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Es ist eine beeindruckende Zahl: Rund 75 Prozent der Menschen, die in Deutschland auf Pflege angewiesen sind, werden von der eigenen Familie zu Hause versorgt.1) Bei nur einem Drittel der Fälle wird auf einen externen Pflegedienst zurückgegriffen. Das Verantwortungsgefühl gerät dabei in Spannung mit dem Wunsch, die Eltern nicht bevormunden zu wollen, wenn in der Eltern-Kind-Beziehung sich die Rollen vertauschen. Niemand will dem anderen zur Last werden. Aber in vielen Fällen ist die Pflege durch Angehörige eine Tugend der Not und geschieht aus finanziellen Zwang: „Wenn Sie als Familie nicht selber pflegen und auf Pflegedienste zurückgreifen, werden sie arm,“2) erklärt Thomas Klie, Professor für Gerontologie und Pflegeexperte an der Evangelischen Hochschule Freiburg.
Das soziale System würde zusammenbrechen, wenn der familiäre Zusammenhalt in Deutschland nicht funktionieren würde. Aber diese Stabilität ist nur ein Trugbild. Vor allem Töchter von pflegebedürftigen Personen geben oft ihren Beruf auf, um ihre Eltern zu pflegen. Darunter leidet ihr eigener späterer Rentenanspruch und es ist wahrscheinlich, dass auch sie auf Hilfe durch ihre Kinder angewiesen sein werden. So entwickelt sich die Pflege zu einer sozialen Spirale, die den Weg nach unten weißt.
Respekt
Bereits in einer alten ägyptischen Lehrschrift aus der hellenistischen Zeit heißt es: „Altsein ohne Lebensunterhalt, das ist unwillkommene Lebenszeit.“3) Damals wie heute kann eine solche finanzielle Sackgasse nur durch Respekt und Fürsorge gegenüber dem Alter ausgeglichen werden:
Du sollst vor grauem Haar aufstehen, das Ansehen eines Greises ehren und deinen Gott fürchten. Levitikus 19,32
Altgewordene können über eine wertvolle Lebenserfahrung verfügen, aus der die folgende Generation Gewinn schlagen kann. Aber der im Buch Levitikus geforderte Respekt ist nicht begrenzt auf eine Gegenleistung. Schon Ijob fragte kritisch nach:
Findet sich bei Greisen wirklich Weisheit und ist langes Leben schon Einsicht? Ijob 12,12
Die Verantwortung gegenüber den Altgewordenen, im Besonderen den alten Pflegebedürftigen, ergibt sich nicht aus einer externen Motivation. Nein, weil sie alt sind und am Ende Ihres Lebens Hilfe bedürfen, muss man sie respektvoll behandeln.
Hilfsbedürftigkeit
Mit drastischen Worten beschreibt Barsillai das Altwerden:
Ich bin jetzt achtzig Jahre alt. Kann ich denn noch Gutes und Böses unterscheiden? Kann dein Knecht noch Geschmack finden an dem, was er isst und trinkt? Höre ich denn noch die Stimme der Sänger und Sängerinnen? Warum soll denn dein Knecht noch meinem Herrn, dem König, zur Last fallen? 2 Samuel 19,36
Diese Worte spricht der 80jährige gegenüber König David, der ihm angeboten hatte, ihn in seinem Haus zu versorgen. Barsillai lehnt dieses Angebot ab, aber die Haltung Davids ist das Entscheidende:
Alles aber, was du von mir begehrst, will ich für dich tun. 2 Samuel 19,32
Aber natürlich fällt es einem reichen König einfacher sich zu kümmern, als jemand, der sich finanziell kaum selbst um sich kümmern kann. Zudem beschreibt das Buch der Sprichwörter schon unverblümt, dass die Versorgungspflicht der Kinder gegenüber den Eltern in biblischen Zeiten nicht immer gegeben war:
Wer den Vater misshandelt, die Mutter wegjagt, ist ein verkommener, schändlicher Sohn. Sprichwörter 19,26
Schon damals gab es diejenigen, die sich an den eigenen Eltern nur bereicherten, anstatt sich um sie zu kümmern:
Wer Vater und Mutter beraubt und meint, er tue kein Unrecht, macht sich zum Genossen des Mörders. Sprichwörter 28,24
An den Altgewordenen bereichert man sich nicht, sondern man begegnet ihnen mit Respekt und dem Bewusstsein, ihnen gegenüber eine Versorgungspflicht zu haben.
Ehren!
In biblischer Zeit gab es noch keine staatlichen Sozialsysteme. Es gab keine Sozialversicherung und noch keinen Kapitalismus. Vielleicht gerade deshalb ist in den Schriften des Alten Testaments der Respekt vor den Altgewordenen so wichtig. Wenn eine Gesellschaft diesen Respekt verliert, verliert sie einen Teil ihrer Mitmenschlichkeit, den man eben nicht auf ein paar einzelne Schultern abwälzen kann. Wie kann es sein, dass in Deutschland nur 0.87 Prozent des Bruttoinlandproduktes staatlicherseits in die Pflege investiert werden? Und warum wird Pflege zunehmend privatisiert? Darf die Pflegebedürftigkeit von Mitmenschen dem Renditestreben untergeordnet werden?
Bildnachweis
Titelbild: Pflegefall Demenz, fotografiert von geralt. Lizenz: gemeinfrei.
Einzelnachweis
1. | ↑ | vgl. „Wenn die Eltern älter werden“, Corinna Schöps, Die Zeit, 23.05.2018 [Stand: 18.Mai 2018] |
2. | ↑ | „Wenn die Eltern älter werden“, Corinna Schöps, Die Zeit, 23.05.2018 [Stand: 18.Mai 2018] |
3. | ↑ | Papyrus Insinger, in: H. Brunner, Die Weisheitsbücher der Ägypter, S. 309. |