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Ecclesiastica·Exegetica·Judaica

Das Jota-Paradox Über die bleibende Bedeutung und die christliche Interpretation der Torah


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Zu den erstaunlichsten Paradoxa des Christentums gehört wohl die Erkenntnis, dass es – obschon es sich als Religion der Freiheit vom Gesetz geriert – egal in welcher Konfession nicht nur absolut zu glaubende Dogmen definiert, sondern auch kirchenrechtliche Normen entwickelt hat, die mitunter als göttlich gegeben verstanden werden. Die Freiheit vom Gesetz – gemeint ist die Verpflichtung auf die Normen der Torah – ist somit eine zwar behauptete; hinterrücks aber haben es die Kirchen geschafft, selbst gesetzesmäßige Strukturen zu formulieren, bei deren Zuwiderhandlungen zwar nicht sofort die göttliche (jedenfalls nicht immer), aber wenigstens die kirchliche Ungnade droht. Eine gesetzlose Anarchie jedenfalls ist mit dem Christentum nicht eingetreten. Im Gegenteil: Selbst Paulus, der sich im Galaterbrief mit offenkundig judenchristlichen Agitatoren auseinandersetzt, die den Heidenchristen die Notwendigkeit und den Segen der Beschneidung versprechen, die sie wohl in eine größere Einheit mit dem Volk Israel bringen würde, schreibt zwar:

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Steht daher fest und lasst euch nicht wieder ein Joch der Knechtschaft auflegen! Galater 5,1

wobei er als Begründung deutlich polemisierend hinzufügt:

Siehe, ich, Paulus, sage euch: Wenn ihr euch beschneiden lasst, wird Christus euch nichts nützen. Ich bezeuge wiederum jedem Menschen, der sich beschneiden lässt: Er ist verpflichtet, das ganze Gesetz zu halten. Ihr, die ihr durch das Gesetz gerecht werden wollt, seid von Christus getrennt; ihr seid aus der Gnade herausgefallen. Galater 5,2-4

Gleichzeitig aber wehrt er ein anarchisches Missverständnis ab, indem er die Galater an das „Gesetz Christi“ erinnert:

Denn ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder und Schwestern. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe! Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst! Galater 5,13-14

Die Liebe wird damit zum Handlungsprinzip – einem Prinzip, das wohl hinter der paulinischen Rede vom „Gesetz Christi“, das ihn bindet, in 1 Korinther 9,21 steht.

Identitätsfragen

Für Paulus ging es seinerzeit ums Ganze, seine Glaubwürdigkeit, ja vielleicht sogar um sein Lebenswerk. Das Projekt der Heidenmission ist eng mit seinem Namen verbunden. Gleichwohl ist er nicht der einzige Vertreter dieser Idee. Sie entstand wohl in der Gemeinde von Antiochien, die ursprünglich von Diasporajuden gegründet wurde, die sich dem Glauben an den vom Kreuzestod Auferstandenen folgten. Mit Antiochien entstand neben der Jerusalemer Urgemeinde ein zweites, aber besonderes, frühchristliches Zentrum, begann man hier doch offenkundig, das Christusereignis – insbesondere die Auferstehung vom Kreuzestod – theologisch zu reflektieren. In den paulinischen Briefen ist ein Großteil dieser theologischen Reflexion greifbar – ebenso aber auch (zusammen mit diversen Notizen in der Apostelgeschichte) die Konflikte mit der Jerusalemer Urgemeinde, die sich wohl stärker dem Judentum verpflichtet fühlte. Während es in der Apostelgeschichte über die Jerusalemer Urgemeinde heißt:

Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Lauterkeit des Herzens. Apostelgeschichte 2,46

bekommt die neue Bewegung in Antiochien einen eigenen, neuen Namen, der bis heute prägend ist:

In Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen. Apostelgeschichte 11,26

Hinter diesen lapidar erscheinenden Notizen verbirgt sich freilich ein grundlegend divergierendes Identitätsverständnis. Die Jerusalemer Urgemeinde, die sich wohl vor allem um den Zwölferkreis gebildet hatte, verstand sich als Teil des Judentums. Das war freilich kein monolithischer Block. Es war in hohem Maße ausdifferenziert. Noch heute sind Partien wie die Sadduzäer und Pharisäer, die auch im Neuen Testament Erwähnung finden, bekannt, aber auch die Essener oder die Bewegung um Johannes den Täufer, ganz zu schweigen von Gruppierungen im Diasporajudentum, zu denen so schillernde Gemeinden wie die der jüdischen Söldnerkolonie in Elephantine, einer Nilinsel, gehörten. Letztere ist insofern interessant, als in den Papyrusfunden kein einziger biblischer Text – auch nicht die Torah – nachgewiesen werden konnte1), ein Aspekt, über den später noch zu sprechen sein wird.

Dass es nun innerhalb des Judentums auch Juden gab, die an Jesus als den verheißenen Messias glaubten, war an sich nicht außergewöhnlich. Theologisch konfliktiv war eher der Glaube, dass dieser Messias vom Kreuzestod auferstanden sein soll. Genau dieser Aspekt aber spielte für die Antiochener eine zentrale Rolle. Man kann den Gedankengang in drei paulinischen Formulierungen nachverfolgen, die jeweils zeigen, wie zentral die neue Erkenntnis nicht nur für die Antiochener, sondern insbesondere für Paulus gewesen sein muss. So schreibt er im Römerbrief:

Ihn hat Gott aufgerichtet als Sühnemal – wirksam durch Glauben – in seinem Blut, zum Erweis seiner Gerechtigkeit durch die Vergebung der Sünden, die früher, in der Zeit der Geduld Gottes, begangen wurden; ja zum Erweis seiner Gerechtigkeit in der gegenwärtigen Zeit, um zu zeigen: Er selbst ist gerecht und macht den gerecht, der aus Glauben an Jesus lebt. Römer 3,25-26

Deutlicher wird er im Galaterbrief:

Christus hat uns vom Fluch des Gesetzes freigekauft, indem er für uns zum Fluch geworden ist; denn es steht geschrieben: Verflucht ist jeder, der am Holz hängt. Galater 3,13

Hier zitiert Paulus selbst den entscheidenden Satz aus der Torah:

Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, auf das die Todesstrafe steht, wenn er hingerichtet wird und du den Toten an einen Pfahl hängst, dann soll die Leiche nicht über Nacht am Pfahl hängen bleiben, sondern du sollst ihn noch am gleichen Tag begraben; denn ein Gehenkter ist ein von Gott Verfluchter. Deuteronomium 21,22-23

Es ist diese Aussage der Torah, die zu jenem Grundparadox des Glaubens an den vom Kreuzestod Auferstandenen führt, das Paulus selbst im 2. Korintherbrief in unüberbietbarer Weise auf den Punkt bringt:

Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden. 2 Korinther 5,21

Damit ist aber auch die alles entscheidende Frage über die christliche Identität gestellt.

Die Bedeutung des „Gesetzes“

Zuerst muss eine terminologische Klarstellung vorgenommen werden. Wenn Christen über die Torah sprechen, reden sie gerne vom „Gesetz“. Das ist allerdings terminologisch unscharf, wenn nicht sogar falsch. Das hebräische Wort תּוֹרָה (gesprochen: Torah) leitet sich von der Verbalwurzel ירה (gesprochen: jarah) ab, die so viel wie „lehren“ oder „unterweisen“ bedeutet. Die Torah wird deshalb von Juden weniger als göttliches Gesetz denn als göttliche Weisung verstanden. Am Ende der Lesung der Torah feiert man deshalb mit „Simchat Torah“ die Freude über die Gabe der göttlichen Weisung, bei denen Kindern Süßigkeiten zugeworfen werden. Es scheint also keine Last zu sein, Träger der göttlichen Weisung zu sein – ganz im Gegenteil!

Im Neuen Testament hingegen wird fast durchgängig der Begriff νόμος (gesprochen: nómos) verwendet, wenn über die Torah gesprochen wird. Damit schließt das Neue Testament an den Sprachgebrauch der Septuaginta (LXX), der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes an. Im Unterschied zur dortigen Verwendung mit einem breiteren Bedeutungssprektrum ist νόμος hier aber semantisch auf den juridischen Bereich des Gesetzes eingegrenzt. Assoziativ fehlt ihm die freudenschenkende Weite jenes Torah-Verständnisses, das bis heute zum Ausdruck kommt, wenn Juden „Simchat Torah“ feiern. Das mag daran liegen, dass in der zeitgenössischen Auseinandersetzung der neutestamentlichen Theologen vor allem antiochenischer Prägung ein entsprechend nomistisches Verständnis vorherrschend war – möglicherweise, weil die theologischen Gegner auf Seiten des Judentums der Partei der Pharisäer, der nicht zuletzt auch Paulus angehörte (vgl. Apostelgeschichte 23,6), waren. Paulus selbst betont hierzu im Philipperbrief:

Ich wurde am achten Tag beschnitten, bin aus Israels Geschlecht, vom Stamm Benjamin, ein Hebräer von Hebräern, nach dem Gesetz ein Pharisäer. Philipper 3,5

Die Betonung, dass er „nach dem Gesetz“ Pharisäer gewesen sei, ist alles andere als zufällig. Bei ihnen handelt es sich um eine torah-treue Partei, die auch im täglichen Leben auf die Einhaltung bestimmter Regeln achteten. Nach allem, was bekannt ist, waren Sadduzäer und Essener, was die legalistische Einhaltung der Gebote der Torah angeht, wohl wesentlich rigoroser. Allerdings sind diese beiden Gruppierungen nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels weitgehend verschwunden; überstanden hatte diese tiefgreifende Katastrophe letztlich aber das Pharisäertum, aus dem nicht nur das rabbinische Judentum hervorgehen sollte, sondern das auch in den theologischen Auseinandersetzungen eine wesentliche Rolle spielen dürfte, die im Hintergrund der Entstehung der Evangelien greifbar sind. Klassisch etwa ist das erkennbar, wenn es um Reinigungsriten geht, die wohl für die Pharisäer von hoher Bedeutung waren, und die in einer berühmten Szene des Markus- wie des Matthäusevangeliums Anlass für ein kurzes Streitgespräch zwischen Jesus und den Pharisäern wird:

Die Pharisäer und einige Schriftgelehrte, die aus Jerusalem gekommen waren, versammelten sich bei Jesus. Sie sahen, dass einige seiner Jünger ihr Brot mit unreinen, das heißt mit ungewaschenen Händen aßen. Die Pharisäer essen nämlich wie alle Juden nur, wenn sie vorher mit einer Handvoll Wasser die Hände gewaschen haben; so halten sie an der Überlieferung der Alten fest. Auch wenn sie vom Markt kommen, essen sie nicht, ohne sich vorher zu waschen. Noch viele andere überlieferte Vorschriften halten sie ein, wie das Abspülen von Bechern, Krügen und Kesseln. Die Pharisäer und die Schriftgelehrten fragten ihn also: Warum halten sich deine Jünger nicht an die Überlieferung der Alten, sondern essen ihr Brot mit unreinen Händen? Er antwortete ihnen: Der Prophet Jesaja hatte Recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte, wie geschrieben steht: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Vergeblich verehren sie mich; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen. Markus 7,1-8 par

Die Szene, der offenkundig ein historischer Moment zugrunde liegt (im Folgenden wird in Markus 7,9 mit dem Wort „Korbán“ ein hebräischer Begriff verwendet, der den griechisch sprechenden Leserinnen und Hörern erklärt werden muss), zeigt, dass der Grundkonflikt um die Bedeutung und Auslegung der Torah schon im Leben Jesu selbst wurzelt. Sie gipfelt in der Frage der Bedeutung der Torah in V. 8, wenn es um die Gegenüberstellung der göttlichen Gebote und „bloß“ menschlicher Überlieferungen geht, die als vermeintlich göttlich geboten ausgegeben werden. So gesehen partizipiert Jesus selbst an einem zeitgenössischen Prozess um das Verständnis und die Bedeutung der Torah, der aus seiner Sicht in einem Satz über das Sabbatgebot gipfelt:

Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. Markus 2,27

Die göttliche Weisung hat also aus Jesu Sicht eine lebensdienliche Funktion, keine unterdrückende. Sie fordert den Menschen heraus, sein Handeln im Licht der göttlichen Weisheit zu hinterfragen. Der Mensch steht in der Mitte. Er ist das Maß aller Dinge. Die Torah feiert deshalb zuallererst das Leben an sich – und mit Blick auf diesen Wert soll der Mensch sein Handeln prägen. Deshalb kann auch heute noch Rabbiner Elischa Portnoy feststellen:

„Doch die Tora ist kein Büchlein, das ängstlichen Bauern Ratschläge gibt. Der siebte Lubawitscher Rebbe, Rabbi Menachem Mendel Schneerson (1902–1994), betonte ständig, dass die Weisheit der Tora für alle Menschen und in allen Generationen gilt. Deshalb ist in diesem Vers eine viel tiefere und wichtigere Botschaft für uns alle verborgen. Wenn wir glauben, dass früher alles besser war, dann sollten wir uns auch fragen, welchen Einfluss wir darauf haben. Kann es sein, dass es auch an uns liegt, dass die moralischen Werte, Ehrlichkeit und andere Tugenden mit der Zeit nachlassen? Unsere Weisen beantworten diese berechtigte Frage mit einem sicheren: Ja – es hat tatsächlich mit uns zu tun!“2)

Hütet das euch von mir zum Hüten Übergebene. Leviticus 18,3O

Irritationen

Nun hat aber Papst Franziskus selbst für Irritationen gesorgt, als er in seiner vierten Katechese zur Reihe über den Galaterbrief, in dem es, wie oben schon deutlich wurde, tatsächlich zentral um die Bedeutung der Torah (für Paulus νόμος) geht, zuerst feststellte:

„Wenn Paulus vom Gesetz spricht, bezieht er sich normalerweise auf das mosaische Gesetz, das Gesetz Mose, die 10 Gebote. Und das Gesetz war in enger Verbindung mit dem Bund Gottes mit seinem Volk, es war eine Vorbereitung. Verschiedenen Texten des Alten Testaments zufolge ist die Tora – wie der hebräische Begriff für das Gesetz lautet – die Sammlung aller Vorschriften und Regeln, die die Israeliten aufgrund ihres Bundes mit Gott zu beachten hatten.“3)

Dass diese Redeweise sprachlich ungenau ist, wird deutlich, wenn hier das „Gesetz Mose“ zuerst auf die 10 Gebote reduziert und dann mit Verweis auf verschiedene Texte des Alten Testamentes als Sammlung von Vorschriften und Regeln, die man zu beachten hatte, charakterisiert wird. Da ist nichts von einer Freude über die Gabe der Weisung zu spüren, sondern jenes legalistische Vorurteil, das dann auch zu einer folgenschweren Feststellung führt, die natürlich von jüdischer Seite nicht unwidersprochen blieb:

„Das Gesetz kommt zwar von Gott, aber es schenkt nicht das Leben.“4)

In folgenden Beschwichtigungen wurde zwar immer wieder darauf verwiesen, der Papst habe sich hier eher an den Worten des Paulus orientiert und zudem betont, dass Paulus ja nicht gegen das mosaische Gesetz gewesen sei. Trotzdem ist die Demarkationslinie zwischen vermeintlich unlebendigem Gesetz und lebendiger Verheißung in Christus und damit auch eine irgendwie doch verurteilende Grenzziehung zwischen Christen und Juden gezogen. Lebt damit der Jahrtausende alte Konflikt, der im Hintergrund des Galaterbriefes steht, weiter fort?

Fortschritte

Für Paulus ging es um das Ganze seiner Theologie und Bewegung. Deshalb polemisiert er. Es ist wie im Wahlkampf: Den Pro-Argumenten folgt die Verächtlichmachung der Gegner. Für Paulus ist klar: Weil Jesus Christus nach der Torah (vgl. Deuteronomium 12,22f) wie ein Gottverlassener starb und doch in der Auferstehung von Gott gerettet wurde, ist von Gott selbst ein Signal gegeben. Die Torah ist nicht mehr der einzige Weg zur Gerechtigkeit von Gott. Es gibt einen weiteren Weg, der dann eben auch den Heiden ermöglicht, zu Gott zu finden, ja, seinem Volk Israel anzugehören. Wie wenig konkurrierend, eher komplementär ergänzend die paulinische Theologie hier denkt, wird in einer bemerkenswerten, wegen der paulinischen Polemik aber immer wieder missverstandenen Ausführung im 2. Korintherbrief zu erkennen, bei der Paulus den „Dienst des Neuen Bundes“ mit dem „Dienst des Alten Bundes“ vergleicht:

Wir haben durch Christus so großes Vertrauen zu Gott. Doch sind wir dazu nicht von uns aus fähig, als ob wir uns selbst etwas zuschreiben könnten; unsere Befähigung stammt vielmehr von Gott. Er hat uns fähig gemacht, Diener des Neuen Bundes zu sein, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig. Wenn aber schon der Dienst des Todes, dessen Buchstaben in Stein gemeißelt waren, so herrlich war, dass die Israeliten das Gesicht des Mose nicht anschauen konnten, weil es eine Herrlichkeit ausstrahlte, die doch vergänglich war, wie sollte da der Dienst des Geistes nicht viel herrlicher sein? Denn wenn schon der Dienst der Verurteilung herrlich war, so ist der Dienst der Gerechtigkeit noch viel herrlicher. Eigentlich ist das Verherrlichte nämlich in diesem Fall gar nicht verherrlicht angesichts der überragenden Herrlichkeit. Wenn nämlich schon das Vergängliche in Herrlichkeit erschien: Die Herrlichkeit des Bleibenden wird es überstrahlen. Weil wir also eine solche Hoffnung haben, treten wir mit großem Freimut auf, nicht wie Mose, der über sein Gesicht eine Hülle legte, damit die Israeliten das Ende des Vergänglichen nicht sahen. Doch ihr Denken wurde verhärtet. Denn bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird; sie wird nicht aufgedeckt, weil sie in Christus beseitigt wird. Bis heute liegt die Hülle auf ihrem Herzen, wenn Mose vorgelesen wird. Sobald er aber zum Herrn zurückkehrt, wird die Hülle entfernt. Der Herr aber ist der Geist; wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. Wir alle aber schauen mit enthülltem Angesicht die Herrlichkeit des Herrn wie in einem Spiegel und werden so in sein eigenes Bild verwandelt, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit, durch den Geist des Herrn. 2 Korinther 3,4-18

Auf den ersten Blick scheint der Text wie eine Verurteilung des Alten zu wirken. Tatsächlich aber bedient Paulus sich hier eines klassischen Schlussverfahrens der pharisäischen, später der rabbinischen Exegese, nämlich des sogenannten qal-wachomer-Schlusses, der auch als Schlussverfahren a minora ad maius bekannt ist. Dabei wird aus einem gegebenen Sachverhalt auf die Bedeutung eines zweiten Sachverhaltes geschlossen. Der gegebene Sachverhalt ist hier das in Exodus 34,30 überlieferte Strahlen des mosaischen Antlitzes, das dazu führt, dass Mose sein Haupt verhüllen muss. Hier ist das der bleibende Glanz und die Herrlichkeit des mosaischen Bundes, der gewissermaßen die Folie bildet, auf dem der Glanz und die Herrlichkeit des Neuen Bundes noch größer strahlen. Auch das wird aus jüdischer Sicht sicher kritisch gesehen werden – und das darf und muss so sein. Nur von einer Verurteilung, Ablehnung oder Überwindung kann gerade nicht gesprochen werden. Beide Bünde strahlen – aus Sicht des Paulus strahlt der in Christus begründete Bund heller. Dass Paulus freilich polemisierend dann doch von einem Verblassen des mosaischen Glanzes spricht, hat keinen Anhalt in der Torah-Überlieferung – und spricht in diesem nicht unbedingt für Paulus. Polemik mag rhetorisch wirksam sein; theologisch zulässig ist sie sicher nicht in jedem Fall. Wenigstens muss man darüber in der Paulusexegese Auskunft geben!

Kein Jota vergeht

Die Bedeutung der Torah bleibt bestehen. Allerdings gibt es in der Interpretation Differenzen. Es wurde schon deutlich, dass zur Zeit Jesu innerhalb des Judentums darum gerungen wurde. Für manche jüdische Gruppierungen war die Torah noch lange kein Identitätsmarker, wie etwa die Soldatengemeinde von Elephantine zeigt. Für viele im Volk Israel aber war sie es längt. Gleichwohl wurde und wird über die Auslegung gestritten. Die unter anderem aus der Torah hervorgehende Halacha ist selbst in der Gegenwart Teil innerjüdischer Auseinandersetzungen, wie etwa gegenwärtig die Diskussion um den israelischen Olympiasieger Artem Dolgopyat zeigt, der nicht jüdisch-orthodox heiraten darf, weil zwar sein Vater Jude, seine Mutter aber keine Jüdin und er damit nach halachischem Verständnis ebenfalls nicht jüdisch ist5). Das ist alles andere als eine Petitesse, es ist eine Identitätsfrage, die die Gemüter in Israel in Wallung bringt6). Gleichwohl betont Josef Schuster, der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland:

„Ob man jüdisch ist oder nicht, richtet sich nach den Regeln der Religion. Doch unabhängig davon, wie man dazu steht, ist für mich etwas ganz anderes entscheidend: Aufrichtigkeit. Wer das eigene Wirken in der Öffentlichkeit über die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft legitimiert, sollte ehrlich sein. Von den Medien kann man nicht erwarten, dass sie genau die Abstammung hinterfragen und sich mit dem seit Jahrtausenden unveränderten jüdischen Religionsgesetz auskennen. Doch die Betreffenden selbst sollten ausgerechnet mit der Konfession nicht umgehen wie mit einem Modetrend. Sie schaden damit der Religionsgemeinschaft. Vor allem aber sich selbst.“7)

Aus dieser Sicht schützen die Weisung der Torah also auch die Identität des Volkes Israel, das sich sonst verlieren würde. Es hat also eine wichtige Funktion. Identität des Ganzen und Lebensweisung für den Einzelnen sind zwei höchst praktische wie spirituelle Momente der göttlichen Weisung – jener Weisung, von der Jesus selbst sagt:

Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Matthäus 5,17-19

Es besteht also auch für Christen kein Grund, an der Würde der Torah zu zweifeln. Im Gegenteil! Eher müssen Christen begründen, warum sie die Gebote der Torah nicht immer halten. Allein ein prominentes Beispiel aus den 10 Geboten würde dann Woche für Woche zur Prüfung. Auch wenn gläubige Christen den Sonntag heiligen, ehren sie doch nicht den Schabbat, den siebten Tag der Woche! Der ist doch für den Menschen da!

Dass Christen es nicht tun, liegt an der Erkenntnis der christlichen Theologie, dass es nicht die Werke der Torah an sich sind, die zur Gerechtigkeit Gottes führen, sondern die innere Haltung, die Hinwendung zu Gott, die sich in einem entsprechenden Handeln zeigt. Nicht Worte zählen, sondern Taten. Täter des Wortes zu werden ist eben jener Impuls, der den Autor des Jakobusbriefes antreibt, vom „Gesetz der Freiheit“ zu reden:

Wer sich aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit vertieft und an ihm festhält, wer es nicht nur hört und es wieder vergisst, sondern zum Täter des Werkes geworden ist, wird selig sein in seinem Tun. Jakobus 1,25

Andererseits:

Wer nur Hörer des Wortes ist und nicht danach handelt, gleicht einem Menschen, der sein eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet: 24 Er betrachtet sich, geht weg und schon hat er vergessen, wie er aussah. Jakobus 1,23-24

Genau deshalb kann auch Jesus in einer an Zynismus grenzenden Weise gegen jene Frommen polemisieren, die glauben, ein bloßes Hören der Torah würde schon reichen. In Matthäus 5,12-48 führt er die Bigotterie einer rein äußerlichen Torah-Frömmigkeit vor Augen. Von manchen christlichen Auslegerinnen und Exegeten wird das oft als Verschärfung des Gesetzes gelesen. Den darin liegenden Widerspruch, den Jesus selbst aufdecken will, erkennen sie offenkundig nicht. Um das nur an einem Beispiel deutlich zu machen. Wenn Jesus sagt:

Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst nicht die Ehe brechen. Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau ansieht, um sie zu begehren, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. Matthäus 5,27-28

dann weiß er natürlich um die menschlichen Reflexe. Wer könnte von sich tatsächlich behaupten, er habe noch nie eine Frau oder einen Mann, die oder der nicht die seine oder ihre ist mit gewissen Hintergedanken angeschaut. Es gehört zum Menschsein dazu, dass das passiert. Es ist absurd, hier eine fromme Überbietung zu sehen. Was Jesus allerdings polemisch aufzeigt, ist die Unmöglichkeit, die Torah in allem sklavisch zu halten, um vor Gott scheinbar rein dazu stehen. Sie ist eben eine Weisung, die dem Leben dienen soll.

Die Verheißung der Auferstehung des Gekreuzigten besteht dann aber darin, dass auch die vor Gott bestehen können, die nach einer oberflächlichen Lektüre und Auslegung der Torah verflucht sind. Nicht die Torah in sich macht heilig, sondern die lebensfreundliche und -dienliche Haltung eines Menschen. Dabei kann die Torah helfen. Auch heute noch. Und ja: Wir Christen sollten auch den Schabbat heiligen! Warum? Weil es dem Leben dient!

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Bildnachweis

Titelbild: Torah Scroll (Spurgeon56) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC BY-SA 4.0.

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1. Vgl. hierzu Konrad Schmid/Jens Schröter, Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften, München 2019, S. 173f.
2. Elischa Portnoy, Die Macht des Einzelnen, Jüdische Allgemeine online, 26.8.2021 – Quelle: https://www.juedische-allgemeine.de/religion/die-macht-des-einzelnen/ [Stand: 29. August 2021].
3. Zitiert nach Silvia Kritzenberger, Papst: Wer das Leben sucht, muss auf Christus blicken, Vatican News online, 11.8.2021 – Quelle: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-08/papst-franziskus-generalaudienz-katechese-galater-gesetz-mose.html [Stand: 29. August 2021].
4. Zitiert nach Silvia Kritzenberger, Papst: Wer das Leben sucht, muss auf Christus blicken, Vatican News online, 11.8.2021 – Quelle: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2021-08/papst-franziskus-generalaudienz-katechese-galater-gesetz-mose.html [Stand: 29. August 2021].
5. Vgl. hierzu Peter Münch, Olympiasieger ohne Ring, Süddeutsche online, 4. August 2021 – Quelle: https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-olympiasieger-zivilehe-1.5371944 [Stand: 29. August 2021].
6. Vgl. hierzu die Aufstellung von Eugen El, Ayala Goldmann und Katrin Richter in der Online-Ausgabe der Jüdischen Allgemeinen vom 26.8.2021 – Quelle: https://www.juedische-allgemeine.de/religion/wer-ist-juedisch/ [Stand: 29. August 2021].
7. Josef Schuster, Nach den Regeln der Religion, Jüdische Allgemeine online, 24. August 2021 – Quelle: https://www.juedische-allgemeine.de/politik/nach-den-regeln-der-religion/ [Stand: 29. August 2021].
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