Ultimatum, unbefristeter Streik, ausfallende Züge, geschlossene Kindertagesstätten – scheinbar gibt es in Deutschland eine neue Streikkultur.1) Während frühere Tarifverhandlungen vergleichsweise konfliktarm verliefen, entwickeln sich die Streiks in jüngster Vergangenheit immer mehr zu Arbeitskämpfen. Zum Beispiel im Streik der Lokführer sind die Fronten grundlegend verhärtet, eine Schlichtung kommt gar nicht mehr in Betracht. Der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL), Claus Weselsky, verneint jede Möglichkeit auf Schlichtung: „Wir lassen nicht über Grundrechte schlichten.“2) Und der Personalvorstand der Deutschen Bahn, Ulrich Weber hält entgegen: „Die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) sagt immer Nein. Egal was vorgeschlagen wird, die GDL-Funktionäre wollen offensichtlich gar nicht reden oder verhandeln.“3) Diese neue Streikkultur scheint eine Kultur der verhärteten Fronten zu sein. Auch in der Bibel wurde gestreikt. Auch dort war der Streik nicht durch eine positive Verhandlungsführung geprägt.
Gott als Gewerkschaftsführer
In Ägypten ist aus der Familie Jakobs ein Volk geworden (Exodus 1,1-9). Israel als Volk wurde jedoch vom Pharao eine schwere Arbeitslast auferlegt: Sie sollten für den Pharao die Vorratsstädte Pitom und Ramses bauen. Dieses Arbeitsverhältnis war von Anfang an auf Unterdrückung abgezielt – das Volk Israel wurde von seinem Arbeitgeber, dem Pharao versklavt (Exodus 1,14). Die Klage über die harte Arbeitslast wurde von Gott gehört (Exodus 3,17) und Gott wurde sozusagen zum ersten Gewerkschaftsführer. Jedoch zielte sein Handeln nicht auf einen besseren Tarifvertrag, sondern auf die Arbeiterbefreiung:
Der Herr sprach: Ich habe das Elend meines Volkes in Ägypten gesehen und ihre laute Klage über ihre Antreiber habe ich gehört. Ich kenne ihr Leid. Ich bin herabgestiegen, um sie der Hand der Ägypter zu entreißen und aus jenem Land hinaufzuführen in ein schönes, weites Land, in ein Land, in dem Milch und Honig fließen.
Was jedoch folgte, war in einem ersten Schritt ein klassischer Arbeitskampf. Nachdem Moses als von Gott Beauftragter die Forderungen dem Pharao vorlegt, verwirft der Pharao sie und erschwert den Israeliten zusätzlich noch die Arbeit:
Am selben Tag noch gab der Pharao den Antreibern der Leute und den Listenführern die Anweisung: Gebt den Leuten nicht mehr, wie bisher, Stroh zum Ziegelmachen! Sie sollen selber gehen und sich Stroh besorgen. Legt ihnen aber das gleiche Soll an Ziegeln auf, das sie bisher erfüllen mussten. Lasst ihnen davon nichts nach!
Der Pharao ist nicht bereit zu verhandeln und Gott greift zu härteren Bandagen im Arbeitskampf: den zehn Plagen. Das ägyptische Volk muss leiden, damit die Israeliten von ihrer Arbeitslast befreit werden können. Das Ende der Geschichte ist bekannt, Gott setzt sich als Gewerkschaftsführer bzw. Arbeiterbefreier durch. Noch mehr: Gott tritt für das Volk Israel an die Stelle des Pharao. Er macht Israel zu seinem Volk:
Ich nehme euch als mein Volk an und werde euer Gott sein. Und ihr sollt wissen, dass ich Jahwe bin, euer Gott, der euch aus dem Frondienst in Ägypten herausführt.
Gott als „Arbeitgeber“
Doch der nächste Streik lässt nicht lange auf sich warten. Überdrüssig der Bedingungen der Wüstenwanderung rebellieren die Israeliten gegen Gott und Mose:
Es [das Volk] lehnte sich gegen Gott und gegen Mose auf und sagte: Warum habt ihr uns aus Ägypten heraufgeführt? Etwa damit wir in der Wüste sterben? Es gibt weder Brot noch Wasser. Dieser elenden Nahrung sind wir überdrüssig.
Die Nahrung, derer die Israeliten überdrüssig sind, ist das Manna (Exodus 16). Gemäß der biblischen Erzählung fiel es während der Wüstenwanderung nachts vom Himmel auf den Wüstenboden und konnte morgens von den Israeliten als Wegzehrung eingesammelt werden. Das Manna wird im Buch Exodus als etwas „Feines, Knuspriges“ (Exodus 16,14) beschrieben, das „weiß wie Koriandersamen“ war und „wie Honigkuchen“ schmeckte (Exodus 16,31). Doch trotz der gesicherten Grundversorgung stellt sich das Volk Israel gegen Gott und sehnt sich zurück zum Pharao nach Ägypten (vgl. Exodus 16,3-4). Gegen die Forderungen des Volkes reagiert Gott mit aller Härte: Er setzt keine Streikbrecher ein, er sendet Giftschlangen.
Da schickte der Herr Giftschlangen unter das Volk. Sie bissen die Menschen und viele Israeliten starben.
Dadurch wird der Streik beendet. Angesichts der Strafmaßnahme bekehrt sich das Volk wieder zu Gott. Sie sehen ein, dass sie sich mit ihrem Aufbegehren unberechtigt gegen Gott, ihren Versorger und Beschützer, gestellt haben.
Miteinander, nicht gegeneinander
Weder die Zehn Plagen noch Giftschlangen sind heute angemessene Mittel in einem Streik. Aber aus beiden Erzählungen ergeben sich Lehren für eine Streikkultur: (1.) Die Erzählung aus den Buch Numeri verdeutlicht, dass Forderungen berechtigt sein müssen. (2.) Die Reaktion des Pharaos im Buch Exodus zeigt an, dass eine Erschwerung der Arbeitsbedingungen einen Streik nicht verstummen lassen kann. Eine Streikkultur muss auf einem guten Verhältnis zwischen den streitenden Parteien beruhen. Auch ein Streit setzt eine funktionierende Beziehung zwischen den sich gegenüberstehenden Parteien voraus.
Im Brief an die Epheser wird das Verhältnis zwischen Sklaven und ihren Herren auf eine für die heutige Leserschaft sehr drastische Art und Weise thematisiert:
Ihr Sklaven, gehorcht euren irdischen Herren mit Furcht und Zittern und mit aufrichtigem Herzen, als wäre es Christus.
Dieser Satz scheint eine völlige Unterordnung des Sklaven unter seinen Herrn zu verlangen. Doch der Vergleich mit Christus zeigt bereits an, dass der Unterordnung eine höhere Instanz beigestellt ist. Was es bedeutet, dem Herrn zu dienen als wäre es Christus, erklärt der folgende Satz:
Arbeitet nicht nur, um euch bei den Menschen einzuschmeicheln und ihnen zu gefallen, sondern erfüllt als Sklaven Christi von Herzen den Willen Gottes!
Ein Sklave Christi erfüllt den Willen Gottes – des Gottes, der in der Bibel für Gerechtigkeit steht (vgl. Exodus 34,6-7). Der Sklave soll sich der Gerechtigkeit unterordnen. Dies setzt voraus, dass sein Herr gerecht handelt:
Ihr Herren, handelt in gleicher Weise gegen eure Sklaven! Droht ihnen nicht! Denn ihr wisst, dass ihr im Himmel einen gemeinsamen Herrn habt. Bei ihm gibt es kein Ansehen der Person.
Die Grundvoraussetzung für ein gutes Verhältnis zwischen Sklaven und Herren ist der gegenseitige Respekt. Auch der Herr des Sklaven ist nicht die letzte Richterinstanz, sondern er muss sich ebenso wie der Sklave vor Gott als höhere Instanz der Gerechtigkeit rechtfertigen.
Eine neue Streikkultur
Ohne Zweifel gibt es viele Ungerechtigkeiten in der heutigen Arbeitswelt und die immer häufiger stattfinden Streiks sind ein Symptom dafür. Es gibt eine neue Kultur, zu der der Streik dazugehört. Aber was ist diese neue Streikkultur? Sie müsste geprägt sein, von einem gesunden Verhältnis von Forderungen und Möglichkeiten, sie müsste geprägt sein von einem gewollten Miteinander der Streikparteien. Die Gegensätze sind in einem Streik offensichtlich, aber man sollte sich auch bewusst sein, dass man ein gemeinsames Ziel verfolgt: Gerechtigkeit für beide Seiten.
Bildnachweis
„Warnstreik der GDL am Leipziger Hauptbahnhof (Juli 2007).“ von bigbug21. Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 2.5 über Wikimedia Commons.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Hagen Lesch, der Leiter des Kompetenzfeld Tarifpolitik und Arbeitsbeziehungen am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln hat in einem Interview auf die Frage „Müssen sich die Deutschen darauf einstellen, dass öfter gestreikt wird?“ folgendes geantwortet: „Ja. Außerdem beobachten wir bereits seit einigen Jahren, dass sich in Deutschland die Streikkultur ändert. Die Streikdauer hat sich mehr als verdoppelt. Zwischen 2000 und 2009 dauerte ein Streik pro Streikendem 1,3 Tage, zwischen 2010 und 2014 waren es fast drei Tage. Gleichzeitig beteiligen sich weniger Beschäftigte an einem einzelnen Arbeitskampf, lange Massenstreiks sind seltener geworden. Während große Gewerkschaften wie die IG Metall viele Beschäftigte nur noch punktuell und kurz zum Warnstreik aufrufen, werden Arbeitskämpfe wie bei der Bahn immer dominanter. Hierbei legen wenige Beschäftigte die Arbeit mehrere Tage nieder.“ (Tarifexperte Hagen Lesch: “Die Streikkultur ändert sich”, Badische Zeitung, 08.05.2015 [Stand: 8. Mai 2015]). |
2. | ↑ | GDL-Bundesvorsitzender Claus Weselsky über den neuerlichen Bahnstreik im Interview mit dem ZDF-Magazin “WISO”, ZDF Presseportal, 05.05.2015 (Stand: 08. Mai 2015). |
3. | ↑ | Absage der GDL: Große Enttäuschung – Gewerkschaft sagt immer nur Nein, Presseinformation der Deutschen Bahn, 07.05.2015 (Stand: 08. Mai 2015). |
Sehr schöne Analogie! Aber ich habe eine provokante Frage: Was hält mich als Leser davon ab, aus dieser Geschichte einfach die folgende Lehre zu ziehen und quasi die volle befreiungstheologische Keule zu schwingen: “Gott ist mit den Streikenden! (Es sei denn, man streike gegen Gott selbst…)”?
Ich denke da auch an Äußerungen aus dem Neuen Testament, die sich anscheinend ähnlich positionieren, etwa Markus 10,25: “Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.”
Man nehme Jakobus 5,1-6 und diverse Propheten hinzu, und schon hat man eine wundervolle Rechtfertigung, um aus der Auszugsgeschichte abzuleiten, dass ein Streik nicht genug ist – nur eine Revolution kann helfen!
Danke für die provokante Frage, die eine Kernfrage des Bibellesens betrifft! Wer entscheidet darüber, welche Auslegung des Textes richtig ist?
Wer die Auslegungsgeschichte der Bibel betrachtet, sieht, dass mit der Bibel in der Hand Kriege geführt wurden und zugleich der Pazifismus aus den Heiligen Schriften wichtige Impulse empfangen hat. Mit der Bibel in der Hand können Revolutionen angeführt werden, aber sie kann auch zur Unterdrückung missbraucht werden.
Meiner Ansicht nach sind daher zwei Aspekte beim Bibellesen wichtig:
1.) Jede Auslegung muss sich vor dem Text rechtfertigen. Der Text in seinem Wortlaut gibt die Grenzen der Auslegung vor. Zum Beispiel kann ich bei der Auslegung der Exodus-Erzählung sagen: Gott ist auf der Seite der Unterdrückten. Ich kann aber nicht sagen, dass sich daraus ableitet, dass es Gott gewollt ist, dass sich die Unterdrückten von sich aus sich über die Unterdrücker erheben (z.B. in einer Revolution) und selbst zu Unterdrückern werden. Innerhalb der Exodus-Erzählung ist es wichtig wahrzunehmen, dass Gott der Handelnde ist.
2.) Der Text selbst müsste der Anwalt seines Inhalts sein – aber der Text selbst ist stumm und erhält erst durch seine Leser eine Stimme. Daher ist es wichtig, dass sich eine Auslegung des Textes dem Dialog mit anderen Auslegungen stellt. Dazu benötigt es eine Auslegungsgemeinschaft. Unterschiedliche Auslegungen müssen gegenseitig abgewogen werden und es muss diskutiert werden, welche Auslegung sich am besten am Text bewährt.