 13 präsentiert, verhältnismäßig schwach. Das Verb σπλαγχνίζεσθαι (gesprochen: splangchnízesthai) geht eigentlich auf das Substantiv σπλάγχνον (splángchnon) zurück, dessen Plural σπλάγχνα (splágchna) „Eingeweide“ bedeutet. Das Schicksal der Witwe trifft Jesus also im Innersten. Mehr noch, eignet dem Verb σπλανγχνίζεσθαι doch eine geradezu physische Komponente: Jesus wird in seinen Eingeweiden getroffen. Er macht das Schicksal der Witwe zu seinem Schicksal. Es lässt ihn nicht los. So berührt er den Jüngling, übergreift so die Grenze zwischen Leben und Tod und gibt ihn seiner Mutter zurück.

Das ist die eigentliche Pointe der lukanischen Jünglingstypologie: Der Jüngling bleibt Sohn der Mutter. Die Beziehung ist fast symbiotisch. Er wird jung und Kind der Mutter bleiben. Wird er erwachsen werden können und in ein eigenes Leben finden? Oder wird er das Leben der Mutter leben müssen. Das darf man ja nicht übersehen, dass im Zentrum der Erzählung das Schicksal der Mutter steht. Jesus wird nicht vom toten Jüngling angerührt, sondern vom Schicksal der Mutter, das er durch die Erweckung des Toten „heilt“. Wie wird der Jüngling, der den Tod schon geschmeckt hatte, weiter im Leben sein können? Allerdings betont Lukas, dass er sich als Toter aufrichtet und zu sprechen beginnt (V. 15). Er kommt nicht wirklich zurück in ein neues, eigenes Leben. Jung gestorben hätte er zur Legende werden können. Nun wird er für immer Kind ohne eigenes Leben bleiben …

rainbow-1649789_1280
Auch wer den Regenbogen sucht, bleibt oft bloß im Regen stehen.

Der matthäische Typ: Reich, aber unreif

Das Wort νεανίσκος begegnet im Matthäusevangelium in der Erzählung von der Begegnung Jesu mit dem reichen Jüngling:

Und siehe, da kam ein Mann zu Jesus und fragte: Meister, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu gewinnen? Er antwortete: Was fragst du mich nach dem Guten? Nur einer ist der Gute. Wenn du aber in das Leben eintreten willst, halte die Gebote! Darauf fragte er ihn: Welche? Jesus antwortete: Du sollst nicht töten, du sollst nicht die Ehe brechen, du sollst nicht stehlen, du sollst kein falsches Zeugnis geben; ehre Vater und Mutter! Und: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Der junge Mann (νεανίσκος) erwiderte ihm: Alle diese Gebote habe ich befolgt. Was fehlt mir noch? Jesus antwortete ihm: Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib ihn den Armen; und du wirst einen Schatz im Himmel haben; und komm, folge mir nach! Als der junge Mann (νεανίσκος) das hörte, ging er traurig weg; denn er hatte ein großes Vermögen. Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: Amen, ich sage euch: Ein Reicher wird schwer in das Himmelreich kommen. Nochmals sage ich euch: Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Als die Jünger das hörten, gerieten sie ganz außer sich vor Schrecken und sagten: Wer kann dann noch gerettet werden? Jesus sah sie an und sagte zu ihnen: Für Menschen ist das unmöglich, für Gott aber ist alles möglich. Matthäus 19,16-26

Der junge Mann, dem Jesus hier begegnet, ist gebildet und eloquent. Er weiß dir richtigen Antworten zu geben. Und er ist mit Reichtum gesegnet. Er hat offenkundig alles, was man sich wünschen kann. Nur, wie er das ewige Leben erlangen kann, weiß er nicht. Von dem Rabbi aus Nazareth wird er schon gehört haben, denn er geht offenkundig zielstrebig auf Jesus zu. Auf die Frage, was er Gutes tun müsse, um das ewige Leben zu erhalten, hat sich wohl eine einfache Antwort erhofft – vielleicht ein paar Almosen geben, eine Wallfahrt machen oder eine Spende für ein paar ansehnliche Kultgegenstände im Tempel vielleicht … was man halt so als Reicher mit seinem Geld macht, um sich unsterblich zu machen.

Jesus aber bringt ihn an die Grenze seiner selbst. Er stellt die Frage nach seiner Existenz: Ist er im Zweifel bereit, nicht nur ein wenig, sondern alles zu geben? Die Forderung Jesu ist wohl nicht nur für den reichen Jüngling radikal. Tatsächlich ist Reichtum für Jesus selbst wohl nicht an sich ein Problem. In seinem Gefolge finden sich etwa reiche Frauen, die ihn unterstützen (vgl. Lukas 8,1-3). Sie waren aber offenkundig bereit, ihr Hab und Gut ohne Hintergedanken für sein Werk einzusetzen. Das ist wohl der entscheidende Unterschied zu dem reichen Jüngling. Er hängt noch zu sehr an den eigenen Bedürfnissen und will sich erkaufen, was man sich nicht kaufen kann. Zuneigung und Heil sind eben nicht käuflich. Weil ihm diese Bereitschaft fehlt, geht er traurig weg. Er verschwindet von der Bildfläche und aus der Geschichte.

Der matthäische Typ des Jünglings weist fatale Analogien zum Jungpolitiker Philipp Amthor, der sich im Juni 2020 dem Vorwurf der Käuflichkeit stellen muss. Matthias Krins, ein Bekannter Philipp Amthors, CDU-Fraktionschef in Torgelow und stellvertretender Kreisvorsitzender der CDU Vorpommern-Greifswald sagt über ihn in einem Gespräch mit der Zeitung „Welt“:

„Philipp erinnerte mich an einen brasilianischen Straßenfußballjungen, der davon träumte, das rot-blau gestreifte Trikot von Barcelona anzuziehen.“9)

Der Redakteur stellt des weiteren fest, Matthias Krins erzähle

„von einem jungen Mann, der alles will und aus dem Nichts kommt. Einer, dem Sachpolitik vielleicht zu banal erschien“.10)

Das entspricht ziemlich genau dem matthäische Typ eine Jünglings, der noch nicht reif für das wahre Leben ist.

Das anschließende Jesuswort, dass eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als ein Reicher ins Himmelreich komme, hat Exegeten immer wieder zu kreativen Auslegungen herausgefordert. Von Übersetzungsvarianten bis hin zu topographischen Deutungen ist viele zu finden. Dabei ist es die Absurdität des Aphorismus, der eigentlich für sich selbst spricht. Reiche stehen sich selbst im Weg, weil sie dem Mammon verfallen sind. Es ist nicht der Reichtum an sich, der problematisch ist, sondern den Lebenswert, die existentielle Bedeutung, die man ihm beimisst. Der junge Mann ist zu unreif, um diese Gefahr des Reichtums erkennen zu können. Er will eben nur Heil für sich – und nicht für die Armen. Das ist ein Problem nicht nur für Jünglinge und Emporkömmlinge, sondern auch für viele Fromme: Wer Heil vor allem für sich erstrebt, hat den ersten Schritt aus der eigenen Unreife eben noch nicht getan. Heil für andere ist die Herausforderung, der sich Christinnen und Christen gegenüber sehen …

Der markinische Typ: Into live!

Das Wort νεανίσκος (neanískos) begegnet im Markusevangelium an zwei Stellen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun zu haben. Es ist allerdings der Begriff selbst, der einen semantischen Zusammenhang herstellt und so eine merkwürdige Leerstelle zu füllen im Stande ist, die sich bei oberflächlicher und kontextloser Lektüre der ersten Erwähnung des Begriffs νεανίσκος auftut. Beide Begriffsverwendungen finden sich freilich im größeren Erzählzusammenhang der Passions- und Auferstehungsüberlieferung. Die erste Erwähnung geschieht im Zusammenhang des Berichtes über die Verhaftung Jesu im Garten Gethsemane:

Noch während er redete, kam Judas, einer der Zwölf, mit einer Schar von Männern, die mit Schwertern und Knüppeln bewaffnet waren; sie waren von den Hohepriestern, den Schriftgelehrten und den Ältesten geschickt worden. Der ihn auslieferte, hatte mit ihnen ein Zeichen vereinbart und gesagt: Der, den ich küssen werde, der ist es. Nehmt ihn fest, führt ihn sicher ab! Und als er kam, ging er sogleich auf Jesus zu und sagte: Rabbi! Und er küsste ihn. Da legten sie Hand an ihn und nahmen ihn fest. Einer von denen, die dabeistanden, zog das Schwert, schlug auf den Diener des Hohepriesters ein und hieb ihm das Ohr ab. Da sagte Jesus zu ihnen: Wie gegen einen Räuber seid ihr mit Schwertern und Knüppeln ausgezogen, um mich festzunehmen. Tag für Tag war ich bei euch im Tempel und lehrte und ihr habt mich nicht verhaftet; aber so mussten die Schriften erfüllt werden. Da verließen ihn alle und flohen. Ein junger Mann (νεανίσκος) aber, der nur mit einem leinenen Tuch bekleidet war, wollte ihm nachfolgen. Da packten sie ihn; er aber ließ das Tuch fallen und lief nackt davon. Markus 14,43-52

Die Geschichte der Verhaftung Jesu ist nicht nur bekannt; sie gehört in allen vier Evangelien zum zentralen Erzählbestand der Passionsberichte. Die Erwähnung des νεανίσκος im Markusevangelium hingegen ist singulär. Sie wirkt in gewisser Weise absurd und unmotiviert – vielleicht ein Grund, dass die beiden anderen Synoptiker, Matthäus und Lukas, nicht in ihre Passionserzählungen übernommen haben.

Tatsächlich schildert Markus die Erscheinung dieser Figur mit größtmöglicher Diffusion, fügt er dem Begriff νεανίσκος noch die allgemeine Partikel τις (gesprochen: tis) hinzu, die man mit „irgendein“ übersetzen könnte. Es scheint fast so, als sei der νεανίσκος, von dem in V. 51 die Rede ist, ein Unbekannter. Er taucht nirgendwo vorher auf. Ein zufälliger Zeuge kann er aber auch nicht sein, dafür steht er zu sehr im Zentrum des Geschehens. Als einfach Dahergekommener steht er nicht abseits, er ist mittendrin. Nur so kann man erklären, dass er Jesus nachfolgen will. Verwunderlich ist dabei freilich die Bemerkung über seine spärliche Bekleidung, die er überdem verliert, als man ihn fassen will. Nackt verschwindet er aus diesem Teil der Geschichte …

… um an einem bemerkenswerten Ort, nämlich dem leeren Grab, wieder aufzutauchen:

Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben. Am ersten Tag der Woche kamen sie in aller Frühe zum Grab, als eben die Sonne aufging. Sie sagten zueinander: Wer könnte uns den Stein vom Eingang des Grabes wegwälzen? Doch als sie hinblickten, sahen sie, dass der Stein schon weggewälzt war; er war sehr groß. Sie gingen in das Grab hinein und sahen auf der rechten Seite einen jungen Mann (νεανίσκος) sitzen, der mit einem weißen Gewand bekleidet war; da erschraken sie sehr. Er aber sagte zu ihnen: Erschreckt nicht! Ihr sucht Jesus von Nazaret, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden; er ist nicht hier. Seht, da ist die Stelle, wohin man ihn gelegt hat. Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat. Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich. Markus 16,1-8

Berücksichtigt man die Hypothese vom sogenannten „unechten Markusschluss“, die textkritisch disparaten Überlieferungssituation der Verse Markus 16,9-20 beruht, handelt es sich bei Markus 16,1-8 um den einzigen Auferstehungsbericht. Und in diesem hat ausgerechnet ein junger Mann, ein νεανίσκος das letzte Wort, nämlich die Verkündigung der Auferstehung des Gekreuzigten. Betont wird hervorgehoben, dass es sich um einen Jüngling handelt, der nun mit einem weißen Gewand bekleidet ist. Die Betonung der Bekleidung an dieser Stelle korrespondiert mit der Nacktheit des Jünglings aus Markus 14,51-52. Neben der Verwendung des Begriffes νεανίσκος hier wie dort, der sonst im Markusevangelium nicht zu finden ist, ist die Anmerkung über die textile Ausstattung des Jünglings ein weiteres Indiz für eine gewisse Identität: Der, der angesichts der Verhaftung Jesu letztlich nackt flieht, wird hier in reines Weiß gekleidet zum Verkünder. Er hat eine Häutung mitgemacht. Er war nackt und wurde bekleidet. Er hatte nichts und trägt nun das Gewand derer, die Christus als weißes Gewand angezogen haben (vgl. Galater 3,27).

Häutungen

Man weiß nicht, was der Nackte aus Gethsemane während des Kreuzestodes Jesu gemacht hat. Er ist aber Verkünder der Auferstehung. In gewisser Weise durchlebt er damit existentiell Kreuzestod und Auferstehung mit. Sein altes Leben häutet sich und er wird neu bekleidet – eine Symbolik, die von Urzeiten an mit der Taufe verbunden ist. Er macht also einen Reifungsprozess mit. Das Alte liegt hinter ihm, Neues wird. Er selbst aber geht durch die Zeiten. Dieser Jüngling reift im Unterscheid zu den lukanischen und matthäischen Jünglingen, die nicht erwachsen und reif werden können oder wollen. Eines Tages wird der markinische Jüngling alt sein – und vielleicht mit dem Psalmisten beten:

Jung war ich, nun bin ich alt, nie sah ich einen Gerechten verlassen noch seine Nachkommen betteln um Brot. Allzeit ist er gütig und leiht aus, seine Nachkommen werden zum Segen. Meide das Böse und tue das Gute, so bleibst du wohnen für immer. Denn der HERR liebt das Recht und wird seine Frommen nicht verlassen, auf immer werden sie bewahrt. Doch die Nachkommen der Frevler werden ausgetilgt. Psalm 37,25-28

Werden die beiden anderen dieses Gebet je sprechen können? Die Entscheidung liegt bei ihnen, den Weg zur Reifung doch noch zu gehen, sich vom Alten zu Lösen und Neues zu wagen, um diese Erfahrungen als Altgewordene an die dann Jungen weiterzugeben. Ein Alter, der nicht über die Jugend meckert, sondern sich erinnert, dass er jung war, nun aber tatsächlich alt sein kann – das ist weise. Ein solcher Alter kann weisen Rat geben, der von erfahrenem Leben spricht: Meide das Böse und tue das Gute. Wohl den Jungen, die solche Alten haben. Und wohl den Alten, die wissen, dass sie jung waren. So reift ein Mensch zu sich selbst heran.

Empfehlen Sie diesen Artikel weiter
  • Share this on WhatsApp
  • Share this on Linkedin
Wenn Sie über die Veröffentlichung neuer Texte informiert werden möchten. schicken Sie bitte eine E-Mail, mit dem Betreff „Benachrichtigung“, an mail@dei-verbum.de

Bildnachweis

Titelbild: Hippolyte Flandrin, Jüngling am Meeresufer – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei.

Bild 1: Fuck Corona save Oma (Christoph Schönbach) – veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Fotografen – alle Rechte vorbehalten.

Bild 2: Regenbogen (Kevinsphotos) – Quelle: pixabay – lizenziert als pixabay licence.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Zitiert nach Christoph Drösser, Verlotterte Jugend, Zeit online, 7.4.2004, Quelle: https://www.zeit.de/2004/16/Stimmts_Sokrates [Stand: 21. Juni 2020].
2. Platon: Politeia, Buch VIII, 557b-563b – zitiert in der Übersetzung von Wilhelm Wiegand, greifbar in Platon, Sämtliche Werke (hrsg. von Erich Loewenthal), Bd. II, Heidelberg 1982.
3. Vgl. hierzu Jugendschutzgesetz §1 (Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/juschg/BJNR273000002.html [Stand: 21. Juni 2020]) sowie Jugendgerichtsgesetz §1 (Quelle: https://www.gesetze-im-internet.de/jgg/BJNR007510953.html [Stand: 21. Juni 2020]).
4. Vgl. etwa die Shell-Studie 2019 – Weitere Informationen unter https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie.html [Stand: 21. Juni 2020].
5. Vgl. hierzu Marc Brost, Heike Buchter, Mariam Lau, Paul Middelhoff und Yassin Musharbash, Philipp Amthor – War’s das?, Zeit online, 17.6.2020, Quelle https://www.zeit.de/2020/26/augustus-intelligence-philipp-amthor-karl-theodor-zu-guttenberg [Stand: 21. Juni 2020].
6. Philipp Amthor im Gespräch mit Ulrike Ruppel, „Konservative Politik beginnt damit, dass man sich anständig benimmt“, BZ online, 2.2.2020, Quelle: https://www.bz-berlin.de/deutschland/konservative-politik-beginnt-damit-dass-man-sich-anstaendig-benimmt [Stand: 21. Juni 2020].
7. Siehe hierzu RP-online, Fall Amthor Thema bei Lanz. „Junge, das tut man nicht“, 18.6.2020, Quelle: https://rp-online.de/panorama/fernsehen/markus-lanz-wolfgang-bosbach-kritisiert-verhalten-von-philipp-amthor_aid-51713449 [Stand: 21. Juni 2020].
8. Vgl. hierzu etwas FAZ online, Jetzt auch katholisch, CDU-Politiker Philipp Amthor ließ sich taufen, 21.12.2019, Quelle: https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/jetzt-auch-katholisch-philipp-amthor-liess-sich-taufen-16548170.html [Stand: 21. Juni 2020].
9. Zitiert nach Frédéric Schwilden, Von unten gekommen, alles gewollt, Welt online, 22.6.2020, Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus209978371/Philipp-Amthor-Von-unten-gekommen-alles-gewollt.html [Stand: 22. Juni 2020]).
10. Zitiert nach Frédéric Schwilden, Von unten gekommen, alles gewollt, Welt online, 22.6.2020, Quelle: https://www.welt.de/politik/deutschland/plus209978371/Philipp-Amthor-Von-unten-gekommen-alles-gewollt.html [Stand: 22. Juni 2020]).
Weitere Beiträge: