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Disput·Res publica

Nebeneinander in den Frieden Biblische Anstößigkeiten zur Integrationsdebatte


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Die Weisheit des Wortes Gottes liegt nicht im Buchstaben an sich. Vielmehr ist es Schrift gewordene Deutung einer Wirklichkeitserfahrung, in der Menschen Gott selbst erkennen. Diese epistemologische Grundvoraussetzung hat nicht nur Auswirkungen auf die Art und Weise im Umgang mit dem Wort Gottes. So verbietet es sich, die Bibel wie ein Rezeptbuch zur Hand zu nehmen und in vermeintlicher Buchstabentreue Handlungsanweisungen abzuleiten. Gerade weil die Schrift in sich aus gesättigter und reflektierter Erfahrung erwächst wird diese Erfahrung als solche überlieferbar. Die alten Deutungen von Erfahrungen können nun Zeit und Raum überbrücken und in anderen Zeiten und Räume Reflexionsangebote für neue Erfahrungen bieten, die sich bei näherem Hinsehen als vielleicht gar nicht so neu erweisen. Gerade hierin liegt die bleibende Aktualität und Relevanz der Bibel auch in der Gesellschaft der Gegenwart – nicht, weil sie schon fertige Lösungen enthielte, sondern weil sie zeigt, dass Menschen im transzendenten Bewusstsein der Wirksamkeit Gottes in der Geschichte fähig sind, immer wieder neu den Frieden zu erringen.

Wer sich nicht integrieren will, muss eben fühlen

Nicht erst seit den Flüchtlingsbewegungen, die durch Krieg und Not im Nahen Osten und in Afrika veranlasst wurden, wird in der europäischen Gesellschaft die Frage der Integration diskutiert. Spätestens seit der Anwerbung von Gastarbeitern in den frühen 1960er Jahren und durch die durch den zweiten Weltkrieg bedingten Aussiedlungsbewegungen Deutschstämmiger aus Osteuropa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist das Thema von bleibender Aktualität. Gerne spricht man von „Menschen mit Migrationshintergrund“ – ohne dass dabei zwischen Anlass, Herkunft und Ziel unterschieden würde. Allein die Wendung „Menschen mit Migrationshintergrund“ zeigt schon an, dass es mit den angestrebten Integrationsbemühungen nicht allzu weit her ist. Niemand kommt auf die Idee, Schweizer, Franzosen oder Niederländer, die in Deutschland leben und arbeiten, als „Menschen mit Migrationshintergrund“ zu bezeichnen. Kommen die Neubürgerinnen und Neubürger hingegen aus Polen, Kasachstan oder der Türkei ist die Wendung als Sammelbegriff schnell bei der Hand.

Vor allem bei Menschen aus Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, wie sie in diesen Zeiten aufgrund der Flüchtlingsbewegungen verstärkt Aufnahme in Europa suchen, fällt aufgrund der kulturellen Diversitäten den Alteingesessenen in Europa ein offener Integrationsansatz schwer. Es wird eine Hauruck-Anpassung erwartet, die eher einer Assimilation denn einer echten Integration gleichkommt. Das Fremde in den Fremden ist offenkundig zu verstörend und herausfordernd, als das eine offene Begegnung überhaupt möglich wäre. Hinzu kommt gegenwärtig ein durch die Anschläge in Ansbach1) und Würzburg2) intendierter politischer Aktionismus, der vorgibt, Sicherheit zu schaffen und doch nur Symptome kreiert, die es gesellschaftlich so kaum gibt. Zwei verbrecherische Attentäter diskreditieren nicht nur Millionen Menschen, die von Gewalt eben dieser Art aus ihrer Heimat vertrieben wurde; sie setzen auch Ängste frei, die in irrationalen Forderungen Ausdruck findet. So fordern manche behände ein Burkaverbot3) zur Beschleunigung der Integration (wobei zu fragen ist, ob das Burkatragen – ungefragt des in der Burka intendierten höchst problematischen Frauenbildes – in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt ein nennenswertes Thema darstellt)4). Ungefragt bleibt freilich nicht nur die Frage nach der Grenze solcher Art von Bekleidungsvorschriften. Wo fängt etwa die Vollverschleierung an, wo hört sie auf? Gilt das nur für ein spezifisches Kleidungsstück, das dann näher definiert werden müsste (womit das Verbot durch Abänderungen unterlaufen werden könnte) oder für jede Art der Verhüllung? Unreflektiert bleibt auch die Frage, ob Verbote überhaupt Integration fördern können5).

Integrationsmischmasch

Ähnliches gilt auch für das Bestreben, Integration per Gesetz zu verordnen. Dazu gehört auch die geplante „Wohnsitzauflage“ für Flüchtlinge6). Diese Auflage sieht vor, dass künftige anerkannte Flüchtlinge und Asylbewerber gesetzlich verpflichtet sind, für die Dauer von bis zu drei Jahren in dem Bundesland ihrer jeweiligen Erstzuweisung ihren Wohnsitz zu nehmen7). Damit soll verhindert werden, dass sich bestimmte Gruppen in einzelnen Religionen zusammenballen. Vielmehr sollen die

„Länder (…) die Wohnsitzauflage so einsetzen, wie es für eine verbesserte Integration erforderlich ist. Die Wohnsitzauflage ermöglicht es, anerkannte Flüchtlinge angemessen auf Städte und ländliche Gebiete zu verteilen. Integration wird leichter steuerbar, wenn Flüchtlingen ein geeigneter Wohnsitz zugewiesen werden kann.“8)

Die Vermeidung des Entstehens von Vierteln, in denen sich bestimmte Bevölkerungsgruppen mit einem ähnlichen kulturellen Hintergrund niederlassen, soll also der Integration dienen. Ungefragt bleibt hier nicht nur, dass die zeitliche Befristung solche Ballungstendenzen bestenfalls aufschiebt, nicht aber verhindert. Auch die Idee, dass eine allgemeine Vermischung schon integrationsfördernd sei, bedürfte einer näheren Untersuchung. Ist nicht gerade das Aufeinanderprallen verschiedener kultureller und auch religiöser Gepflogenheiten der Anlass für das Entstehen tiefsitzender Konflikte? Der Einheimische, der sich im Tunesienurlaub gerne im Ferienclub hinter hohen Mauern verschanzt und die Begegnung beim folkloristischen Multi-Kulti-Fest auf dem Markplatz schon als höchsten Ausdruck seiner interkulturellen Toleranz feiert, reagiert doch schon meist irritiert, wenn Muslime den Wunsch äußern, an ihre Mosche ein Minarett zu bauen und den Muezzin rufen zu lassen. Integration entsteht eben nicht durch unreflektierte Durchmischung. Integration ist eben keine Folklore. Integration heißt, dass Fremde bleiben.

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Ein Etikett ändert nicht den Inhalt.

Miteinander ...

Bereits das frühe Christentum kennt die Konflikte, die aus dem Streben nach einem oberflächlichen Miteinander entstehen. Der große Konflikt einer Kirche aus Heiden- und Judenchristen findet eine vermeintliche Lösung im sogenannten Apostelkonzil. In einer autobiografischen Notiz im Galaterbrief erinnert sich Paulus an die Beschlussfassung:

Von denen aber, die das Ansehen hatten – was sie früher gewesen sind, daran liegt mir nichts; denn Gott achtet das Ansehen der Menschen nicht -, mir haben die, die das Ansehen hatten, nichts weiter auferlegt. Im Gegenteil, da sie sahen, dass mir anvertraut war das Evangelium an die Heiden so wie Petrus das Evangelium an die Juden – denn der in Petrus wirksam gewesen ist zum Apostelamt unter den Juden, der ist auch in mir wirksam gewesen unter den Heiden -, und da sie die Gnade erkannten, die mir gegeben war, gaben Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden, mir und Barnabas die rechte Hand und wurden mit uns eins, dass wir unter den Heiden, sie aber unter den Juden predigen sollten, nur dass wir an die Armen dächten, was ich mich auch eifrig bemüht habe zu tun. Galater 2,6-10

In der Apostelgeschichte hingegen wird von der sogenannten „Jakobusklausel“ berichtet:

Darum meine ich [Jakobus, WK], dass man denen von den Heiden, die sich zu Gott bekehren, nicht Unruhe mache, sondern ihnen vorschreibe, dass sie sich enthalten sollen von Befleckung durch Götzen und von Unzucht und vom Erstickten und vom Blut. Apostelgeschichte 15,19-20

Konkret bedeutete das:

Denn es gefällt dem Heiligen Geist und uns [denen, die am Apostelkonzil teilnahmen, WK], euch weiter keine Last aufzuerlegen als nur diese notwendigen Dinge: dass ihr euch enthaltet vom Götzenopfer und vom Blut und vom Erstickten und von Unzucht. Wenn ihr euch davor bewahrt, tut ihr recht. Apostelgeschichte 15,28-29

Es geht also im Miteinander von Juden- und Heidenchristen letztlich um eine Speisevorschrift. Eine Petitesse möchte man meinen, die aber nicht von allen Heiden so ohne Weiteres geteilt worden sein dürfte, wie die Antwort des Paulus auf eine Anfrage aus der korinthischen Gemeinde zum Verzehr von Götzenopferfleisch in 1 Korinther 10,14-33 zeigt; offenkundig haben manche Heidenchristen sich über das Verdikt des Apostelkonzils hinweggesetzt und auch Paulus rekurriert in seiner Antwort nicht auf die Beschlüsse dieses Treffens, das die Einheit von Juden- und Heidenchristen stärken sollte.

... in den Konflikt

Das Miteinander von Juden- und Heidenchristen war an sich schon schwer vermittelbar. Die Begegnung mit Heiden bedeutet für einen frommen Juden, kultisch unrein zu werden. Nach einem Bericht in der Apostelgeschichte bedarf es schon einer veritablen Vision, die Petrus für den Umgang mit Heidenchristen öffnet (vgl. Apostelgeschichte 10,9-16). In dieser Vision erfährt er:

Was Gott für rein erklärt, nenne du nicht unrein! Apostelgeschichte 10,15

Und tatsächlich überwindet sich Petrus nach dem Apostelkonzil und tritt in die Mahlgemeinschaft mit den Heiden in Antiochien ein (vgl. Galater 2,12a). Gleichwohl scheint dieses Vorgehen auf fragilem Grund zu ruhen, denn ein kleiner Anlass genügt, um die Tischgemeinschaft aufzuheben:

Als sie [die Leute des Jakobus, WK] aber kamen, zog er sich zurück und sonderte sich ab, weil er die aus dem Judentum fürchtete. Galater 2,12b

Die Erfahrung des Petrus lehrt, dass ein oberflächliches Miteinander noch keine echte Integration ist. Im Gegenteil – es begründet einen manifesten und handgreiflichen Konflikt:

Als aber Kephas nach Antiochia kam, widerstand ich [Paulus, WK] ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage gegen ihn. Galater 2,11

Wie aktuell diese Erfahrung auch heute noch ist, kann man in Flüchtlingsheimen beobachten, in denen ohne Rücksicht auf die religiösen Bedürfnisse Christen und Muslime gemeinsam untergebracht werden. Während es für Christen überhaupt kein Problem darstellt, Schweinfleisch zu essen, ist das für Muslime völlig undenkbar. Der Tisch in der Gemeinschaftsküche, auf dem die Christen das Schweinfleisch zubereitet haben, ist aus muslimischer Sicht unbrauchbar geworden – er ist nicht mehr حلال (gesprochen: halal). So entstehen damals und heute noch massive Konflikte aufgrund von Speisevorschriften, bei denen niemand wirklich sagen kann, wer die Verantwortung trägt. Es ist das unreflektierte Miteinander, das den Konflikt begründet.

Rose is a rose is a rose is a rose Gertrude Stein

Der Weg zum Frieden ...

Die Frage nach dem Weg zu einem friedvollen Miteinander hat Paulus immer wieder umgetrieben. Zu unterschiedlich waren nicht nur die Bedürfnisse zwischen Juden- und Heidenchristen. Auch innerhalb der Gemeinden mussten immer wieder neue Lösungen gefunden werden. Für Paulus gilt dabei prinzipiell das „Recht der Schwächeren“:

So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben. Darum lasst uns nicht mehr einer den andern richten; sondern richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite. Ich weiß und bin gewiss in dem Herrn Jesus, dass nichts unrein ist an sich selbst; nur für den, der es für unrein hält, ist es unrein. Wenn aber dein Bruder wegen deiner Speise betrübt wird, so handelst du nicht mehr nach der Liebe. Bringe nicht durch deine Speise den ins Verderben, für den Christus gestorben ist. Es soll doch nicht verlästert werden, was ihr Gutes habt. Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist. Wer darin Christus dient, der ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. Darum lasst uns dem nachstreben, was zum Frieden dient und zur Erbauung untereinander Zerstöre nicht um der Speise willen Gottes Werk. Es ist zwar alles rein; aber es ist nicht gut für den, der es mit schlechtem Gewissen isst. Es ist besser, du isst kein Fleisch und trinkst keinen Wein und tust nichts, woran sich dein Bruder stößt. Römer 14,12-21

Aus der Sicht des Paulus ist denjenigen, die sich an Speisevorschriften halten müssen, mit Rücksicht zu begegnen. Für den Glaubenden ist klar, dass es um mehr geht, als um Essen und Trinken. Es geht darum, Christus zu dienen und das Reich Gottes zu verkünden. Der rote Faden ist die Liebe, die eben der nicht erweist, der die Bedürfnisse der anderen nicht achtet. Der auf Freiheit gründende Glauben derer, die Christus nachfolgen, wäre eine neue Sklaverei des Gesetzes entstanden, die sich darin äußert, diejenigen, die diese Freiheit für sich noch nicht annehmen können, unter Zwang zu setzen. Es ist aber nicht der Mensch, der hier zu entscheiden hat, sondern Gott allein. Deshalb ist denen, die noch nicht die Freiheit und Stärke des wahren Glaubens gefunden haben, mit Rücksicht und ehrlicher Aufrichtigkeit zu begegnen:

Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen. Der eine glaubt, er dürfe alles essen; wer aber schwach ist, der isst kein Fleisch. Wer isst, der verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, der richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen. Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten. Der eine hält einen Tag für höher als den andern; der andere aber hält alle Tage für gleich. Ein jeder sei in seiner Meinung gewiss. Wer auf den Tag achtet, der tut’s im Blick auf den Herrn; wer isst, der isst im Blick auf den Herrn, denn er dankt Gott; und wer nicht isst, der isst im Blick auf den Herrn nicht und dankt Gott auch. Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Römer 14,1-8

... beginnt mit einer notwendigen Differenzierung

Eine zwanghafte Einheit ist also für Paulus nicht nur nicht denkbar. Er selbst hatte nicht nur in Antiochien seine persönliche Erfahrung mit der Schwachheit des Petrus gemacht; mindestens in der korinthischen Gemeinde musste er sich mit innergemeindlichen Konflikten mit „Starken“ und „Schwachen“ auseinandersetzen (vgl. 1 Korinther 10,4-33). Im 1. Korintherbrief findet er in diesem Zusammenhang die bemerkenswerte Formel:

„Alles ist erlaubt“ – aber nicht alles nützt. „Alles ist erlaubt“ – aber nicht alles baut auf. 1 Korinther 10,23

Diese Formel impliziert eine konsequente Handlungsanweisung:

Erregt keinen Anstoß, weder bei den Juden noch bei den Griechen noch bei der Gemeinde Gottes, so wie auch ich jedermann in allem zu Gefallen lebe und suche nicht, was mir, sondern was vielen dient, damit sie gerettet werden. 1 Korinther 10,32-33

Die Rücksichtnahme auf die anderen, die auch die Fremden sind, ist umfänglich und existentiell. So schreibt Paulus wenige Verse vorher:

Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, damit ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin -, damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin in dem Gesetz Christi -, damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, um an ihm teilzuhaben. 1 Korinther 9,19-23

Der Kampf um die Freiheit

Paulus gibt als Grund für sein Verhalten seine Freiheit an, die darin ihren höchsten Ausdruck findet, dass er sich „selbst jedermann zum Knecht“ macht. 1900 Jahre, bevor Rosa Luxemburg in einer Randnotiz einem Manuskript davon spricht, Freiheit sei immer die Freiheit der Andersdenkenden, sieht Paulus den höchsten Ausdruck von Freiheit in der Selbstbegrenzung und dem Zwangverzicht.

Es besteht kein Zweifel, dass ein solches Freiheitsstreben den meisten Zeitgenossen paradox anmutet. Gerade in Zeiten, in denen die eigene Freiheit – mehr gefühlt als real – durch die Herausforderungen der Flüchtlingsbewegungen eingeschränkt zu werden scheint, ist der Ruf nach „Law and Order“ stark, der sich in Forderungen nach Gesetzen äußert, die das Fremde aus dem öffentlichen Bereich bannen sollen. Damit aber verlören nicht nur diejenigen ihr Recht auf Freiheit, die man auf diese Weise zur Integration zwangsmotivieren möchte; letztendlich würden auch die hier Geborenen ihre Freiheit einbüßen: Müsste man nicht mit Blick auf eine gesteuerte Wohnungszuweisung zum Zwecke der Integration auch schauen, dass immer genügend Deutsche in den Vierteln wohnen?

Wahrhaftig, Freiheit bedeutet eine große Herausforderung, denn bei aller notwendigen Differenzierung in die Bedürfnisse von Juden und Griechen, Starken und Schwachen, Frauen und Männern, Freien und Sklaven weiß Paulus auch:

Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. Galater 3,28

Die gleiche Würde, die alle Menschen verbindet, macht bei näherem Hinsehen auch eine Differenzierung notwendig9).

Nebeneinander miteinander

Die Forderungen des Paulus zur Rücksichtnahme sind hehr. Er selbst mag sie beherzigt haben. Petrus aber scheitert schon an sich selbst und seinen guten Vorsätzen. Integration kann gelingen. Sie kann aber nicht mit Gesetzen herbeigezwungen werden, indem man die Identität der Fremden – und die äußert sich auch heute schon nicht in der Burka! – aus dem öffentlichen Leben verbannt, damit sie nicht mehr stört. Wahre Integration bräuchte eine Haltung der Rücksichtnahme und des Aufeinanderzugehens auf allen Seiten. Wer aber ist dazu wirklich fähig?

Vielleicht wäre es für den Anfang besser, statt eines erzwungenen Miteinanders, das nur Konflikt aus Unverständnis produziert, ein moderates Nebeneinander zu gestalten, das ein friedvolles Kennenlernen über Jahre, ja vielleicht Jahrzehnte ermöglicht. Wohl nicht ohne Grund werden nach der großen Sintflut den Nachkommen Noahs, aus denen die Völker und Nationen der Erde entstehen sollten, in Genesis 10 jeweils klare Siedlungsgebiete zugewiesen. Es scheint fast so, als wollte Gott den durch die Sintflut eingetretenen Neustart der Geschichte mit einer großen Differenzierung verbinden, die das große Durcheinander vor der Sintflut (vgl. Genesis 6,1-8) vermeiden sollte. Es ist das Nebeneinander, das Frieden ermöglicht.

Wer den Geschichten der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten zuhört, der hört Geschichten von einem friedvollen Nebeneinander, als Christen, Sunniten, Alewiten, Drusen und Schiiten jeweils in ihren Vierteln wohnten, sich untereinander besuchten, dann aber wieder in ihre Viertel nach Hause gingen. Der Krieg begann, als der Westen Anfang der 1990er und später der 2000er Jahre seine Idee von Toleranz und Einheit in die fein austarierten Gesellschaften trug.

Aber!

Aber dann entstehen doch Gettos! – ruft jetzt sicher manche Leserin und mancher Hörer – Und Gettos wollen wir nicht!

Einmal abgesehen davon, dass auch heute bereits durch Gentrifizierung und andere Maßnahmen homogen strukturierte Wohnviertel entstehen, die faktisch nichts anderes sind als Gettos, ist die Rücksichtnahme und Achtung der jeweiligen kulturellen Bedürfnisse eine Voraussetzung für ein friedvolles Miteinander. Ein Getto ist nicht in sich verwerflich, wenn es nicht einsperrt, sondern der Entfaltung und Ermöglichung von Lebensmöglichkeiten dient. Das ist eine neue Perspektive auf einen aus Erfahrung geprägten Begriff. Eine solche Differenzierung aber würde bereits jetzt in den Flüchtlingsunterkünften, in denen undifferenziert Christen, Sunniten und Schiiten zusammen wohnen müssen, helfen, manchen Konflikt zu vermeiden. So muss die Gesellschaft wohl aufs Neue lernen, dass Kriminalität bekämpft werden muss – egal welcher Art sie ist –, nicht Fremdsein.

Eine biblische Grunderfahrung

Eine Grunderfahrung der frühen Christen überliefert Paulus im Römerbrief:

Wir aber, die wir stark sind, sollen das Unvermögen der Schwachen tragen und nicht Gefallen an uns selber haben. Jeder von uns lebe so, dass er seinem Nächsten gefalle zum Guten und zur Erbauung. Denn auch Christus hatte nicht an sich selbst Gefallen, sondern wie geschrieben steht: »Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.«10) Denn was zuvor geschrieben ist, das ist uns zur Lehre geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben. Der Gott aber der Geduld und des Trostes gebe euch, dass ihr einträchtig gesinnt seid untereinander, Christus Jesus gemäß, damit ihr einmütig mit “einem” Munde Gott lobt, den Vater unseres Herrn Jesus Christus. Darum nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob. Römer 15,1-7

Diese Erfahrung bleibt durch alle Zeiten bestehen – das Unvermögen der Schwachen zu tragen und nicht Gefallen an sich selbst zu finden. Die Erfahrung des Paulus lehrt, dass das Fremdsein in Christus sein Ende findet. Aber selbst das braucht, wie Petrus erfahren muss, seine Zeit. Vielleicht bleiben die Fremden fremd. Aber die Fremden werden bleiben.

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Bildnachweis

Titelbild: geht doch – CL. (Ausschnittbearbeitung: W. Kleine) – Quelle: CL. / photocase.de – lizenziert als photocase Basislizenz

Bild 1: Obstsalat – Franzworks – Quelle: Franzworks / photocase.de – lizenziert als photocase Basislizenz

Zitat: Gertrude Stein, Sacred Emily (1913)

Video: Katholische Citykirche Wuppertal – Blutökumene – im Glauben über Grenzne – Quelle: Vimeo

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1. Vgl. hierzu etwa https://www.tagesschau.de/inland/ansbach-117.html [Stand: 13.8.2016].
2. Vgl. hierzu etwa https://www.tagesschau.de/inland/wuerzburg-staatsanwaltschaft-105.html [Stand: 13.8.2016].
3. Siehe hierzu http://www.faz.net/aktuell/politik/staat-und-recht/burka-debatte-geht-in-die-naechste-runde-14383189.html [Stand: 13.8.2016].
4. Vgl. hierzu das sicher nicht repräsentative, dafür umso deutlicher Statement von Kapitän Schwandt unter https://www.facebook.com/kapitaenschwandt/videos/672855019535408/ [Stand: 13.8.2016].
5. Vgl. hierzu auch die Fragestellung von A. Posener, Doch, die Burka passt in eine liberale Demokratie, in: Welt online (15.8.2016), Quelle: http://www.welt.de/debatte/kommentare/article157661909/Doch-die-Burka-passt-in-eine-liberale-Demokratie.html [Stand: 15.8.2016].
6. Vgl. hierzu J. Drebes/B. Marschall, Wer gut Deutsch kann, darf bleiben, RP-online (25.5.2016) – Quelle: http://www.rp-online.de/politik/integrationsgesetz-fragen-und-antworten-zur-wohnsitzauflage-fuer-fluechtlinge-aid-1.5999047 [Stand: 13.8.2016].
7. Vgl. J. Drebes/B. Marschall, Wer gut Deutsch kann, darf bleiben, RP-online (25.5.2016) – Quelle: http://www.rp-online.de/politik/integrationsgesetz-fragen-und-antworten-zur-wohnsitzauflage-fuer-fluechtlinge-aid-1.5999047 [Stand: 13.8.2016].
8. Deutscher Städtetag, Wohnsitzauflage für verbesserte Integration einsetzen – Kommunen bei Integrationsaufgaben finanziell entlasten (25.5.2016) – Quelle: http://www.staedtetag.de/presse/mitteilungen/077847/index.html [Stand: 13.8.2016].
9. In ähnlicher Weise verweist der Kirchenrechtler Philipp Thull mit Blick auf die Seelsorge an Flüchtlingen aus der katholischen Ostkirche auf die notwendige Differenzierung und Beachtung der je eigenen Prägemale aufmerksam, die eine voreilige Vereinnahmung durch bestehende Ortsgemeinden kritisch hinterfragt. Vgl. hierzu P. Thull, Miteinander glauben, füreinander da sein. Kirchenrechtliche Anmerkungen zur Seelsorge an Flüchtlingen, die einer katholischen Ostkirche angehören, in: Pastoralblatt für die Diözesen Aachen, Berlin, Hildesheim, Köln und Osnabrück, 2016 (68. Jahrgang), S. 247-254.
10. Psalm 69,10
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1 Reply

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