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Ethica·Res publica

Die Rückkehr der Dämonen Traurige Ansichten eines Neutestamentlers über die Situation in Afghanistan


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Wir haben sie im Stich gelassen. Auch wenn man als Pazifist und Kriegsdienstverweigerer den Dienst an der Waffe aus Gewissensgründen verweigert, kann man das Handeln westlicher Staaten in Afghanistan – oder sollte man besser sagen: das Nichthandeln – nicht gutheißen. Man wusste wohl schon bei der US-Invasion 2001, dass das kein einfacher Gang sein würde. Die Erfahrungen Russlands in einem Land, dessen Geschichte und Gesellschaft nicht so einfach mit westlichen Maßstäben beurteilt werden können, hätten eine Lehre sein können. Einfach so in ein Land einzumarschieren, das von Clans und Warlords geprägt ist, und die Demokratie zu implantieren, war ein Plan, der wohl von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Immerhin: Man hatte die Taliban in Schach gehalten und Bildung und ein einigermaßen gedeihliches Zusammenleben ermöglicht. Vor allem Frauen konnten sich entfalten, die sich unter der Herrschaft der Taliban nie allein auf die Straße wagen durften und wenn, dann nur verhüllt unter einer Burka. Dieses Schicksal wird sie jetzt wohl wieder ereilen. Und es wird noch schlimmer kommen, wenn die Taliban, die bereits weite Teile des Landes zurückerobert haben und Mitte August 2021 nur wenige Kilometer vor der Hauptstadt Kabul stehen, wohl keine Gnade mit jenen Afghanen zeigen werden, die die westlichen Truppen unterstützt und ihnen etwa als Übersetzer gedient haben. Nicht dass es je wirklich friedlich gewesen wäre in dem Land am Hindukusch, dessen Relevanz für die Sicherheit der westlichen Hemisphäre weiland von Politikern wie dem damaligen Verteidigungsminister Peter Struck eilfertig betont wurde1). Rund 3.600 getötete Soldaten2) stehen mahnend für die Gefahr, die mehr oder weniger latent permanent in Afghanistan drohte. Und jetzt?

Das Land fällt zurück an die Taliban. Die Zivilbevölkerung sucht, sofern überhaupt möglich, das Heil in der Flucht. Der amtierende Präsident Ashraf Ghani ist ins Ausland geflohen3). Viele, allzu viele, werden es nicht schaffen. Die Intervention des Westens ist nicht erst vor kurzem gescheitert. Die Voraussetzungen und Ziele waren falsch gesetzt: Man kann ein demokratisches System, für das der Westen selbst Jahrhunderte ringen musste, nicht einfach exportieren, ohne sich die Mühe zu machen, lange zu ringen und zu arbeiten. Jetzt scheint es so, als überließe der Westen die Afghanen ihrem Schicksal. Der Abzug wirkt nicht bloß überstürzt; es sieht fast so aus, als würde man einfach abhauen und die Menschen im Stich lassen4). Für die Taliban jedenfalls steht das Land offen. Sie treffen kaum auf Gegenwehr. Das Schicksal der Menschen in Afghanistan scheint besiegelt. Alles zurück auf die Zeit vor der Stunde Null … Die Dämonen kehren zurück!

Die Unterscheidung der Geister

An und für sich ist ein Dämon weder gut noch schlecht. Die Antike sah im Dämon erst einmal eine wertneutrale Energie: Der δαίμων (gesprochen: daímon) ist deshalb häufig ein Geistwesen, das sowohl Engel als auch Teufel, gut oder eben böse sein kann. Er repräsentiert eine Energie5), die zum Wohl oder zum Schaden wirken kann – je nachdem, wie sie eingesetzt wird.
Im Neuen Testament wird das Substantiv δαίμων tatsächlich nur an einer Stelle – und zwar bei der Heilung des Besessenen von Gerasa – verwendet:

Da baten ihn die Dämonen: Wenn du uns austreibst, dann schick uns in die Schweineherde! Matthäus 8,31

Hier wird der negative Aspekt durch das Besessensein der Betroffenen assoziiert. Ähnlich verhält es sich mit dem häufiger zu findenden Verb δαιμονίζειν (gesprochen: daimonízein), das sich immer auf ein Besessensein bezieht. Formal scheint damit also doch ein negativer Aspekt angezeigt zu sein. Anders verhält es sich allerdings mit dem abgeleiteten Derivat δαιμόνιον (gesprochen: daimónion), das im Neuen Testament in einem weiteren Bedeutungsspektrum verwendet wird, und sowohl „fremde Gottheiten“ (wie in Apostelgeschichte 17,18) als auch – durchaus in der dem Wort δαίμων an sich innewohnenden Ambivalenz – allgemein für „Geister“ oder „Zwischenwesen“ verwendet werden kann, wie etwa im Urteil der Menschen über Johannes, das Jesus referiert:

Denn Johannes ist gekommen, er isst nicht und trinkt nicht und sie sagen: Er hat einen Dämon. Matthäus 11,18

Es ist nicht recht einsehbar, warum ein asketisches Verhalten dämonisch in einem negativen Sinn sein soll. Es könnte auch eine geistige Verrücktheit sein, die man irgendwie bewundert und sich doch über sie mokiert.

Tatsächlich verbindet sich das Wort δαίμων hin und wieder mit dem inhaltlich verwandten πνεῦμα (gesprochen: pneûma). Wie δαίμων repräsentiert πνεῦμα an sich eine energetische Kraft, die ebenfalls positiv oder negativ sein kann. Nicht selten wird deshalb ein qualifizierendes Attribut zugesellt: Natürlich ist das πνεῦμα τοῦ θεοῦ (gesprochen pneûma toû theoû – der Geist Gottes) positiv konnotiert; gleichwohl kann das πνεῦμα durch ein entsprechendes Attribut negativ determiniert werden, wie bei der Heilung des Besessenen in der Synagoge von Kafarnaum, von dem es heißt:

In der Synagoge war ein Mensch, der von einem Dämon, einem unreinen Geist, besessen war. Der schrie mit lauter Stimme. Lukas 4,33

Hier verbinden sich semantisch die Begriffe δαίμων und πνεῦμα. Tatsächlich bildet das ganze sogar eine zusammenhängende semantische Phrase (πνεῦμα δαιμονίου ἀκαθάρτου – gesprochen: pneûma daimoníou akathártou), bei der der Dämon durch das Adjektiv „unrein“ negativ qualifiziert und so den Lebensgeist des Menschen beeinflussend dargestellt wird. Wäre ein Dämon in sich immer negativ, hätte es dieses Zusatzes nicht gebraucht.

Dementoren

Ob ein Dämon nun gut oder schlecht ist, zeigt sich an seiner Lebensdienlichkeit. Wenn er dem Leben mit seiner Energie nutzt, ist er ein guter Geist. Schadet er dem Leben oder entzieht er dem Menschen Lebensenergie, ist er ein unreiner Geist. Es kann kaum verwundern, dass von guten Geistern in Heilungsgeschichte kaum die Rede ist, denn Menschen, die voll Saft, Kraft und Energie sind, brauchen keine Hilfe; die, deren Dämonen ihnen die Energie rauben, hingegen schon. Was Jesus in seinem heilenden Handeln also tut, könnte man auch als Energieumwandlung verstehen: Aus negativer Energie wird positive. Das freilich wird nicht mit ein paar warmen Worten geschehen sein, sondern ist eine grundsätzliche Arbeit, die an die Wurzeln der Existenz geht. Deshalb schickt Jesus die einen zurück in ihre wahre Lebensaufgabe und verweigert ihnen die Nachfolge, die eine Flucht vor der eigenen Wirklichkeit wäre, wie es bei dem Besessenen von Gerasa der Fall ist (vgl. Markus 5,19-20 parr), während er andere aus der gesellschaftlichen Isolation in seine Gemeinschaft einlädt (wie etwa die Blinden von Jericho – vgl. Matthäus 20,34). Dass es hingegen nicht mit einem oberflächlichen Exorzismus getan ist, bei dem man einfach die Dämonen mit ein paar an Beschwörungsformeln erinnernden Rezitationen austreibt, macht Jesus selbst deutlich, wenn er sich über eine solche Auffassung fast schon sarkastisch lächerlich macht:

Wenn ein unreiner Geist aus dem Menschen ausfährt, durchwandert er wasserlose Gegenden, um eine Ruhestätte zu suchen, findet aber keine. Dann sagt er: Ich will in mein Haus zurückkehren, das ich verlassen habe. Und er kommt und findet es sauber und geschmückt. Dann geht er und holt sieben andere Geister, die noch schlimmer sind als er selbst. Sie ziehen dort ein und lassen sich nieder. Und die letzten Dinge jenes Menschen werden schlimmer sein als die ersten. Lukas 11,24-26

Eine bloße Austreibung reicht eben nicht. Die lebensfeindlichen Dämonen – hier der unreine Geist – wandert einfach weiter. Schlimmer noch: Er wird zurückkommen und die Dinge schlimmer machen, als sie je waren. Ob das die Exorzisten wissen? Es ist eben nicht damit getan, die lebensfeindlichen Geister einfach aus- und zu vertreiben. Jesus leistete da Wurzelarbeit, eine Therapie, die der Lebensenergie der Menschen eine neue Richtung gab.

Nichts ist gut in Afghanistan

Der Westen ist in Afghanistan dem Wahn erlegen, man könne die bösen Geister vertreiben. Das ist auch gelungen. Die Taliban wurden aus den Städten vertrieben. Bildung und Sicherheit wurden wenigstens ansatzweise möglich. Vor allem Frauen konnten aufatmen und sich endlich entfalten. Der talibanische Dämon aber war nicht besiegt. Er zog sich in wasserlose Gegenden zurück. Er überstand in den Höhlen des Hindukusch. Jetzt kehrt er in das zurück, was ihm vermeintlich gehört – und findet es sauber und geschmückt vor. Er wird noch andere Geister holen und es wird schlimmer werden als je zuvor. Und die Menschen in Afghanistan? Für sie wird nichts mehr sein, wie es war. Der Westen hat sich in vielerlei Hinsicht schuldig gemacht. Die größte Schuld aber trägt er jetzt, weil er für die, die er sich vertraut gemacht hat, die Verantwortung nicht übernimmt. Margot Käßmann behält wohl Recht: Nichts ist gut in Afghanistan6). Gar nichts! Wie können wir mit dieser Schuld leben, wenn Gebete und salbungsvolle Worte nicht helfen werden? Können wir so weitermachen wie bisher?

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Bildnachweis

Titelbild: Detail of burqa (Marius Arnesen) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC BY-SA 2.0.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Vgl. hierzu Peter Struck, Rede des Bundesministers der Verteidigung zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz einer Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan vor dem Deutschen Bundestag am 20. Dezember 2002 in Berlin – Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/bulletin/rede-des-bundesministers-der-verteidigung-dr-peter-struck–784328 [Stand: 15. August 2021].
2. Vgl. hierzu https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2006/umfrage/gefallene-oder-verunglueckte-soldaten-der-westlichen-koalition-in-afghanistan/ [Stand: 15. August 2021].
3. Vgl. hierzu die Meldung vom 15.8.2021 bei tagesschau.de – Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-kabul-ghani-101.html [Stand: 15. August 2021].
4. So Dominic Johnson, Einfach abgehauen. Abzug aus Afghanistan, TAZ online, 15.8.2021 – Quelle: https://taz.de/Abzug-aus-Afghanistan/!5789435/ [Stand: 15. August 2021].
5. Nicht ohne Grund trägt deshalb eine berühmte Batteriemarke den Namen „Daimon“.
6. Vgl. Margot Käßmann, Predigt im Neujahrsgottesdienst in der Dresdner Frauenkirche, EKD, 1.1.2010 – Quelle: https://www.ekd.de/100101_kaessmann_neujahrspredigt.htm [Stand: 15. August 2021].
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