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Die physische Dimension Gottes Exegetische Reflexionen über den Heiligen Geist


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Nicht jeder Aspirant spricht in der Kraft Gottes. Das behauchte Sprechen wird in Kirchenkreisen meist dann bemüht, wenn der Geist Gottes schon im Luftstrom durch die erschlafften Stimmritzen wehen soll. Mit diesem phonologischen Artefakt soll bewusst oder unbewusst die eigene Geisterfülltheit unterstrichen werden. Dabei gehört das aspirierende Reden, also das behauchte Sprechen eher zu den performativen Weichmachern, die eine Verniedlichung bewirken, eine Selbstverzwergung, die im besseren Fall Schutzbedürftigkeit hervorruft, im schlechteren Fall – unterstützt durch den schiefgelegten Kopf, der die Halsschlagader als Angriffspunkt freilegt – dazu führt, nicht wirklich ernst genommen zu werden. Was im zärtlichen Liebesspiel um die Zuneigung des Gegenübers gewollte Reaktionen und Effekte evoziert, wirkt in der Verkündigung des vom Kreuzestod Auferstandenen gerade wegen dieser unbewussten Assoziationen meist eher peinlich als geisterfüllt. Dabei ist der Geist Gottes, jener allgewaltige Hauch doch ein Lebendigmacher, eine Macht, die nach außen treibt und zu standhafter Verkündigung führt, ein lautes Brausen, das geradezu physisch von der Schöpfung Besitz ergreift:

Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder. Und alle wurden vom Heiligen Geist erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden, wie es der Geist ihnen eingab. Apostelgeschichte 2,1-4

Wenig greifbar?

Oft hört man, der Heilige Geist, jene dritte Person in der Einheit Gottes, sei schwer fassbar. Davon kann in der Schilderung des Pfingstereignisses ganz und gar nicht die Rede sein. Der Geist Gottes erscheint als Naturgewalt, als manifeste Macht, als alles ergreifende Kraft, kein säuselnder Hauch, sondern eher als Sturm, der neue Schneisen schlägt. Die himmlische Böe erfüllt das ganze Haus, mehr noch die ganze Stadt, denn:

In Jerusalem aber wohnten Juden, fromme Männer aus allen Völkern unter dem Himmel. Als sich das Getöse erhob, strömte die Menge zusammen und war ganz bestürzt; denn jeder hörte sie in seiner Sprache reden. Apostelgeschichte 2,5-6

Der Geist von dem hier die Rede ist, ist aufrüttelnd, offenbar, laut und gewaltig. Er ist nicht greifbar in dem Sinne, dass man sich seiner bemächtigen könnte. Ganz im Gegenteil: Er ermächtigt – und ist darin höchst konkret!

Eine Urgewalt des Lebens

Tatsächlich führt wohl die deutsche Begrifflichkeit die Potenz des Missverständlichen mit sich. Die Rede von Gottes „Geist“ assoziiert Unkonkretes, Unwirkliches, wenig Fassbares. Gespenster sind Geister, nebulöse Gestalten. Diese Konnotationen sind den biblischen Sprachen fremd. So tragen sowohl das hebräische רוח (gesprochen: ruach), das im Tanach immerhin 378mal vorkommt und den göttlichen Geist bezeichnet, als auch das griechische πνεῦμα (gesprochen: pneûma) primär die Bedeutung „Wind“ oder „Atem“ in sich. Dieser Zusammenhang wird mit Blick auf das hebräisch רוח schon in der Gebeine-Vision des Propheten Ezechiel deutlich. Dort werden die vier Himmelswinde gerufen, um den Gebeinen neues Leben einzuhauchen:

So spricht GOTT, der Herr: Geist, komm herbei von den vier Winden! Hauch diese Erschlagenen an, damit sie lebendig werden! Ezechiel 37,91)

Auch Lukas nimmt darauf Bezug, wenn er in der Apostelgeschichte in der Darstellung des Pfingstereignisses die Herabkunft des göttlichen Geistes als naturgewaltigen Sturm darstellt.

Der lebendigmachende Aspekt ist freilich bereits im zweiten Schöpfungsbericht angesprochen, wenn es der göttliche Atem ist, der durch Einhauchung den noch aus purem Lehm daliegenden toten Klumpen zum lebendigen Wesen werden lässt:

Da formte Gott, der HERR, den Menschen, Staub vom Erdboden, und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.Genesis 2,7

Genau auf diesen Vorgang hebt der Evangelist Johannes ab, wenn bei ihm die Gabe des Heiligen Geistes als Anhauchung der Jünger durch den Auferstandenen beschrieben wird:

Am Abend dieses ersten Tages der Woche, als die Jünger aus Furcht vor den Juden bei verschlossenen Türen beisammen waren, kam Jesus, trat in ihre Mitte und sagte zu ihnen: Friede sei mit euch! Nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und seine Seite. Da freuten sich die Jünger, als sie den Herrn sahen. Jesus sagte noch einmal zu ihnen: Friede sei mit euch! Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Nachdem er das gesagt hatte, hauchte er sie an und sagte zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! Johannes 20,19-22

Die Assoziation zur Lebendigmachung des Menschen in der Schöpfungsgeschichte ist augenfällig: Die Jünger empfangen ein neues Leben, sie werden neu erschaffen. Was bei Lukas mit Wind- und Sturmesbraus ein geradezu die ganze Schöpfung betreffendes Ereignis ist, wird hier in den Jüngern selbst konkretisiert: Sie werden bei Johannes geradezu neu geboren. Deshalb sind bei ihm die Türen anfänglich noch verschlossen. Um sich aus diesem quasi intrauterinen Zustand zu befreien, müssen die Jünger Wehen gleich durch das Wehen des göttlichen Geistes nach draußen getrieben werden und ihre Ängste vor der kalten Welt überwinden. Es sind die Wehen der Angst, die bei Johannes überwunden werden müssen, während die Jünger in der lukanischen Diktion Neugeborenen gleich in einem universal verständlichen Urschrei die Macht des Lebensatems spüren und sich der Welt mitteilen. Hier wie da wird deutlich: der Geist Gottes ist eine Urgewalt des Lebens – das geradezu physisch spürbare göttliche Lebensprinzip schlechthin.

Lebendigmachender Geist in Raum und Zeit

Wie sehr der Geist Gottes der Lebendigmacher schlechthin ist, weiß auch der Psalmist, wenn er voller Ehrfurcht die Schöpfungsmacht Gottes bekennt:

Verbirgst du dein Angesicht, sind sie verstört, nimmst du ihnen den Atem, so schwinden sie hin und kehren zurück zum Staub. Du sendest deinen Geist aus: Sie werden erschaffen und du erneuerst das Angesicht der Erde. Psalm 104,29-30

Der Geist Gottes erscheint hier – gerade, weil er lebendigmachender Atem und Wind ist – als Schöpfungsprinzip schlechthin. Die Schöpfung ist die Sphäre, in der der göttliche Geist wirkt. Dass er da Atem und Wind ist, zeigt, dass das sowohl für den Mikro- wie für den Makrokosmos gilt. Sowohl jedes einzelne Wesen empfängt sein Leben durch die Einhauchung des göttlichen Atems – was im Übrigen tiefgreifende Folgen für den Umgang mit allem, was atmet, zeitigt – als auch die Schöpfung als Ganzes in allen Dimensionen von Raum und Zeit existieren als Wirkung des göttlichen Geistes. Genau diesen Aspekt konsequent ausfaltend schreibt Paulus deshalb an die Römer:

Ich bin nämlich überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn die Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. Gewiss, die Schöpfung ist der Nichtigkeit unterworfen, nicht aus eigenem Willen, sondern durch den, der sie unterworfen hat, auf Hoffnung hin: Denn auch sie, die Schöpfung, soll von der Knechtschaft der Vergänglichkeit befreit werden zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes. Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber nicht nur das, sondern auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, auch wir seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn auf Hoffnung hin sind wir gerettet. Römer 8,18-24a

Paulus spricht nicht ohne Grund von der „gesamten Schöpfung“ (πᾶσα ἡ κτίσις – gesprochen: pâsa he ktísis). Die Partikel πᾶσα (gesprochen: pâsa – „alles“/“gesamt“) zeigt an, dass es hier keine Ausnahmen gibt. Alles meint alles, gesamt ist gesamt. Sie ist als Ganzes von Geburtswehen erfasst. Das bedeutet aber auch, dass die Schöpfung eben noch nicht vollendet ist. Sie ist in vollem Gange auf ihr Ziel hin, die Vollendung in Gott selbst. Sein Geist ist der Lebendigmacher, der der Schöpfung als Ganzes Leben einhaucht, der sie weiter schafft und ihr Existenz verleiht. Er ist der Raum- und Zeitgeist, der weht.

Konkret physisch

So gesehen erscheint der Geist Gottes als physisches Wirkprinzip der Schöpfung – sowohl was den Mikro-, als auch was den Makrokosmos betrifft. Tatsächlich bezeichnet das griechische Wort φύσις (gesprochen: physis) die „Natur“, die „Naturordnung“ oder auch die „natürliche Eigenschaft“. Wenn also der Geist Gottes als physisches Prinzip Zeit und Raum hervorbringt, erhält und vorantreibt, dann muss er konkret erkennbar sein. In der Tat konstatiert Paulus deshalb mit Blick auf die Heiden, also jene nichtjüdischen Völker, denen Gott sich nicht durch Gabe der Weisung, der Thora, unmittelbar offenbart hat:

Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich – an jenem Tag, an dem Gott, wie ich es in meinem Evangelium verkünde, das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird. Römer 2,14-16

Die Heiden handeln „von Natur aus“ (φύσει – gesprochen: physei) den Weisungen Gottes gemäß. Sie tun das, weil sie die Forderungen des Gesetzes verinnerlicht haben. Sie sind ihnen quasi eingehaucht.

Körperlob

Diese geradezu phänomenologische Erkenntnis, die in Psalm 104,29-30 vorgeprägt ist, wird wohl in der Gemeinde Antiochiens konsequent zu Ende gedacht. Wenn der Geist Gottes durch Einhauchung lebendig macht, ja wenn es der Atem Gottes ist, der lebendig erhält, dann ist nicht nur alles, was atmet von Gott beseelt unabhängig von Nationalität, Religion oder Geschlecht. Auch der Leib des Menschen, sein Körper erhält Wertschätzung und Würde, denn er ist Sitz des göttlichen Atems. Der Wohnsitz Gottes aber wird landläufig „Tempel“ genannt. Nicht ohne Grund kann Paulus deshalb sagen:

Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wer den Tempel Gottes zerstört, den wird Gott zerstören. Denn Gottes Tempel ist heilig und der seid ihr. 1 Korinther 3,16-17

Auch wenn diese Erkenntnis bereits im Tanach vorgeprägt ist, ist die Schlussfolgerung, die die antiochenischen Christen wenige Jahre nach der Auferstehung des Gekreuzigten daraus ziehen, fundamental und neu. Nicht nur, dass auch die Heiden, die ja atmen, offenkundig längst schon von Gott beseelt sind; auch die exklusive Verehrung Gottes im Jerusalemer Tempel ist so nicht mehr notwendig, wenn die Herrlichkeit Gottes doch im Menschen selbst Wohnsitz nimmt. So lobt tatsächlich nicht nur alles, was atmet durch die pure Existenz den Namen Gottes; allem, was atmet eignet auch eine unaufgebbare Würde: Wer einen Tempel Gottes schädigt, wendet sich gegen Gott selbst; wer an einem leidenden Tempel Gottes achtlos vorübergeht, geht an Gott achtlos vorüber. Die Nächstenliebe und sogar die Feindesliebe haben hier ihren tieferen Sinn. Nächste sind immer die, die gerade jetzt physisch am nächsten sind – und das sucht man sich nicht aus. Und Feinde mögen Feinde bleiben – als atmende Wesen sind sie Tempel Gottes. Wer ihnen den Atem nimmt, zerstört einen Tempel Gottes.

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Gott im Antlitz der Nächsten zu erkennen, ist eine der wesentlichen Erkenntnisse des frühen Christentums.

Zu konkret für harmlose Banalitäten

Es wird deutlich, dass der Heilige Geist eine höchst konkrete Wirkmacht Gottes ist. Das Atmen mag zu alltäglich sein, zu gewöhnlich, als dass man darin immer das Wirken Gottes erkennen mag. Dabei ist der Atem nicht zu unterschätzen. Wer atmet, lebt; wer nicht mehr atmet, ist tot. Tatsächlich ist der Atem ein vegetatives Lebensprinzip, das der Mensch nur mit nicht geringem Aufwand willkürlich beeinflussen, nie aber grundsätzlich unterdrücken kann. Vielmehr atmet er unwillkürlich selbst im Schlaf weiter, wenn Gott ihn in diesem schutzlosen Zustand gewissermaßen weiter lebendig erhält. Nicht ohne Grund betet die Kirche deshalb im Hymnus der Komplet, dem kirchlichen Nachtgebet:

„Hüllt Schlaf die müden Glieder ein,
lass uns in Dir geborgen sein
und mach am Morgen uns bereit
zum Lobe Deiner Herrlichkeit.“

Es mag diese physisch-phänomenologische Beobachtung gewesen sein, die die antiochenischen Christen zu einer neuen Erkenntnis geführt hat. Seitdem bildet die Gemeinschaft derer, die sich dazu bekennen, dass es Gottes Geist ist, der lebendig macht, die Gemeinschaft der Kirche. Nicht ohne Grund ist im nicaeno-constantinopolitaneischen Glaubensbekenntnis der Artikel über den Heiligen Geist mit dem der Kirche verbunden:

„Ich glaube an den Heiligen Geist,
der Herr ist und lebendig macht,
der aus dem Vater und dem Sohn2) hervorgeht,
der mit dem Vater und dem Sohn angebetet und verherrlicht wird,
der gesprochen hat durch die Propheten,
und die eine, heilige, katholisch und apostolische Kirche.“

Auch in der Apostelgeschichte ergibt sich die Gründung der ersten Gemeinde letztlich aus dem Wirken des Geistes, das Petrus zur ersten Pfingstpredigt treibt, in deren Anschluss es heißt

Als sie das hörten, traf es sie mitten ins Herz und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: Was sollen wir tun, Brüder? Petrus antwortete ihnen: Kehrt um und jeder von euch lasse sich auf den Namen Jesu Christi taufen zur Vergebung eurer Sünden; dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen. Denn euch und euren Kindern gilt die Verheißung und all denen in der Ferne, die der Herr, unser Gott, herbeirufen wird. Mit noch vielen anderen Worten beschwor und ermahnte er sie: Lasst euch retten aus diesem verdorbenen Geschlecht! Die nun, die sein Wort annahmen, ließen sich taufen. An diesem Tag wurden ihrer Gemeinschaft etwa dreitausend Menschen hinzugefügt. Sie hielten an der Lehre der Apostel fest und an der Gemeinschaft, am Brechen des Brotes und an den Gebeten. Apostelgeschichte 2,37-42

Der heilige Gast

Die Kirche verdankt ihre konkrete Existenz also dem Wirken des Geistes. Er ist es auch, der die Christen in allen Zeiten immer wieder zu Werken der Nächstenliebe getrieben hat. Gerade weil der Leib als Tempel des Heiligen Geistes verstanden wird, spricht die Kirche von ihm auch als „hospes animae“ – als Gast der Seele. Gott wohnt als Gast im Menschen. Genau hier könnte eine etymologische Spur für die deutschsprachige Rede vom Geist liegen, der dann der Heilige Gast wäre3). Nicht ohne Grund befanden sich deshalb in den mittelalterlichen Städten häufig in Sichtweite der Kirchen die Hospize. Allein der Begriff ist schon mit dem lateinischen Wort für Gast – „hospes“ – verwandt. Das Hospiz wird so zum Gasthaus Gottes, in dem die leidenden Körper als Tempel des göttlichen Geistes Pflege, Linderung und Heilung erfahren sollen. Man war sich bewusst, dass die Anbetung Gottes nicht nur im Angesicht des Allerheiligsten in der Kirche geschah, sondern auch in der respektvollen Hinwendung zu den kranken Körpern als Tempel Gottes: Wer in der Kirche die Knie beugt, muss das auch vor den Armen und Kranken tun, denn:

Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Matthäus 25,40

All das ist von so großer, geradezu physischer Konkretion, dass man sich nur wundern kann, wenn auch heute noch Christen als Erfahrung des Heiligen Geistes eine entrückte Ekstase suchen, die sich im Sinne des Paulus nur als spirituelle Verwirrung zu erkennen gibt:

Ich danke Gott, dass ich mehr als ihr alle in Zungen rede. Doch vor der Gemeinde will ich lieber fünf Worte mit meinem Verstand reden, um auch andere zu unterweisen, als zehntausend Worte in Zungen stammeln. Seid doch nicht Kinder an Einsicht, Brüder und Schwestern! Seid unmündig an Bosheit, an Einsicht aber seid vollkommen! Im Gesetz steht: Durch Leute, die anders und in anderen Sprachen reden, werde ich zu diesem Volk sprechen; aber auch so werden sie nicht auf mich hören, spricht der Herr. So ist Zungenreden ein Zeichen nicht für die Glaubenden, sondern für die Ungläubigen, prophetisches Reden aber ein Zeichen nicht für die Ungläubigen, sondern für die Glaubenden. Wenn also die ganze Gemeinde sich versammelt und alle in Zungen reden und es kommen Unkundige oder Ungläubige herein, werden sie dann nicht sagen: Ihr seid verrückt? Wenn aber alle prophetisch reden und ein Ungläubiger oder Unkundiger kommt herein, dann wird er von allen überführt, von allen geprüft; was in seinem Herzen verborgen ist, wird aufgedeckt. Und so wird er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten und bekennen: Wahrhaftig, Gott ist bei euch! 1 Korinther 14,18-25

Haltung!

Wer wahrhaftig die konkrete Wirkmacht des göttlichen Geistes in der Welt erkannt hat, braucht keine Ekstase mehr. Er weiß, dass er Gott durch das Antlitz der Nächsten, seien sie Freundinnen, seien sie Feinde erblickt. Er bzw. sie wird auch erkennen müssen, dass die Nächsten, seien sie Freunde, seien sie Feindinnen, durch sein bzw. ihr Antlitz Gott erkennen sollen. Der Leib ist das Medium, mit dem Gottes Geist in dieser Welt wirken kann. Spiritualität – das Wort kommt nicht ohne Grund von „spiritus“, dem lateinischen Äquivalent des hebräischen רוח (gesprochen: ruach) und des griechische πνεῦμα (gesprochen: pneûma) – ist deshalb kein Aspekt, den man hier und da produzieren könnte. Spiritualität in diesem Sinn verstanden ist eine grundständige Haltung, die um das beständige Wirken des Geistes im Mikro- und im Makrokosmos der Schöpfung weiß – eine Haltung, aus der heraus die Glaubenden beständig ihr Handeln und Reden bestimmen lassen, so dass das Leben der so Handelnden in sich zum beständigen Gebet wird:

Darum tröstet einander und einer baue den andern auf, wie ihr es schon tut! Wir bitten euch, Brüder und Schwestern: Erkennt die an, die sich unter euch mühen und euch vorstehen im Herrn und euch zurechtweisen! Achtet sie äußerst hoch in Liebe wegen ihres Wirkens! Haltet Frieden untereinander! Wir ermahnen euch, Brüder und Schwestern: Weist die zurecht, die ein unordentliches Leben führen, ermutigt die Ängstlichen, nehmt euch der Schwachen an, seid geduldig mit allen! Seht zu, dass keiner dem andern Böses mit Bösem vergilt, sondern bemüht euch immer, einander und allen Gutes zu tun! Freut euch zu jeder Zeit! Betet ohne Unterlass! Dankt für alles; denn das ist der Wille Gottes für euch in Christus Jesus. Löscht den Geist nicht aus! Verachtet prophetisches Reden nicht! Prüft alles und behaltet das Gute! Meidet das Böse in jeder Gestalt! 1 Thessalonicher 5,11-22

Paulus fordert hier im Imperativ zu einer spirituellen, geisterfüllten Haltung auf. Imperative vertragen weder schräggestellte Köpfe noch behauchtes Sprechen. Wer so redet, darf sich nicht wundern, wenn er nicht ernst genommen wird.

Wer Gott begegnen will, der muss sich aufrichten und offenen Auges durch Raum und Zeit gehen. Er wird den erkennen, der die Welt erschaffen hat und durch die die Welt beständig lebendig ist: Einer ist es, der schafft, ein und derselbe, durch den geschaffen wird, und wieder derselbe, der lebendig macht. Wer den Weg umgekehrt geht, wird im Heiligen Geist durch den Sohn zum Vater finden. Es ist dieser eine Gott, durch den alles ist, war und sein wird. Es braucht keine großen spirituellen Übungen, ihn zu finden. Es reicht, dem Nächsten mit Respekt zu begegnen. Jedem Nächsten! Und das gilt auch und gerade physisch!

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Bildnachweis

Titelbild: Beauty (Philipp Ziegler) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY-NC-ND 2.0.

Bild 1: Monument (Devin Miles) – Quelle: pxhere – lizenziert als CC0.

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1. Mit besonderem Dank an Dr. Till Magnus Steiner für den Hinweis auf die Gebeine-Vision des Ezechiel.
2. Orthodoxe Christen beten hier das „und dem Sohn“ nicht, sondern betont die Allursächlichkeit des Vaters stärker. In der westkirchlichen Tradition ist allerdings die johanneische Erzählung von der Einhauchung des Geistes (vgl. Johannes 20,22) wirksam, aus der sich eben ergibt, dass der Geist auch aus dem Sohn hervorgeht. Die Einfügung des sogenannten „filioque“ ist mitursächlich für das Schisma von 1054 u.Z. gewesen und ist heute noch im Diskurs zwischen orthodoxer und römisch-katholischer Kirche heftig umstritten.
3. Eine andere Herleitung geht davon aus, dass der Begriff des Geistes auf die indogermanische Wurzel *gheis- für erschaudern, ergriffen und aufgeregt sein zurückgeht (vgl. hierzu https://de.wikipedia.org/wiki/Geist#cite_ref-9 [Stand: 13. Mai 2018]).
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2 Replies

    • Lieber Liudger Gottschlich, Danke für die Rückmeldung. Dieser Aspekt ist mir in der Tat sehr wichtig. Deshalb schreibe ich ja, ohne freilich die Tiere explizit zu erwähnen: “Sowohl jedes einzelne Wesen empfängt sein Leben durch die Einhauchung des göttlichen Atems – was im Übrigen tiefgreifende Folgen für den Umgang mit allem, was atmet, zeitigt – als auch die Schöpfung als Ganzes in allen Dimensionen von Raum und Zeit existieren als Wirkung des göttlichen Geistes.” Für mich persönlich geht das sogar über die Tierwelt hinaus, da ja selbst die Pflanzen in gewisser Weise “atmen”. “Alles was atmet, lobt den Herrn!” – das bezieht sich gerade nicht nur auf Menschen, sondern eben auf alles (!), was atemt. Das kann man in der Tat nicht oft genug sagen.