Am 24. April 1915 – vor hundert Jahren – begann die Deportation der Armenier aus Konstantinopel. Von 1915-1917 kam es durch Massaker und Todesmärsche zum Tod von mehreren hunderttausend Armeniern.1) Die türkische Regierung bestreitet, dass es sich um einen beabsichtigten und systematischen Genozid durch das Osmanische Reich gehandelt habe.2) In der armenischen Sprache hingegen wird die massenhafte Tötung der Armenier durch das Osmanische Reich mit dem Begriff aghet bezeichnet: „die große Katastrophe“. Dieser Begriff und die Erinnerung an den Völkermord ist Teil der armenischen Identität geworden.3) Sie fordern von der Türkei, dass die Regierung die große Katastrophe offiziell als Völkermord anerkennt und in der Türkei ein würdiges Gedenken an die Opfer ermöglicht wird.
In Deutschland wurde am 23. April in einem gemeinsamen ökumenischen Gottesdienst der Armenischen Apostolischen Kirche, der Deutschen Bischofskonferenz, der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen dem “Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen” gedacht.4) In den Tagen vor dem Gottesdienst und im Angesicht des 100. Jahrestags der ersten Deportation von Armeniern aus Konstantinopel wurde immer wieder die Forderung laut, den hundertausendfachen Tod der Armenier offiziell als „Völkermord“ zu bezeichnen. Zu dieser Forderung hat Bundespräsident Joachim Gauck im Gedenkgottesdienst angemerkt: „Achten wir aber darauf, dass sich diese Debatte nicht auf Differenzen über einen Begriff reduziert. Es geht vor allem darum – und sei es nach 100 Jahren – die planvolle Vernichtung eines Volkes in ihrer ganzen schrecklichen Wirklichkeit zu erkennen, zu beklagen und zu betrauern. Sonst verlieren wir den Kompass für unsere Orientierung und die Achtung vor uns selbst.“5)
Gedenken und Erinnern
Dem Völkermord an den Armeniern zu gedenken, hat einen öffentlichen Charakter; es handelt sich um ein öffentliches politisches Statement. Joachim Gauck weist zurecht darauf hin, dass es aber auch um das Beklagen und das Betrauern der Geschehnisse gehen muss. Die Ereignisse sollten emotional erinnert werden, sie sollten uns im Innersten betroffen machen. Gedenken und Erinnern gehören in diesem Kontext eng zusammen – was bereits die Bibel lehrt. Der hebräische Begriff זכור (gesprochen: zachor) verdeutlicht, dass Gedenken und Erinnern keinen Selbstzweck darstellt, sondern immer eine Tendenz zur Tat beinhaltet, eine eigene Positionierung bedeutet mitsamt einer Hoffnungsperspektive.
Erinnern als Forderung und Identität
Im Buch Deuteronomium wird das Volk Israel immer wieder aufgefordert zu erinnern und nicht zu vergessen, dass Gott sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit hat; zum Beispiel:
Vergiss nicht die Ereignisse, die du mit eigenen Augen gesehen, und die Worte, die du gehört hast. Lass sie dein ganzes Leben lang nicht aus dem Sinn! Präge sie deinen Kindern und Kindeskindern ein!
Im Angesicht der vielfachen Ermahnungen wird deutlich, dass nichts weniger selbstverständlich ist als das Erinnern und immer das Vergessen die Identität bedroht. Denn Erinnern bedeutet die eigene Identität zu verstehen und zu prägen und zugleich verbindet es die Generationen miteinander. Hinzukommt, dass die Erinnerung eine Begründung für das eigene Handeln darstellt – schon die Bibel weiß, dass man aus der Vergangenheit lernen kann und soll:
Einen Fremden sollst du nicht ausbeuten. Ihr wisst doch, wie es einem Fremden zumute ist; denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde gewesen.
Die Erinnerung an vergangenes Unheil soll Ungerechtigkeit in der Zukunft verhindern. Es geht der Bibel dabei um eine lebenswerte Zukunft, die durch Erinnerung ermöglicht wird. Im Judentum hat dieses Bewusstsein eine starke Ausprägung erfahren. Jedes Jahr zu Pessach, dem Fest des Auszugs Israels aus Ägypten, gilt für jeden Juden: „In jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet, sich vorzustellen, er sei selbst aus Ägypten gezogen.“6)
Zukunft statt Vergangenheit
Aber ist es möglich, dauernd im Angesicht der Vergangenheit zu leben? Der Blick zurück von Lots Frau auf ihre Heimatstadt, deren Zerstörung sie entkommen war, verwandelt sie in eine Salzsäule (Genesis 19,26). Gott zerstört ihre alte Heimat „wegen der Schuld der Stadt“ (Genesis 19,15) und nur Lot, seine Frau und ihre Töchter werden gerettet. Zwei Engel befehlen Lot vor der Zerstörung:
Bring dich in Sicherheit, es geht um dein Leben. Sieh dich nicht um und bleib in der ganzen Gegend nicht stehen!
Lots Frau aber blickt zurück und wird so zum Sinnbild für die zerstörerische Dimension der Erinnerung. Sie erstarrt in ihrer Vergangenheit. Diese Geschichte verdeutlicht ohne Zweifel, dass auch Vergessen zum Leben dazugehört. Genau genommen ist das Leben durch Erinnern und Vergessen geprägt und beides definiert, wer man ist.
Gefährlich wird eine Erinnerung, wenn sie in der Vergangenheit verharrt, denn Erinnern ist ein dynamischer Prozess. Dies wird besonders deutlich, wenn man betrachtet, wie in der Hebräischen Sprache das Verhältnis von Zeit und Geschichte bestimmt wird. Im hebräischen Denken liegt die Zukunft „hinter“ und die Vergangenheit „vor“ einem. Das Wort לפני („vor“; gesprochen: lifnej) leitet sich von dem hebräischen Wort für Gesicht ab und gibt an, dass etwas einem vor dem Gesicht steht, sich also im Angesicht der Person befindet. Das Wort אחר („hinter/danach“; gesprochen: achar) leitet sich von dem hebräischen Wort für „Rücken“ ab. Die Vergangenheit liegt dem Menschen somit vor seinem Angesicht und die Zukunft liegt ihm/ihr im Rücken. Man sieht also in die Vergangenheit aber geht in die Zukunft.
Erinnerung als Beziehung
Die Betrachtung der Vergangenheit führt zur Hoffnung auf die Zukunft, der man entgegengeht. Die Erinnerung kann hierbei zur letzten Hoffnung werden, wie es die Worte des Psalmisten in Psalm 10 verdeutlichen. Er bittet Gott:
Herr, steh auf, Gott, erheb deine Hand, vergiss die Gebeugten nicht!
Die Bitte des Psalmisten verdeutlicht, dass die Erinnerung auch ein Akt der Beziehung ist. Vergessen ist die Verneinung einer Beziehung. Der Beter fleht, dass Gott sich ihm wieder zuwendet. Wenn Gott sich in der Bibel „erinnert“, dann handelt er. Die Befreiung der Israeliten aus Ägypten beginnt damit, dass Gott sich erinnert:
Gott hörte ihr Stöhnen [das Stöhnen der Israeliten] und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob.
Sich zu erinnern bedeutet, sich selbst zu einer Person oder einem Ereignis in Beziehung zu setzen.
Erinnerung als Auftrag
Zurückblicken, sich in Beziehung setzen, emotional beteiligt sein und gestaltend in die Zukunft gehen – so definiert die Bibel, was Erinnerung ist. In der Debatte um den Völkermord an den Armeniern geht es nicht nur darum, wie der Tod der Hundertausenden bezeichnet wird, sondern es geht darum, wie die Ereignisse erinnert werden und was diese Erinnerung für die Zukunft bedeutet.
Bildnachweis
„Genocide March 1975“ aus der Sammlung von Alexander-Michael Hadjilyra. Eigenes Werk. Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 über Wikimedia Commons.
Einzelnachweis
1. | ↑ | Die Zahl der Todesopfer lässt sich heute nur noch schätzen: Die von Wissenschaftlern angegebenen Zahlen schwanken zwischen 200.000 und 1.500.000 getöteten Armeniern; vgl. die Angaben hier. |
2. | ↑ | “Wir haben keinen Genozid begangen”. Ein Gespräch mit Hikmet Özdemir, dem Chefhistoriker der türkischen Regierung, zur Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern, Die Welt, 15.07.2005, (Stand: 24. April 2015) |
3. | ↑ | Vgl. den Text der Armenischen Gemeinde zu Berlin zum 24. April als Gedenktag: Armenische Gemeinde zu Berlin e.V., Gedenktag 24. April (Stand: 24. April 2015) |
4. | ↑ | Vgl. Pressemitteilung der EKD, Ökumenischer Gottesdienst im Berliner Dom anlässlich der Erinnerung an den Völkermord an Armeniern, Aramäern, Assyrern und Pontos-Griechen (Stand: 24. April 2015) |
5. | ↑ | Zitiert nach: Gedenk-Gottesdienst: Gauck spricht klar von Völkermord an den Armeniern, Spiegel Online, 23.04.2015 (Stand 24. April 2015) |
6. | ↑ | So steht es in der Haggada, dem liturgischen Buch zu Feier des Pessachfestes. |
Lesenswerter Artikel in der New York Times:
Remembering the Armenian Genocide.
Descendants of survivors — Turks and Armenians — share their families’ stories”
siehe http://www.nytimes.com/interactive/2015/04/23/world/europe/armenia-readers-stories.html?_r=0