Kapitel
Ethica·Res publica

Ohnmächtiger Verzicht und hilflose Trauer Der verlorene Sinn des Fastens

Am Aschermittwoch beginnt wieder die österliche Bußzeit, im Volksmund auch Fastenzeit genannt. Fasten, das war in der jüngeren Vergangenheit für viele ein befristeter Verzicht auf verschiedene Angebote des modernen Lifestyles. Man verzichtet dann zeitlich begrenzt auf den extensiven Gebrauch des Smartphones oder die Nutzung sozialer Medien, um etwa mehr Zeit für die Familie zu haben. Andere verzichten vorübergehend auf den Konsum von Alkohol – nicht selten, um sich am Ende der Fastenzeit eines medizinischen Checkups zu unterziehen und so die Blutwerte in einem angenehmeren Licht erscheinen zu lassen. Manche betreiben das Fasten als Wellness in Form des Heilfastens zum Zwecke der Entschlackung des eigenen Körpers. So oder so ist das Fasten moderner Zeitgenossen von einer bemerkenswerten Haltung geprägt: Der temporäre Verzicht soll etwas bringen: Zeit, Gesundheit, Wohlbefinden. An einem solchen Streben ist an und für sich nichts, was es prinzipiell zu kritisieren gäbe. Allerdings kann man doch fragen, warum das, was uns sonst vom Leben, der Gesundheit, der Familie oder dem Wohlbefinden abhält, nicht generell unterlassen wird. Was für einen Sinn soll darin liegen, sieben Wochen ohne (oder auch weniger) ein vermeintlich schädliches Verhalten auszuhalten, wenn man bei dessen grundsätzlicher Aufgabe nicht ein generell angenehmeres Leben gewinnen würde. Wenn die sozialen Medien einen kaputt machen, reichen doch nicht ein paar Wochen digital Detoxing, um danach wieder in den alten Trott zu fallen. Wenn die Befürchtung besteht, der eigene Umgang mit dem Alkohol könne die Blutwerte in einem schlechten Licht erscheinen lassen, ist der vorübergehende Verzicht zur Aufhübschung derselben eher eine Form des Selbstbetruges denn der Gesundheitsförderung, wenn man nach sieben Wochen wieder 45 Wochen mit folgen lässt. Eine solche Form des Fastens ist eine Lifestyleerscheinung. Man kann ihr folgen. Sie schadet sicher nicht, aber sie ändert auch nichts.

Die Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern erscheint als christliche Lebensweise. Folgen die Christgläubigen darin nicht gerade dem Beispiel Jesu, der ja selbst 40 Tag und Nächte in der Wüste gefastet hatte? Zumindest berichten Matthäus und Lukas in ihren Evangelien davon, dass Jesus in dieser Wüstenzeit nichts aß und hungerte. Ob der Verzicht freiwillig war, erscheint angesichts der Bemerkung, dass Jesus „vom Geist“ in die Wüste geführt wurde, eher zweifelhaft. Jesus sieht sich eher einer existentiellen Situation gegenüber, die er von sich aus so nicht gesucht hat. Sie ist ihm aufgegeben. Der Verzicht ist nicht freiwillig – und er führt in eine Situation der Versuchung. Ob es sich dabei um Phantasien oder Halluzinationen oder um eine zutiefst spirituelle Erfahrung handelt, darüber kann man trefflich streiten. In der Bildsprache der Bibel tritt jedenfalls eine Figur auf, die als Satan bezeichnet wird. Satan ist schon im Alten Testament im Buch Hiob weniger Teufel als Ankläger, eine Figur, die die Ziele eines Menschen prüft – und dabei die menschliche Freiheit auf die Probe stellt. Im Falle Jesu ist das eindrücklich: Gott ist doch mit Dir. Du hast Hunger? Mache aus Steinen Brot, dann hast Du zu essen. Du willst Macht? Nimm sie dir! Bei all dem erweist sich der Versucher als bibelkundiger Prüfer. Für alles findet er in der Bibel eine Schriftstelle. Die Versuchung, die aus dem Fasten erwächst, ist wohl groß für Jesus. Aber er widersteht ihr – und geht gereift und verändert aus dem erzwungenen Verzicht hervor.

Erzwungener Verzicht und Chance zur Reifung

Die Menschen früherer Generationen kannten das, dass am Ende des Winters kaum mehr Vorräte da waren und das Fasten alternativlos war. Zweifellos ließ sich der erzwungene Verzicht leichter ertragen, wenn man ihn der Nachahmung Jesu widmete. Nun ist der moderne Mensch bisher selten in der Situation eines erzwungenen Verzichtes gewesen. Tatsächlich kennt die Kirche – wenigstens die römisch-katholische Kirche – eigentlich auch keine dauerhafte Fastenzeit. Streng genommen sind nur der Aschermittwoch und der Karfreitag Tage der Abstinenz und des Fastens – und das vor allem deshalb, weil beide Tage im Zeichen des Todes stehen: Der Aschermittwoch erinnert an die eigene Sterblichkeit des Menschen, während der Karfreitag den Kreuzestod Jesu vergegenwärtigt. Fasten ist neben Weinen und Klagen von alters her ein Ausdruck der Trauer im Angesicht des Todes. Deshalb fasten David und seine Männer im Angesicht des Todes Sauls im Alten Testament:

Da fasste David sein Gewand und zerriss es und mit ihm alle Männer um ihn. 12 Sie klagten, weinten und fasteten bis zum Abend wegen Saul, seines Sohnes Jonatan, des Volkes des HERRN und des Hauses Israel, die unter dem Schwert gefallen waren. 2 Samuel 1,11-12

Deshalb rufen die Niniveniten im Buch Jona ein Fasten aus, weil ihnen der Tod vor Augen steht:

Jona begann, in die Stadt hineinzugehen; er ging einen Tag lang und rief: Noch vierzig Tage und Ninive ist zerstört! 5 Und die Leute von Ninive glaubten Gott. Sie riefen ein Fasten aus und alle, Groß und Klein, zogen Bußgewänder an. Jona 3,4-5

Deshalb fastet der Beter in selbst für seine Feinde, die es ihm aber nicht danken und Gutes mit Bösem vergelten:

Ich aber zog ein Bußkleid an, als sie erkrankten, und quälte mich ab mit Fasten. Nun kehre mein Gebet zurück in meine Brust. Psalm 35,13

Fasten – das ist in der Bibel alles andere als eine Wellnessübung. Fasten ist ein Zeichen der Trauer – über den Tod, über geschichtliches oder persönliches Leid, Trauer über den Verlust von Frieden und Wohlstand. All dem steht der Mensch ohnmächtig gegenüber. Das Fasten ist dann eine Form des Protestes und eine Selbstermächtigung, gegen die Ohnmacht anzugehen, ein non-verbaler und höchst körperlicher Hilfeschrei in der Hilflosigkeit1).

Seit gut einer Woche ist in der Ukraine Krieg. Der Krieg ist uns nahe gekommen. Er ist noch nicht da, aber er ist nicht mehr fern. Das Grollen der Explosionen ist noch nicht hörbar. Und doch ist alles anders. Mit dem Krieg kommen Leid und Tod. Sie herrschen schon in der Ukraine. Die europäische Ordnung ist von jetzt auf gleich eine andere geworden. Innerhalb kürzester Zeit haben sich die Verhältnisse geändert. Die Europäische Union findet zu neuer Einigkeit und damit auch Wege, die Flüchtenden aufzunehmen. Waffen werden geliefert, der Etat der Bundeswehr wird aufgestockt. Dinge, die undenkbar waren, wurden innerhalb weniger Tage Realität. Die Ohnmacht ist mit Händen greifbar. Da wird gebetet, es werden Kerzen entzündet und es wird demonstriert. Große Zeichen sind das für die Solidarität mit der Ukraine. Noch so viele blau-gelbe Fahnen in den sozialen Medien, noch so viele Kerzen in den Kirche, noch so viele Gebetsstürme und Solidaritätsbekundungen werden nicht helfen, wenn den Worten keine physischen Taten folgen. Vor uns liegt eine große Fastenzeit, eine Zeit des Verzichts. Der Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System oder die mögliche Drosselung von Gaslieferungen, wird jede und jeder konkret im eigenen Portemonnaie spüren. Das hat sich niemand ausgesucht. Man kann an dieser Ohnmacht verzweifeln – oder dem Verzicht einen Sinn geben.

Zerreißt eure Herzen, nicht eure Kleider Joël 2,13

ruft der Prophet Joël aus. Fasten heißt auch jetzt wieder gewinnen. Wenn wir nämlich zum Verzicht bereit sind, können wir auch jetzt die Welt verändern. Der Frieden in der Ukraine und in der Welt ist nicht nur mit Worten zu gewinnen. Es ist Fastenzeit.

Dieser Beitrag wurde in leicht veränderter Form als Gastbeitrag in der Westdeutschen Zeitung vom 1. März 2022 veröffentlicht.

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Bildnachweis

Titelbild: Fastened to the top (Crusty Da Klown) – Quelle: flickr – lizenziert als CC0

Einzelnachweis   [ + ]

1. Siehe hierzu auch Till Magnus Steiner, Ein Hilfeschrei in der Hilflosigkeit: Die alttestamentliche Dimension des Fastens, feinschwarz.net, 16.3.2017 – Quelle: https://www.feinschwarz.net/ein-hilfeschrei-in-der-hilflosigkeit-fasten/ [Stand: 1. März 2022]
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