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Res publica

“Nein ist Nein!” Vergewaltigung im Alten Testament


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Nein heißt Nein – dieses Prinzip bestimmt das neue, strenger gefasste Sexualstrafrecht. Damit ist nun gesetzlich festgeschrieben, dass eine Straftat vorliegt, wenn sich der Täter oder die Täterin über den „erkennbaren Willen“ des Opfers hinwegsetzt.1) Eine sexuelle Handlung wird zukünftig bereits dann als Vergewaltigung gewertet, wenn das Opfer zuvor durch Worte oder Gesten verdeutlicht hat, dass sie oder er mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist. Jede sexuelle Handlung bedarf der Zustimmung aller beteiligten Personen.

Dina

Auch das Alte Testament erzählt von Vergewaltigungen: Zum Beispiel steht im Buch Genesis die Geschichte Dinas, der Tochter Jakobs, die von dem Nicht-Israeliten Sichem vergewaltigt wurde.

Dina, die Tochter, die Lea Jakob geboren hatte, ging aus, um sich die Töchter des Landes anzusehen. Sichem, der Sohn des Hiwiters Hamor, des Landesfürsten, erblickte sie; er ergriff sie, legte sich zu ihr und vergewaltigte sie. Genesis 34,1-2

Das hebräische Wort ענה (gesprochen: inna), das hier mit „vergewaltigen“ übersetzt ist, hat ein weites Bedeutungsspektrum: die Grundbedeutung lautet „jemanden schlecht behandeln“ im Sinne von „unterdrücken“ und/oder „erniedrigen“. Der eigentliche sexuelle Akt, der Beischlaf wird hier mit dem hebräischen Wort שכב (gesprochen: schachav) ausgedrückt, das im euphemistischen Sinne das Beieinanderliegen meint. An allen Stellen im Alten Testament, wo man ענה mit „vergewaltigen“ übersetzen kann, geht es nicht um die rohe Gewaltanwendung, sondern um die öffentlich-rechtliche Ehrverletzung. Dies zeigt sich am deutlichsten in der Geschichte Tamars.

Tamar

Tamar wird von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt.

(Amnon) sagte zu ihr: Komm, leg dich zu mir, Schwester! Sie antwortete ihm: Nein, mein Bruder, entehre mich nicht! So etwas tut man in Israel nicht. Begeh keine solche Schandtat! Wohin sollte ich denn in meiner Schande gehen? Du würdest als einer der niederträchtigsten Menschen in Israel dastehen. Rede doch mit dem König, er wird mich dir nicht verweigern. Doch Amnon wollte nicht auf sie hören, sondern packte sie und zwang sie, mit ihm zu schlafen. 2 Samuel 13,11-14

Amnons Aufforderung zum Geschlechtsverkehr stellt Tamar ein deutliches Nein entgegen. Seine Absicht ist klar. Der Erzähler berichtet kurz zuvor, dass Amnon Tamar fest ergriff, bevor er seine Aufforderung ausspricht. Das hebräische Verb חזק (gesprochen: chasak) wird vom Erzähler verwendet um das Ergreifen Tamars vor der Frage auszudrücken und er verwendet es wieder, um Amnons Reaktion auf Tamars Antwort zu beschreiben: er überwältigt sie. Amnon setzt seinen Willen mit Gewalt durch. Darauf folgend berichtet der Erzähler die eigentliche Vergewaltigung, die im hebräischen Text wie in der Erzählung über die Vergewaltigung Dinas mit den zwei Verben ענה und שכב beschrieben wird: „er erniedrigte sie und schlief mit ihr“. Im Fokus der Erzählung steht die Vergewaltigung als öffentlich-rechtliche Ehrverletzung, wie es in den Worten Tamars deutlich wird. Sie bezeichnet Amnons Absicht mit ihr Geschlechtverkehr zu haben als eine Schandtat, die sie als Frau in Schande bringt. Sie verweigert nicht jeglichen Geschlechtsverkehr mit Amnon, sondern fordert ihn auf, zuvor bei ihrem Vater, König David um Erlaubnis zu bitten, d.h. sie zu heiraten. Im alttestamentlichen Verständnis „gehört“ die Sexualität einer Frau entweder ihrem Vater, solange sie noch nicht verheiratet ist, oder ihrem Ehemann, nachdem die Ehe geschlossen wurde. Vorehelicher Geschlechtsverkehr gilt als eine Schande (vgl. Deuteronomium 22,13-21).

Die Rechtslage

Im Buch Deuteronomium gibt es drei Gesetze die sich mit dem Tatbestand „Vergewaltigung“ beschäftigen. Während es in der modernen Rechtsprechung entscheidend ist, ob das Opfer der sexuellen Handlung zugestimmt hat oder nicht, spielt dies im alttestamentlichen Recht eine untergeordnete Rolle.

Wenn ein unberührtes Mädchen mit einem Mann verlobt ist und ein anderer Mann ihr in der Stadt begegnet und sich mit ihr hinlegt, dann sollt ihr beide zum Tor dieser Stadt führen. Ihr sollt sie steinigen, und sie sollen sterben, das Mädchen, weil es in der Stadt nicht um Hilfe geschrien hat, und der Mann, weil er sich die Frau eines andern gefügig gemacht hat. Du sollst das Böse aus deiner Mitte wegschaffen. Deuteronomium 22,23-24

Der erste exemplarische Fall, der im Buch Deuteronomium behandelt wird, ist der Geschlechtsverkehr zwischen einem verlobten und jungfräulichen Mädchen und einem Mann, der nicht ihr Verlobter ist. Die Verlobung stellt einen Rechtsakt da, der den Übergang einer Frau vom Herrschaftsbereich des Vaters in den Herrschaftsbereich des Ehemanns regelt. Ebenso wie im Falle des Ehebruchs mit einer verheirateten Frau, steht auch auf den Bruch der Verlobung die Todesstrafe (vgl. Deuteronomium 22,22). Aus der Gesetzesperspektive ist es dabei unwichtig, ob es sich um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr handelt oder um eine Vergewaltigung. Der Geschlechtsverkehr wird als Eigentumsdelikt angesehen und mit dem Tod beider durch Steinigung bestraft. Der Vergewaltiger wird zu Tode verurteilt, nicht weil er gegen den Willen der Frau gehandelt hat, sondern weil er sich an einer Frau vergangen hat, die einem anderen Mann gehört. Hier wird ebenso wie in den Erzählungen über Dina und Tamar das hebräische Wort ענה verwendet. Aber nicht allein die Erniedrigung bzw. Entehrung der Frau spielt hier eine Rolle, sondern die Betonung liegt darauf, dass es sich um die Frau eines anderen Mannes handelt.

Von besonderer Bedeutung zur Beurteilung der Rolle der Frau ist, dass dieses Gesetz nur Geschlechtsverkehr behandelt, der innerhalb einer Stadt geschieht. Das Todesurteil der Frau wird nämlich damit begründet, dass sie nicht um Hilfe geschrien hat. Dass niemand einen Hilferuf von ihr gehört hat, wird als ihre Zustimmung zum Geschlechtsverkehr ausgelegt. Gemäß dem Gesetz reicht es also nicht, dass das Opfer um Hilfe schreit, sondern der Hilfeschrei muss auch erhört werden, ansonsten ist sie kein Opfer. Anders wird dies beurteilt, wenn es zum Geschlechtsverkehr zwischen einem verlobten, jungfräulichen Mädchen und einem Mann, der nicht ihr Verlobter ist, nicht in der Stadt, sondern auf dem Feld kommt.

Wenn der Mann dem verlobten Mädchen aber auf freiem Feld begegnet, sie festhält und sich mit ihr hinlegt, dann soll nur der Mann sterben, der bei ihr gelegen hat, dem Mädchen aber sollst du nichts tun. Bei dem Mädchen handelt es sich nicht um ein Verbrechen, auf das der Tod steht; denn dieser Fall ist so zu beurteilen, wie wenn ein Mann einen andern überfällt und ihn tötet. Auf freiem Feld ist er ihr begegnet, das verlobte Mädchen mag um Hilfe geschrien haben, aber es ist kein Helfer dagewesen. Deuteronomium 22,25-27

Bereits der Anfang des Gesetzes verdeutlicht, dass es erzwungenen Geschlechtsverkehr behandelt. Mit dem hebräischen Wort חזק, das mit „festhalten“ übersetzt wird, wird die Gewaltanwendung zur Beurteilung des Rechtsfalls angeführt. In diesem Fall wird nur der Mann zum Tode verurteilt. Das Mädchen wird aber nicht aufgrund der Gewaltanwendung freigesprochen, sondern weil auf dem Feld, wo niemand sonst ist, man nicht beweisen kann, ob sie um Hilfe geschrien hat oder nicht. Es lässt sich nicht feststellen, ob sie dem Geschlechtsverkehr zugestimmt hat oder nicht. Das ist insofern problematisch, da vorausgesetzt wird, dass es keine Zeugen gab und somit die Aussage des Mannes gegen die Aussage des Mädchens steht.

Das dritte Gesetz behandelt den Geschlechtsverkehr eines Mannes mit einem noch nicht verlobten Mädchen. Hier wird deutlich, dass die Sexualität eines Mädchens und einer Frau männlicher Besitz ist und der Wille des Opfers eine untergeordnete bzw. in diesem Falle keine Rolle spielt.

Wenn ein Mann einem unberührten Mädchen, das noch nicht verlobt ist, begegnet, sie packt und sich mit ihr hinlegt und sie ertappt werden, soll der Mann, der bei ihr gelegen hat, dem Vater des Mädchens fünfzig Silberschekel zahlen, und sie soll seine Frau werden, weil er sie sich gefügig gemacht hat. Er darf sie niemals entlassen. Deuteronomium 22.28-29

Für diesen Fall ist es eine Grundbedingung, dass der Mann bei der Vergewaltigung ertappt wird. Das bedeutet zugleich: Wo es keine Zeugen gibt, da gibt es auch keine Tat. Wenn es jedoch Zeugen gibt, spielt das Leid des Mädchens keine Rolle. Im Mittelpunkt steht der finanzielle Verlust ihres Vaters. In Exodus 22,15-16 findet sich ein ähnlicher Fall, aus dem man schließen kann, dass die 50 Silberschekel, die der Täter an den Vater des Opfers zu zahlen hat, als Brautgeld zu verstehen sind. Das Mädchen hat durch die Vergewaltigung die Möglichkeit zur Heirat verloren und wird daher mit ihrem Täter zwangsverheiratet. Dies geschieht aus der Gesetzesperspektive zum Schutz des Mädchens. Das Gesetz legt nämlich zudem fest, dass der Täter sich niemals von ihr scheiden lassen darf und somit ihr Leben lang für sie sorgen muss. Im Endeffekt bedeutet dies aber, dass das Opfer dauerhaft unter der Autorität des Täters zu leben hat.

Nochmal zu Tamar

Wenn man auf der Grundlage der alttestamentlichen Gesetze auf die erzählte Vergewaltigung Tamars blickt, wird deutlich, dass ihre Erniedrigung nicht nur rein sexueller Natur war, sondern sie auf mehrere Ebenen getroffen hat. Nach der Vergewaltigung erteilt ihr Bruder Abschalom ihr einen kaltherzigen Rat, der sie zur Lappalie erklärt:

Ihr Bruder Abschalom fragte sie: War dein Bruder Amnon mit dir zusammen? Sprich nicht darüber, meine Schwester, er ist ja dein Bruder. Nimm dir die Sache nicht so zu Herzen! Von da an lebte Tamar einsam im Haus ihres Bruders Abschalom. 2 Sam 13,20

Der Nachsatz des Erzählers zeigt deutlich an, welche rechtliche Auswirkung die Vergewaltigung auf Tamar hatte. Sie lebte fortan nicht mehr im Haus ihres Vaters, sondern suchte im Haus ihres Bruders Schutz, wo sie in Einsamkeit lebte. Mit Einsamkeit mag hier auch die Zurückgezogenheit aufgrund des Traumas gemeint sein, aber rechtlich beschreibt dies die Unwahrscheinlichkeit heiraten zu können. Sie ist als Vergewaltigungsopfer ausgegrenzt und ihr widerfährt kein Recht. Selbst ihr Vater, David, der als König der höchste Richter war, handelt nicht. Der Erzähler berichtet zwar:

Doch der König David erfuhr von der ganzen Sache und wurde darüber sehr zornig. 2 Samuel 13,22

Aber seine Reaktion ist nicht mehr als ein folgenloser Zorn, ein verhallender Aufschrei ohne Bedeutung – so wie das deutlich ausgesprochene „Nein“ Tamars in der Erzählung ohne Bedeutung verhallte. Im Alten Testament galt eben noch nicht das Prinzip „Nein heißt Nein“.

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Bildnachweis

Titelbild: „Nein ist Nein“, fotografiert von Martin Abegglen. Lizenziert unter CC BY-SA 2.0.

Bild im Textverlauf: „ Darstellung der Vergewaltigung von Eustache Le Sueur (ca. 1640)“. Lizenz: gemeinfrei.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Bisher hieß es im Strafgesetzbuch §177 Abschnitt 1: “Wer eine andere Person 1. mit Gewalt, 2. durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben oder 3. unter Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer der Einwirkung des Täters schutzlos ausgeliefert ist, nötigt, sexuelle Handlungen des Täters oder eines Dritten an sich zu dulden oder an dem Täter oder einem Dritten vorzunehmen, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft.“
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2 Replies

  1. Es stimmt, daß das damalige Gesetz wenig nach den Gefühlen der Frau frug, geschweige denn von einer Selbstbestimmung ausgeht.

    Trotzdem scheint mir der Aspekt wichtig, daß die Versorgung geregelt ist. Was wäre in der damaligen Gesellschaft die Alternative gewesen? Keine Heirat in Aussicht, ein Kind, das versorgt werden muß und womöglich stirbt, und damit danna auch keine Altersversicherung mehr.
    Man muß ja bedenken, wie die gesellschaftliche Zukunft der Vergewaltigten ausgesehen hätte, wär sie nicht mit dem Täter verheiratet worden.
    Freilich ist das nach unseren Maßstäben furchtbar. Aber wir haben auch eine lange Zeit der Emanzipationsbewegung hinter uns. Frauen können bei uns Berufe ergreifen und für sich selbst sorgen.

    Und hier liegt IMHO auch ein Punkt, an dem man David kritisieren könnte. Er hätte durchaus Möglichkeiten gehabt, auf Amnons Tat zu reagieren. Amnon hätte sie nicht wegschicken dürfen und David hätte das durchsetzen können. Das tat er nicht, immerhin war Amnon der Lieblingssohn.

    Hier ist also nicht nur das Problem gegeben, daß das damalige Recht nach heutigem Maßstab unhaltbar ist, sondern daß nicht einmal das damalige Recht durchgesetzt wurde.

  2. Sie betonen völlig zu recht, dass Deuteronomium 22,28-29 im damaligen historischen Kontext den Zweck der finanziellen Absicherung der Zukunft des vergewaltigten Mädchen diente. Darüber hinaus bietet das Gesetz noch eine finanzielle Entschädigung für den Vater des Mädchens. Das diesem Gesetz zugrundeliegende Rechtsprinzip findet sich leider auch noch in Gegenwart: http://www.independent.co.uk/news/world/thousands-of-rapists-and-sexual-abusers-in-turkey-avoid-jail-time-by-marrying-their-victims-a7129811.html In der Geschichte Tamars wird Davids Verhalten negativ beurteilt. Im Fall Amnons, und später gegenüber seinen anderen Söhnen Abschalom und Adonija ist er nachlässig und bestraft ihr Fehlverhalten nicht.