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conditio humana·Res publica

Wider die Kultur der Vergesslichkeit Ein neutestamentlicher Essay über das Wesen der Wahrheit


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Vergesslichkeit ist eine Tugend, die nicht wenige Politiker kultivieren. Das gestrige Geschwätz stört nur selten. Es zählt, was nützt. Und was nützt, ergibt sich aus Umfragen. Im Fluidum wechselnder Mehrheitsmeinungen sind die Rückgrate fließend geworden, so dass man geschmeidig seine Position ändern kann.

Aus der Masse solcher windungsreicher Kontorsionisten hebt sich der hervor, der den aufrechten Gang nicht verlernt hat. So kann etwa der Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach seine ureigene Haltung in der Griechenland-Frage nicht einfach über Bord werfen und der Mehrheitsbildung opfern. Schon 2010, also seit Beginn der Euro- und Griechenland-Krise, hielt er den Kurs seiner eigenen Partei für falsch. Er beharrte darauf, dass er nicht an die Wirksamkeit der verschiedenen Rettungspakete glaube. Eine der politischen Korrektheit geschuldete Zustimmung wider besseres Wissen könne er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren1).

Das ist eine Haltung, die man nicht teilen muss. Aber es ist eine Haltung! Sie ist konsequent. Und gerade deshalb beeindruckt sie. Es ist eine Haltung, die nicht einfach aus Sturheit erwächst, sondern auf der Basis von Begründungen und Argumenten, mit denen man sich auseinander setzen kann und muss. Hier bestimmt nicht einfach die Befindlichkeit aktueller Mehrheitsmeinungen den eigenen Weg, sondern die begründete Entscheidung des eigenen Gewissens.

Gewissen und Wahrheit

Die Spannung zwischen der politischen Kultur aktualisierenden Vergessens und der gewissensgeprüften Haltung wider den Strom der Mehrheit wird auch im Ringen um das, was unter Gewissen zu verstehen ist, deutlich. Der Soziologe Niklas Luhmann konstatiert in seinem 1965 erstmalig erschienen und 1981 neu herausgegebenem Aufsatz „Die Gewissensfreiheit und das Gewissen“ eine Entkoppelung von Gewissen und Wahrheit:

„Gewissen ist nicht mehr syn-eidesis, con-scientia, Ge-Wissen, gemeinsames Wissen ist überhaupt kein Wissen mehr, sondern eine Art Eruption der Eigentlichkeit des Selbst.“2)

Die Definition Niklas Luhmanns lässt einen Wandel ahnen. Wo heute das Gewissen ein eher subjektiviertes Phänomen ist, das jeder auf der Basis eigener und stets wandelbarer Werte formt, gab es in früheren Zeiten offenkundig eine den Einzelnen übersteigende Basis für die Formung der persönlichen Gewissensentscheidung. Dieses Fundament ist für Joseph Ratzinger weiter aktuell:

„Vor allem aber wird das Gewissen als der Knotenpunkt der Gemeinsamkeit zwischen Christen und Nichtchristen und damit als die eigentliche Drehscheibe des Dialogs herausgestellt: Die Treue zum Gewissen verbindet Christen und Nichtchristen und gestattet ihnen, gemeinsam an der Lösung der sittlichen Aufgaben der Menschheit zu wirken, die sie beide zur demütigen und offenen Frage nach der Wahrheit zwingt.“3)

Was ist Wahrheit?

Die berühmte Frage des Pilatus, die Johannes in seiner Darstellung des Prozesses Jesu vor dem römischen Statthalter überliefert, bringt das Problem auf den Punkt. Ausgangspunkt ist die Frage des Pilatus nach dem Selbstanspruch Jesu:

Bist du der König der Juden? Johannes 18,33

Jesus reagiert zuerst verhalten auf die Frage nach seiner Königsherrschaft:

Sagst du das von dir aus, oder haben es dir andere über mich gesagt. Johannes 18,34

Pilatus, der Zweifel an dieser Anklage zu haben scheint, fragt weiter nach:

Dein eigenes Volk und die Hohenpriester haben dich an mich ausgeliefert. Was hast du getan? Johannes 18,35

Daraufhin offenbart Jesus seinen Selbstanspruch:

Mein Königtum ist nicht von dieser Welt. Wenn es von dieser Welt wäre, würden meine Leute kämpfen, damit ich den Juden nicht ausgeliefert würde. Aber mein Königtum ist nicht von hier. Johannes 18,36

Diese Antwort irritiert Pilatus offenkundig:

Also bist du doch ein König? Johannes 18,37

Jesus aber präzisiert die Art seines besonderen Königtums, das mit herkömmlichen Kategorien nicht zu fassen ist:

Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört auf meine Stimme. Johannes 18,37

Es ist die Wahrheit, die ἀλήθεια (gesprochen: alétheia), die sein Königtum begründet. Der Anspruch der ἀλήθεια Jesu ist umfassend. Es ist die Wahrheit. Es ist die Wahrheit, aus der man sein kann, die also die Grundlage derer ist, die ihr ihre Existenz verdanken. Die Wahrheit Jesu ist existenzbegründend. Sie ist gerade deshalb nicht verhandelbar. Sie hat einen absoluten Anspruch.

Die Frage des Pilatus kann angesichts dieses fundamentalen Anspruch kaum verwundern:

Was ist Wahrheit? Johannes 18,38

Was-ist-Wahrheit
Was ist Wahrheit? (Christus vor Pilatus) - Nikolaj Nikolajewitsch Ge (1890)

Das Wesen der Wahrheit

Aus dem Gespräch zwischen Jesus und Pilatus heraus wäre schon zu erschließen, dass Pilatus selbst die eigentliche Wahrheit verborgen bleibt. Wäre er aus der Wahrheit, hätte er sie schon längst erkannt. Er wüsste, in der Diktion des Johannesevangeliums gesprochen, dass der, der vor ihm steht, die personifizierte Wahrheit ist. Ausgangspunkt für diese Antwort, die sich in den sogenannten Abschiedsreden des Johannesevangeliums findet, sind die Ausführungen Jesu über den Weg zu Gott:

Euer Herz lasse sich nicht verwirren. Glaubt an Gott, und glaubt an mich! Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen. Wenn es nicht so wäre, hätte ich euch dann gesagt: Ich gehe, um einen Platz für euch vorzubereiten? Wenn ich gegangen bin und einen Platz für euch vorbereitet habe, komme ich wieder und werde euch zu mir holen, damit auch ihr dort seid, wo ich bin. Und wohin ich gehe – den Weg dorthin kennt ihr. Johannes 14,1-4

Jesus geht offenkundig davon aus, dass den Jüngern nach der Zeit der gemeinsamen Wanderungen, Gespräche und Belehrungen durch Worte und Zeichen – nach dem Johannesevangelium immerhin drei Jahre – der Weg zu Gott bekannt sein sollte. Aber ausgerechnet Thomas, der später an der Wahrheit der Auferstehung zweifeln sollte, weil er den Auferstandenen noch nicht selbst gesehen hatte, fragt:

Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst. Wie sollen wir dann den Weg kennen? Johannes 14,5

Die Antwort Jesu ist eindeutig:

Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben. Johannes 14,6

Er selbst ist die Wahrheit. Sein Leben, Reden und Handeln ist Zeugnis für die Wahrheit. Bereits im Johannesprolog wird der Leser auf diese Weise auf das folgende Evangelium eingestimmt:

Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis, und die Finsternis hat es nicht erfasst. Johannes 1,1-4

Die in der ganzen Existenz Jesu offenbar werdende Wahrheit dient der Erkenntnis. Es ist die Erkenntnis, dass alles, was ist, aus Gott ist. Nichts ist ohne Gott. Selbst das Rätsel der Dunkelheit hat seinen Ursprung in Gott. Ja, die Dunkelheit wird erst als Dunkelheit aufgrund des göttlichen Lichtes erkannt. Das Licht kann die Dunkelheit enttarnen und vertreiben. Das Licht selbst aber kann von der Dunkelheit nicht übermannt werden. Das Licht ist Leben. Leben ist göttlich. Das ist die Wahrheit, für die Jesus mit seiner ganzen Existenz Zeugnis ablegt. Es ist ein Zeugnis, das sogar die Dunkelheit des Todes besteht, die durch das Licht der Auferstehung erhellt wird. Auch Thomas, der Zweifler, wird diese Wahrheit schließlich erkennen.

Wider das Vergessen

Im 2. Petrusbrief findet sich am Beginn eine bemerkenswerte Mahnung des Autors an die Adressaten:

Alles, was für unser Leben und unsere Frömmigkeit gut ist, hat seine göttliche Macht uns geschenkt; sie hat uns den erkennen lassen, der uns durch seine Herrlichkeit und Kraft berufen hat. Durch sie wurden uns die kostbaren und überaus großen Verheißungen geschenkt, damit ihr der verderblichen Begierde, die in der Welt herrscht, entflieht und an der göttlichen Natur Anteil erhaltet. Darum setzt allen Eifer daran, mit eurem Glauben die Tugend zu verbinden, mit der Tugend die Erkenntnis, mit der Erkenntnis die Selbstbeherrschung, mit der Selbstbeherrschung die Ausdauer, mit der Ausdauer die Frömmigkeit, mit der Frömmigkeit die Brüderlichkeit und mit der Brüderlichkeit die Liebe. Wenn dies alles bei euch vorhanden ist und wächst, dann nimmt es euch die Trägheit und Unfruchtbarkeit, so dass ihr Jesus Christus, unseren Herrn, immer tiefer erkennt. Wem dies aber fehlt, der ist blind und kurzsichtig; er hat vergessen, dass er gereinigt worden ist von seinen früheren Sünden. Deshalb, meine Brüder, bemüht euch noch mehr darum, dass eure Berufung und Erwählung Bestand hat. Wenn ihr das tut, werdet ihr niemals scheitern. Dann wird euch in reichem Maß gewährt, in das ewige Reich unseres Herrn und Retters Jesus Christus einzutreten. 2 Petrus 1,3-11

Der Autor erinnert seine Adressaten an die überlieferte Wahrheit. Es ist eine Wahrheit, die sich nicht nur theoretisch erfassen lässt. Die volle Erkenntnis dieser Wahrheit erlangt man erst, wenn sie auch wirklich wird. Wahrheit drängt zur Tat. Hier setzt die Mahnung an:

Wem dies aber fehlt, der ist blind und kurzsichtig; er hat vergessen, dass er gereinigt worden ist von seinen früheren Sünden. 2 Petrus 1,9

Das Vergessen ist der Feind der Wahrheit. Die griechische Sprache macht das in besonderer Weise deutlich. Wahrheit (ἀλήθεια – gesprochen: alétheia) definiert sich dem Vergessen (λήθη – gesprochen: léthe)4) gegenüber geradezu als Nicht-Vergessen (ἀ-λήθεια – a-létheia). Wahrheit und Vergessen schließen sich aus.

Vergessen und Wahrheit - Foto: Werner Kleine
Fließend ändert der Fluss ständig seine Gestalt. Was eben war, ist vergessen. Die Wahrheit zu finden, macht Mühe, aber sie steht und gibt Orientierung. Foto: Werner Kleine

Die Wege der Wahrheit und des Vergessens

Λήθη/Léthe hieß auch einer der Flüsse in der Unterwelt der griechischen Mythologie. Wer vom Wasser dieses Flusses trank, verlor seine Erinnerung vor dem Eingang ins Totenreich. Mit der Erinnerung aber verliert der Mensch auch seine Identität und damit seine Existenz. Demgegenüber treibt den Christen die Hoffnung auf die Auferstehung. Es ist auffällig, dass die Rede von der Wahrheit nicht nur das Streben nach Erkenntnis meint. Die Wahrheit, von der das Neue Testament spricht, hat immer auch eschatologische Bedeutung. Es ist eben das Tun dieser Wahrheit, in dem der Mensch den Weg zu Gott beschreitet. Vor Gott schließlich wird der Mensch die Wahrheit endgültig erkennen. Paulus etwa schreibt an die Korinther:

Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin. 1 Korinther 13,12

Aber auch die Wahrheit des einzelnen Menschen selbst wird endgültig offenbar werden:

Denn wir alle müssen vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat. 2 Korinther 5,10

Wer den Irrtum riskiert, ist der Wahrheit nicht fern

Das Streben nach Wahrheit ist also keine Angelegenheit, die man auf dem Altar momentaner Stimmungen opfern sollte. Die moderne Gesellschaft mit ihren vielfältigen Befindlichkeiten braucht einen neuen Konsens, eine Gewissensgrundlage, auf der eine gemeinsame Verständigung wachsen kann. Das wird nicht ohne die Frage nach dem, was wahr ist, gehen. Wahrheit entzieht sich dem „Gefällt mir“/“Gefällt mir nicht“-Modus sogenannter sozialer Netzwerke. Wahrheit fordert heraus. Wer nach der Wahrheit strebt, wird Zweifel und Irrtum nicht immer entrinnen können. Wer aber zweifelt oder irrt, ist dem Licht der Wahrheit immer noch näher als der, der der Tugend des Vergessens huldigt.

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Bildnachweis

Titelbild: Bocca della Verità – Rom, Eingangsbereich der Kirche S. Maria in Cosmedin – Antonella Nigro (eigenes Werk), bearb. von Werner Kleine – Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 unter Wikimedia Commons

Bild: Was ist Wahrheit? (Christus und Pilatus), Nikolas Nikolajewitsch Ge (1890), 233×171 cm, Staatliche Tretjakow-Galerie (Moskau) – Lizenz: Gemeinfrei, Quelle: zeno.org

Foto: Lethe und Aletheia – Werner Kleine (eigenes Werk) – Lizenziert unter CC BY-NC-SA 4.0

Einzelnachweis   [ + ]

1. Vgl. hierzu G. Bannas, Gegen den Strich, in: FAZ (23.7.2015) – online unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wolfgang-bosbach-legt-ausschussvorsitz-nieder-13717356.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (Stand: 24.7.2015).
2. N. Luhmann, Gewissen und Gewissensfreiheit, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, Frankfurt am Main 1981, S. 326-359, hier: S. 330.
3. Joseph Ratzinger, Kommentar zur Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von
heute, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 14, Freiburg im Breisgau2 1968, S. 330.
4. Λήθη ist ein Hapaxlegomenon. Es kommt im Neuen Testament nur in 2 Petrus 1,9 vor.
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1 Reply

  1. Eine sehr treffende Gegenüberstellung von “Vergessen” und “Bewusstsein” (Unverborgenheit des Seins), die jede Gewissensentscheidung prägt. Auch der Aspekt der jüdischen “Bewährung” (emet) wird angedeutet, gleichsam als Situation, aus der das Ur-gewissen zur Entscheidung aufgefordert wird. Die Hinführung verdeutlicht an der konsequent abweichenden Haltung von Wolfgang Bosbach, dass die Gewissensentscheidung für Politiker, die im Bundestag keine Möglichkeit zur geheimen Abstimmung haben, keineswegs der Normalfall ist – wie im Grundgesetz so trefflich formuliert – , sondern die Ausnahme. Auch innerhalb der Kirche sollten man sich verstärkt fragen, ob nicht die Berufung auf das Gewissen als letzte verbindliche, aber nicht oberste Instanz, dazu verpflichten sollten, den Hauptstrom politischen Denkens theologisch zu hinterfragen und damit den Zusammenhang zwischen Individual- und Gemeinwohl, Personalität, Subsidiarität und Solidarität neu zu durchdenken. Es handelt sich ja um universale Prinzipien, die in der gerade anbrechenden Zeit einer Armutswanderung gigantischen Ausmaßes neu zu formulieren sind. Die Erinnerung an die große Völkerwanderung mit Beginn im 4. Jahrhundert, die das damals bekannte Europa völlig veränderte, kann als Gegensatz zu einer naiv-blinden “Lethe” verstanden werden, der ein Großteil der Parteien ebenso hilflos gegenüberstehen wie der der Feudalisierung und Globaliserung der Finanz- und Handelsströme. Erst wenn diese Form der Selbstkritik – wie sie z.B. Orosius und Augustinus aufgegriffen haben – wieder Einzug hält in das Denken und Sprechen kirchlicher Amtsträger tritt der Gewissensbegriff aus seiner subjektiv-verinnerlichten Selbstisolation heraus. Dann erfordert es wieder Mut zur Wahrheit, Gott “mehr zu gehorchen” als den politisch-korrekten Leitlinien einer in vielen Teilen desorientierten Öffentlichkeit.