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Disput·Exegetica

Mensch, Adam! Ein neuer Blick auf die biblische Anthropologie


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Adam und Eva – immer wieder muss man bei Adam und Eva anfangen. Vor allem kirchliche Verlautbarungen neigen dazu, alles immer wieder von Grund auf zu erklären. Das bildet gerade das einfache Volk ungemein. Und biblisch ist es zudem, schreibt doch schon der Evangelist Lukas in seinem Vorwort dem hochverehrten Theophilus als eigentlichem Adressaten seines Evangeliums:

Schon viele haben es unternommen, eine Erzählung über die Ereignisse abzufassen, die sich unter uns erfüllt haben. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, nachdem ich allem von Beginn an sorgfältig nachgegangen bin, es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest. Lukas 1,1-4

Das Lukasprinzip

Lukas ist an akribischer Genauigkeit (ἀκριβῶς – gesprochen: akribôs) gelegen. Deshalb geht er an den Beginn zurück (ἄνωθεν – gesprochen: ánothen), um von dort her alles zu erschließen. Die angestrebte Zuverlässigkeit der Lehre ergibt sich gerade von dieser lückenlosen Narrationskette, die ihre Wurzeln im zuverlässig und authentisch bezeugten Ursprung (οἱ ἀπ` ἀρχῆς αὐτόπται – gesprochen: hoi ap`archês autóptai) haben. Akribie, Bezeugung und Ursprungstreue sind die Werte, die dem Evangelium des Lukas Authentizität verleihen.

Diesem lukanischen Prinzip scheinen auch heute noch sämtliche kirchenamtlichen Dokumente zu folgen. Sie fangen selbst bei Selbstverständlichem immer bei Adam und Eva an, um dann in lückenlos akribischer Dokumentation die Überlieferung (Lukas spricht hier von παράδοσις – gesprochen: parádosis, lateinisch also von traditio) zu dokumentieren. Letzteres produziert einen in ebenso steter Redundanz anwachsenden wie selbstreferentiellen Fußnotenapparat, der das ewig Gleiche nicht neu zu sagen vermag. Der Zauber, der dem Anfang einmal innewohnte, hat sich so verflüchtigt. Diese Art der Überlieferung ermüdet. Die ehemals lebendigmachenden Worte, die zum Aufbruch riefen, sind erstarrt, zementiert in Zitationen, die keine Abweichung mehr dulden. Die Zuverlässigkeit der Lehre ist gewährleistet, bloß hat die Lehre so ihren Geist ausgehaucht. Sie ist sanft verstorben. Nun trägt man ihren blassen Leichnam zur Schau. Niemand ist mehr da, der wie die lukanischen Emmausjünger ausruft:

Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schriften eröffnete? Lukas 24,32

Brandgefahr

Das Herz brennt nicht einfach so. Der Herzensbrand entsteht aus dem gemeinsamen Reden. Weil der Auferstandenen mit den Jüngern redet und ihnen den Sinn der Schriften erschließt, können die Herzen brennen. Dabei geht es nicht um ein Monologisieren. Ganz im Gegenteil: Am Anfang steht eine einfache Frage:

Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Lukas 24,17

Auf die Frage folgt ein Hören. Die Emmausjünger sind daran, dem vermeintlich Fremden Zahlen, Daten und Fakten zu liefern. Der antwortet – mit einer neuen Frage. Und wieder kommt eine Antwort – eine lange Antwort, die die Verse Lukas 24,19-24 umfasst. Der vermeintlich Fremde muss also zuerst einmal viel aufnehmen und hören. Seine Antwort kommt aus dem Hören. Es sind seine Fragen, die ihm das Hören ermöglicht haben. So kommt der Dialog zustande – aus dem Hören auf die Erzählungen der Betroffenen. Darauf gibt er dann punktgenaue Antworten – Antworten, die neu und überraschend, anfangs sogar unverständlich sind. Erst als der Antwort dann eine konkrete Tat folgt – in der Emmauserzählung die danksagende Brotbrechung – wird nicht nur offenbar, wer sich da zu den beiden gesellt hat (vgl. Lukas 24,31); jetzt erkennen auch sie, dass ihnen schon längst das Herz brannte.

Überliefert und ausgeliefert – so geht Dialog

Der Dialog wächst im gegenseitigen Hören und Öffnen. Er wächst im Annehmen neuer Perspektiven – nicht unbedingt in deren unkritischer Übernahme, wohl aber in der Bereitschaft, den eigenen Blickwinkel zum Zwecke der eigenen Erkenntnisbereicherung zu wechseln. Fragen werden gestellt – und beantwortet. Hören geht dem Reden voraus, Hören und Verstehen und Nachdenken, bevor die Worte, die im Verstehen gebildet werden, den Mund verlassen, um im Ohr des Gegenübers Gestalt annehmen zu können. Das setzt Respekt voraus, ein Wahrnehmen des Anderen, eine Offenheit, sich auszuliefern, ja, sich zu überliefern. Genau das ist eigentlich Tradition – eine Überlieferung in die Welt hinein. Kann es wirklich erstaunen, dass für die Überlieferung des Evangeliums im Neuen Testament mit παράδοσις (gesprochen: parádosis) derselbe Begriff verwendet wird wie für die Überlieferung/Auslieferung Jesu? So heißt es etwa in der paulinischen Abendmahlsüberlieferung:

Denn ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert (παρέδωκα – gesprochen: parédoka)1) habe: Jesus, der Herr, nahm in der Nacht, in der er ausgeliefert (παρεδίετο – gesprochen: paredíeto) wurde, Brot, sprach das Dankgebet, brach das Brot und sagte: Das ist mein Leib für euch. Tut dies zu meinem Gedächtnis! 1 Korinther 11,23-24

Überlieferung geht nur im Dialog, der immer auch eine Auslieferung an das Gegenüber ist. Wer hier Mauern aufbaut, kann keinen Dialog führen.

Dialogangst

Nun hat die römische Bildungskongregation ein Dokument veröffentlicht, mit dem sie mit Blick auf die zeitgenössisch diskutierten Gendertheorien eine educational crisis konstatiert2) – genauer:

“It is becoming increasingly clear that we are now facing with what might accurately be called an educational crisis, especially in the field of affectivity and sexuality. In many places, curricula are being planned and implemented which ‘allegedly convey a neutral conception of the person and of life, yet in fact reflect an anthropology opposed to faith and to right reason’. The disorientation regarding anthropology which is a widespread feature of our cultural landscape has undoubtedly helped to destabilise the family as an institution, bringing with it a tendency to cancel out the differences between men and women, presenting them instead as merely the product of historical and cultural conditioning.”3)

Der Text selbst, der seine Argumentation auf fast 30 Seiten in über 57 Einzelartikeln entfaltet, nimmt für sich schon im Untertitel in Anspruch, sich auf einem Pfad des Dialoges (path of dialogue) zu befinden. Tatsächlich kommt das Wort „Dialog“ auch 15mal vor. Da kann es nicht wundern, dass die Autoren auch hinhören. Die englischen Wörter listen und listening kommen nicht nur 12mal vor; sogar ein ganzes Kapitel ist mit „Listening“ überschrieben (Nr. 8-18) und gibt vor, die anthropologischen Theorien des 20. Jahrhunderts wahrzunehmen und ihnen sogar in den points of agreement (Nr. 15-18) zuzustimmen, bevor sie dann einer Kritik unterzogen werden (Nr. 19-23).

Auffällig ist freilich, dass im Listening keine einzige authentische Quelle der anthropologischen Studien des 20. Jahrhunderts zitiert wird. Überhaupt fällt hier das fast vollständige Fehlen von Fußnoten ins Auge, während ab den points of fleißig kirchenamtliche Dokumente und päpstliche Verlautbarungen der letzten drei Päpste Johannes Paul II, Benedikt XVI und Franziskus angeführt werden. Mit Verlaub: Hören geht anders! Das ist zutiefst selbstreferentiell. Hier hört man nur seine eigene Stimme, die man dann zum Wehen des Heiligen Geistes verklärt. Der Auferstandene jedenfalls wagte es in Emmaus, es anders zu machen. Hat man heute anders als damals etwa Angst vor Zahlen, Daten und Fakten? Verweigert man so nicht nachgerade den behaupteten Dialog, indem man sich in die Bastion der Selbstvergewisserung zurückzieht, den man dann zur alleinseligmachenden Wahrheit verklärt, die den Lackmustest der Wirklichkeit gar nicht mehr anzutreten braucht? Wo aber sollen so die Herzen in Brand gesetzt werden? Nur um das klarzustellen: Man muss die Gender-Theories nicht mögen. Man muss ihnen auch nicht unbedingt zustimmen – unkritisch schon gar nicht. Aber wenigstens anhören und wahrnehmen sollte man sie, wenn man sich mit ihnen auseinandersetzt.

Relecture

Wie es sich gehört, fängt natürlich auch und gerade ein vatikanisches Dokument zu gender und sex bei Adam und Eva an. Die Überlieferung identifiziert die beiden als eindeutig männlich und weiblich. Daher erlaubt sich die Überlieferung auch, in steter Redundanz zu behaupten, Gott habe den Menschen als Mann und als Frau erschaffen, also als komplementäre Dualität – mit all den Rollenzuweisungen, die komplementäre Dualitäten so mit sich bringen. Die Frau findet ihre Würde dann in der Fähigkeit Kinder zur Welt zu bringen, Leben zu schenken und das Leben zu versorgen. Der Mann als vermeintlich Ersterschaffener ist dann ihr Haupt. Erst, wenn Mann und Frau zum Zwecke der Lebensweitergabe komplementär interagieren, kommt der Mensch zu sich selbst – wobei sich freilich die Frage stellt, ob dann zölibatär Lebende in Ermangelung entsprechender komplementärer Interaktionen nicht an ihrer eigentlich vom Schöpfer vorgesehenen Bestimmung vorbei leben …

Der Satz „Als Mann und Frau schuf er den Menschen“ steht wie in Stein gemeißelt über der Anthropologie der römisch-katholischen Kirche und all ihren Konsequenzen. Und genau diesen Satz findet man in der Bibel so gar nicht. Im Gegenteil: Die neue Einheitsübersetzung, die 2016 erschienen ist, übersetzt völlig zu Recht und richtig:

Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Bild, uns ähnlich! Sie sollen walten über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere, die auf der Erde kriechen. Gott erschuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes erschuf er ihn. Männlich und weiblich erschuf er sie. Genesis 1,26-27

Es ist die Rede von Menschen, die auf den ersten Blick ungeschlechtlich sind. Die Geschlechtlichkeit kommt erst auf den zweiten Blick ins Spiel – als Adjektiv, nicht als Existential. Und genau diese adjektivische Beschreibung ermöglicht ganz andere Bedeutungsspielräume, als sie die herkömmliche Lesart mit sich bringt.

Wie bedeutsam und alles andere als zufällig die Verwendung von Adjektiven hier ist, zeigt ein Zitat bei Paulus, der offenkundig auf diesen Passus aus dem sogenannten ersten Schöpfungsbericht rekurriert, um die Gleichwürdigkeit aller Menschen bei aller Verschiedenheit, die eben vor Gott aufgehoben erscheint, zu betonen:

Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht männlich und weiblich; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus. Galater 3,28

Juden und Griechen, Sklaven und Freie – Paulus verwendet hier durchgehend Substantive. Diese Reihung wird durch die neutrischen Adjektive „männlich“ (ἄρσεν – gesprochen: ársen) und „weiblich“ (θῆλυ – gesprochen: thêly) durchbrochen. Das ist wohl ebensowenig zufällig geschehen wie die Verwendung der Adjektive in der Schöpfungsgeschichte. Sollte hier möglicherweise in den Texten gar keine absolute Dualität zum Ausdruckgebracht werden, sondern eine viel umfassendere Geprägtheit des Menschen an sich?

Lebensgefährten sind nicht immer Bettgenossen

Ein ähnlicher Eindruck entsteht bei Betrachtung des sogenannten zweiten Schöpfungsberichtes. Dort heißt es über die Erschaffung des Menschen:

Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen. Genesis 2,7

Auch hier erscheint der Mensch, der האדם (gesprochen: ha-adam) noch als völlig ungeschlechtliches Wesen. Er ist weder Mann noch Frau, er ist einfach nur Mensch. Deshalb steht hier wohl auch der Artikel ה (gesprochen: ha). Als Eigenname kommt אדמ (gesprochen: adam) erst in Genesis 4,25 ohne Artikel vor. Die Dualität hingegen entsteht erst durch die Teilung des האדמ, des Menschen, in dem aus der Seite ein Gegenüber geschaffen wird. Die Ureinheit des Adam wird in ein zweigeteiltes Gegenüber entwickelt – und genau darum geht es hier im Unterschied zum sogenannten ersten Schöpfungsbericht:

Gott, der HERR, baute aus der Rippe, die er vom Menschen genommen hatte, eine Frau und führte sie dem Menschen zu. Und der Mensch sprach: Das endlich ist Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch. Frau soll sie genannt werden; denn vom Mann ist sie genommen. Genesis 2,22-23

Während es im sogenannten ersten Schöpfungsbericht um die Komplementarität zum Zwecke der Lebensweitergabe ging, geht es hier um die Gefährtenschaft. Der Mensch soll nicht einsam sein. Er braucht seinesgleichen als Gegenüber. Freilich ist in dieser Gegenüberstellung von איש (gesprochen: isch – Mann) und אשה (gesprochen: ischa – Frau) die Rede4). Im Hebräischen kommt sehr schön die Verwandtschaft zum Ausdruck, die sprachlich noch durch die Ausführung „Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch“ betont wird. Beide: איש und אשה, Mann und Frau, gehen auf den gleichen Ursprung, den האדמ (gesprochen: ha-adam), den Menschen an sich, zurück. Tatsächlich kommt Sexualität hier erst spät in den Blick, wenn der Mensch und sein Gegenüber ihrer Nacktheit und Komplementarität bewusst werden. Im paradiesischen Urzustand war die Komplementarität von Mann- und Frausein belanglos. Gefährtenschaft war wichtig.

Mensch!

Dass Gott mit dem האדם (gesprochen: ha-adam) keinen Mann, sondern einen Menschen erschaffen hat, wird an ganz anderer Stelle bestätigt. Entgegen der allgemein üblichen Auffassung, durch Eva, die zuerst vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse gegessen habe, sei die Sünde in die Welt gekommen, schreibt Paulus unzweideutig:

Wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise der Tod zu allen Menschen gelangte, weil alle sündigten – Sünde war nämlich schon vor dem Gesetz in der Welt, aber Sünde wird nicht angerechnet, wo es kein Gesetz gibt; dennoch herrschte der Tod von Adam bis Mose auch über die, welche nicht durch Übertreten eines Gebots gesündigt hatten wie Adam, der ein Urbild des Kommenden ist. Römer 5,12-14

Einmal abgesehen davon, dass die Erkenntnis von Gut und Böse mit Verweis auf Hebräer 5,11-14 weniger als Sündenfall denn als Ausweis vor Gott mündigen Erwachsenseins taugt, – hier ist von Eva nicht nur nicht die Rede; es geht um das Menschsein an sich. Adam ist der Urtyp des Menschseins überhaupt. Es geht nicht um Mann- und Frausein. Es geht um Menschsein. Genau von hier aus entwickelt Paulus seine Argumentation. Durch den ersten Menschen kam die Sünde in die Welt, durch den neuen Menschen, der in Christus offenbar wird, wird die Sünde getilgt – und zwar ein für allemal:

Wie es also durch die Übertretung eines Einzigen für alle Menschen zur Verurteilung kam, so kommt es auch durch die gerechte Tat eines Einzigen für alle Menschen zur Gerechtsprechung, die Leben schenkt. Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern gemacht worden sind, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden. Das Gesetz aber ist dazwischen hineingekommen, damit die Übertretung mächtiger werde; wo jedoch die Sünde mächtig wurde, da ist die Gnade übergroß geworden, damit, wie die Sünde durch den Tod herrschte, so auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zum ewigen Leben, durch Jesus Christus, unseren Herrn. Römer 5,18-21

Ein Gedankenspiel

Nimmt man all diese biblischen Beobachtungen zusammen, kann man einen Denkversuch wagen, der die bisherige, über Jahrhunderte überlieferte Lesart dem Gerichtshof der Vernunft ausliefert und einer Relecture überzieht. Was, wenn es in den Schöpfungsberichten vordergründig gar nicht um komplementäre Dualitäten, sondern um das Menschsein an sich geht. Zweifelsohne gibt es Männer und Frauen. Zweifelsohne eignen dem Menschen an sich also männliche und weibliche Eigenschaften. Wie aber kann man die Verweigerung der biblischen Urtexte, hier die entsprechenden Substantive zu verwenden und anstatt dessen Adjektive zu nutzen, verstehen? Geht es möglicherweise gar nicht um die Darstellung einer komplementären Dualität, die exklusiv auf die Zeugung von Nachkommenschaft ausgelegt ist? Steht im Vordergrund nicht eher die Gefährtenschaft an sich, die durchaus offen für die Zeugung von Nachkommenschaft mit all den Begleiterscheinungen, die Nachkommenschaften auch kulturell haben, ist? Jesus selbst jedenfalls betont vor allem die Gefährtenschaft an sich:

Habt ihr nicht gelesen, dass der Schöpfer sie am Anfang männlich und weiblich erschaffen hat und dass er gesagt hat: Darum wird der Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden und die zwei werden ein Fleisch sein? Sie sind also nicht mehr zwei, sondern ein Fleisch. Matthäus 19,4-6

Da ist nicht nur nicht von Fruchtbarkeit die Rede; die Ein-Fleisch-Werdung ist ein Wert an sich. Die Schöpfung des Menschen als männlich und weiblich hingegen wird durch die Konjunktion καί (gesprochen: kaí – „und“) von der Aussage über die Zusammenkunft von Mann und Frau getrennt. Es geht hier um zwei Aspekte des Menschseins: der männlich-weiblichen Ausrichtung auf der einen und der Verbindung von Mann und Frau auf der anderen Seite. Das eine ermöglicht das andere, ist aber nicht mit ihm identisch.

Genau hier setzt der Denkversuch an, der biblisch begründet einen wirklichen Dialog mit den anthropologischen Entwürfen der Gegenwart ermöglichen könnte, wobei man auch hier durchaus bei Adam und Eva beginnen kann: Vielleicht weist die Nutzung der Adjektive „männlich“ und „weiblich“ darauf hin, dass der Mensch an sich nie einfach nur Mann und Frau ist, sondern männliche und weibliche Aspekte in unterschiedlichen Gewichtungen in sich birgt. Die Identität des einzelnen Menschen würde sich dann nicht aus einer Dualität ergeben, sondern aus einer Skala zwischen absolut männlich und absolut weiblich. Je mehr männliche Aspekte ein Mensch in sich trägt, um so männlicher wird er erscheinen; je mehr weibliche Aspekte ein Mensch in sich trägt, um so weiblicher wird sie erscheinen. In einem solchen Denkversuch ist dann auch die Ausgeglichenheit männlicher und weiblicher Aspekte denkbar, die eine eindeutige Zuordnung unmöglich macht. Eine solche anthropologische Sichtweise würde dann auch denen, die man gegenwärtig mit dem wohl noch nicht ganz ausgereiften Begriff „divers“ zuordnet – Sprache braucht Zeit, um neue Erkenntnisse auch aussprechbar zu machen –, eine Einbeziehung ermöglichen.

Erprobung

Man könnte die Theorie dieses Denkversuches leicht erproben. Es reicht eben nicht immer, die Hosen runter zu lassen, um ein biologisches Geschlecht zu identifizieren. Wann ist ein Mann denn ein Mann und eine Frau eine Frau? Ab welchem Testosteron- oder welchem Östrogenwert ist das denn eindeutig? Und verändern dies sich nicht mit zunehmendem Lebensalter? Ist die Materie des Unterleibes wirklich geistgewirkt und -relevant?

Es ist Zeit für eine Relecture, wenn der Dialog mit der Welt von heute gelingen soll. Das Wort Gottes scheint da für vieles offener zu sein, als die Autoren vatikanischer Dokumente es zu erkennen vermögen. Sicher: Wenn Mann- und Frausein so eindeutig gar nicht mehr ist, mag auch hier manche vermeintliche Sicherheit ins Wanken geraten. So war es aber immer schon: Von Adam und Eva ausgehend hat man auch über Jahrhunderte behauptet, die Sonne würde sich um die Erde drehen – bis man der Faktizität der Wirklichkeit nicht mehr widersprechen konnte, ohne sich lächerlich zu machen. Hört deshalb, ihr römischen Herren, so ihr denn Herren seid! Hört und nehmt wahr, was da so geforscht und erkannt wird. Prüft es und behaltet das Gute. Nicht allem ist zuzustimmen, nicht alles wird richtig sein. Aber erkennt, dass Gott sein Wort in Herzen von Fleisch und nicht mit schwarzen Strichen auf weißem Papier schreibt. Kommt und redet mit der Welt, denn ohne diesen Dialog wird es einsam um euch werden. Dem ersten Menschen ist das nicht gut bekommen. Werdet zu Gefährten der Menschen, teilt das Leben mit ihnen, die Freude, den Schmerz, die Trauer und die Liebe – auf, dass die Herzen wieder brennen.

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Bildnachweis

Titelbild: Die Erschaffung des Adam (Michelangelo) (Ausschnitbearbeitung: Werner Kleine) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei.

Video: Gott sei Dank! Ein Sündenfall (Dei Verbum direkt) (Katholische Citykirche Wuppertal/Christoph Schönbach) – Quelle: Vimeo – alle Recht vorbehalten.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Sowohl παρέδωκα als auch παρεδίετο gehen auf das Verb παραδίδοναι (gesprochen: paradídonai) zurück, das seinerseits die Verbalform des Substantivs παράδοσις (gesprochen: parádosis) ist.
2. Vgl. hierzu Congregation for catholic education (for Educational Institutions), “Male and female he created them”. Toward a path of dialogue on the question of gender theory in education, Vatican City 2019, Nr. 1 (Quelle: https://www.newwaysministry.org/wp-content/uploads/2019/06/Male-and-Female-Document-June-10-2019.pdf [Stand: 17. Juni 2019]).
3. Congregation for catholic education (for Educational Institutions), “Male and female he created them”. Toward a path of dialogue on the question of gender theory in education, Vatican City 2019, Nr. 1 (Quelle: https://www.newwaysministry.org/wp-content/uploads/2019/06/Male-and-Female-Document-June-10-2019.pdf [Stand: 17. Juni 2019]) – Hervorhebung im Original kursiv. Das Zitat im Text wird dort in Fußnote 1 mit „Benedict XVi, Address to Members of the Diplomatic Corps, 10 January 2011” angegeben.
4. Um das adäquat im Deutschen auszudrücken müsste man von Mann und Männin sprechen.
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