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Disput·Res publica

Privatsache Kopftuch? Das Karlsruher Kopftuchurteil aus neutestamentlicher Perspektive

Ein Stück Stoff entzweit die Gesellschaft. Der Streit um das Kopftuch ist seit dem am 13. März 2015 veröffentlichten Urteil des Bundesverfassungsgerichtes neu entbrannt: Ein generelles Kopftuchverbot für Lehrkräfte sei unvereinbar mit der Religionsfreiheit.
Das Urteil findet viel Zustimmung; es ist aber auch auf vielfältige Kritik gestoßen. Die Sozialwissenschaftlerin Necla Kelek etwa hält das Urteil für einen fatalen Rückschritt im Kampf muslimischer Frauen um Selbstbestimmung. Der Leiter des kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), Michael Heinig vergleicht den Rechtsspruch mit dem Kurzifixurteil von 1995 und stellt fest, es sei

“widersprüchlich, wenn das Kreuz auf Wunsch von Schülern und Eltern zu weichen hat, aber das Kopftuch nicht”.1)

Demgegenüber meint der Staatskirchenrechtler Georg Neureither mit Blick auf das grundlegende Gebot der Neutralität des Staates, dass von einer

“unberechtigten Ungleichbehandlung von Kruzifix und Kopftuch (…) keine Rede sein” kann.2)

Die Diskussion ist in vollem Gange. Gerade weil die Protagonisten nicht selten christlich-kulturelle Werte und Symbole gegenüber den islamischen gefährdet bzw. benachteiligt sehen, lohnt sich ein Blick in die Heilige Schrift. In ihr finden sich wichtige Hinweise, die in dem gegenwärtigen Diskurs Beachtung finden sollten.

Der Bibel ist das Kopftuch nicht fremd

Das Kopftuch wird gegenwärtig zu einem islamischen Symbol gemacht. Tatsächlich kennt auch das Neue Testament die Weisung an Frauen, eine Kopfbedeckung zu tragen. Paulus kommt mehrfach im Zusammenhang des Verhaltens im Gottesdienst darauf zu sprechen. So schreibt er im 1. Korintherbrief:

Eine Frau aber entehrt ihr Haupt, wenn sie betet oder prophetisch redet und dabei ihr Haupt nicht verhüllt. Sie unterscheidet sich dann in keiner Weise von einer Geschorenen. Wenn eine Frau kein Kopftuch trägt, soll sie sich doch gleich die Haare abschneiden lassen. Ist es aber für eine Frau eine Schande, sich die Haare abschneiden oder sich kahlscheren zu lassen, dann soll sie sich auch verhüllen. 1 Korinther 11,5f

Paulus spricht hier grundsätzlich. Er meint jede Frau (πᾶσα γυνή, ausgesprochen: pâsa gyné – V. 5).

Paulus geht es offenkundig um eine Differenzierung der Geschlechter, denn im vorherigen Vers beschreibt er die Rolle des Mannes im Gottesdienst:

Wenn ein Mann betet oder prophetisch redet und dabei sein Haupt bedeckt, entehrt er sein Haupt. 1 Korinther 11,4

Mann und Frau werden also nicht hinsichtlich ihrer Funktion oder Kompetenz unterschieden – beide sollen beten und (öffentlich) prophetisch reden. Differenziert wird hingegen die Geschlechtsrollensymbolik.

Dass Paulus überhaupt einen solchen Diskurs führt, liegt wohl an einer spezifischen Praxis in der korinthischen Gemeinde. Marlies Gielen weist darauf hin, dass die (heiden-)christlichen Frauen offenkundig

“den jüdisch-orientalischen Brauch einer Kopfbedeckung (…) übernommen hatten, diesen Brauch aber im Falle des Betens und Prophezeiens im Gottesdienst aufgaben. Mit der Beseitigung des Geschlechtsrollensymbols wollten sie zeigen, dass die ansonsten anerkannte Relation zu den Männern beim geisterfüllten Sprechen keine Rolle spielte. (…) Es ging den Frauen primär wohl einfach um die Dokumentation ihrer Unabhängigkeit, wie sie im geistgewirkten Beten und Prophezeien ohnehin zum Ausdruck kam.”3)

Bei aller Gleichheit betont Paulus hier also die Unterschiedlichkeit der Geschlechter, die sich in der Symbolik der Kopfbedeckung ausdrückt. Die Wertung des Paulus in den VV.5b und 6 ist dramatisch: Für ihn ist eine im Gottesdienst unverhüllt sprechende Frau eine Schande. Sie stellt sich einer Kahlrasierten gleich, die sich durch die Rasur ihrer Weiblichkeit beraubt hat. Wie die Kahlrasierte steht die ohne Kopfbedeckung im Gottesdienst betende und prophetisch redende Frau dem gesellschaftlichen Empfinden entgegen. Genau dieses Fazit zieht er dann auch in V. 13:

Urteilt selber! gehört es sich, dass eine Frau unverhüllt zu Gott betet? Lehrt euch nicht schon die Natur, dass es für den Mann eine Schande, für die Frau aber eine Ehre ist, lange Haare zu tragen? Denn der Frau ist das Haar als Hülle gegeben. Wenn aber einer meint, er müsse darüber streiten: Wir und auch die Gemeinden Gottes kennen einen solchen Brauch nicht. 1 Korinther 11,13-16

Interessanterweise spricht Paulus hier von einer συνήθεια (ausgesprochen synétheia), also einem Brauch, in der sich die Differenz der Geschlechter äußert. Zu seiner Zeit drückte sich die Unterschiedlichkeit in einer Kopfbedeckung im Gottesdienst aus. Ein Brauch ist eine Gewohnheit, die nicht näher begründet werden muss. Bräuche können sich ändern. Da die Art der Haartracht und der Kopfbedeckung in den modernen gesellschaftlichen Konventionen nicht mehr die Rolle zu spielen scheint, die sie zu paulinischer Zeit spielten, sind die Ausführung des Paulus auf ihrem historischen Hintergrund zu lesen. Sie spielen so gesehen heute keine Rolle mehr – bis vielleicht auf die Tatsache, dass es nicht unüblich ist, dass Frauen im Gottesdienst Hüte aufbehalten können, während das bei Männern unschicklich ist. Vielleicht eine ebenso späte Reminiszenz an Paulus wie die Sitte, dass Frauen bei Papstaudienzen einen schwarzen Schleier tragen. Wahrlich: Die Bedeckung des weiblichen Hauptes ist auch dem Christentum nicht fremd.

Die Neutralität des Staates und das private Bekenntnis

Auch wenn die weibliche Kopfbedeckung in der christlichen Tradition eine gewisse Rolle spielt, so war sie doch nie ein Symbol des religiösen Bekenntnisses4). In der gegenwärtigen, durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ausgelösten Diskussion geht es aber genau um diese Frage. Das Kopftuch einer Muslima wird als religiöses Bekenntnis gewertet. Dabei ist schon innerislamisch umstritten, ob das Tragen des Kopftuches zu den religiösen Pflichten einer Frau gehört. Eine ausdrückliche Weisung des Koran lässt sich nicht finden. Es gibt zwar einige Suren, die sich auf den Umgang Mohammeds mit seinen Frauen beziehen (etwa Sure 24,30-31; 33,32-33 oder 33,53). Dabei geht es immer um die verheiratete Frau, die durch die Kopfbedeckung ihren sozialen Stand anzeigt. Sie ist für andere Männer nicht verfügbar5). Demgegenüber heißt es in Sure 24:60:

“Und für diejenigen Frauen, die alt geworden sind und nicht (mehr) darauf rechnen können, zu heiraten, ist es keine Sünde, wenn sie ihre Kleider ablegen, soweit sie sich (dabei) nicht mit Schmuck herausputzen. Es ist aber besser für sie, sie verzichten darauf (sich in dieser Hinsicht Freiheiten zu erlauben). Allah hört und weiß (alles).”

Auch hier spielt also die zeitgebundene Gewohnheit und Sitte im Umgang der Geschlechter miteinander eine zentrale Rolle, aus der sich nicht zwingend eine religiöse Pflicht zum Tragen des Kopftuches für muslimische Frauen ableiten lässt.

Tatsächlich tragen auch nicht alle Muslimas eine Kopfbedeckung. Allerdings stellt sie vor allem im sunnitischen Islam eine zentrale religiöse Praxis dar. Für Sunniten ist die Sunna handlungsleitend. Sie besteht aus der (mündlichen und später schriftlich aufgezeichneten) Überlieferung der Taten und Worte des Mohammed, deren Nachahmung Sunniten anstreben. Die Sunna selbst wird in Hadithen (Ausprüchen oder Berichten) überliefert. Ralph Ghadban stellt diesbezüglich fest:

“Die Echtheit der hadîth wird allgemein angezweifelt, was aber irrelevant ist, weil die Muslime an ihre Echtheit glauben. Und das ist hier allein von Bedeutung, weil die Muslime bis heute danach handeln.”6)

Insbesondere für Sunniten ist also das Tragen eines Kopftuches durchaus als religiöse Pflicht zu sehen, insofern gerade die Sunna das Bedecken sexuell konnotierter Körperbereiche, der sogenanten ‘aurah als verbindlich ansieht. Dabei soll Mohammed selbst gesagt haben:

“Die Frau ist eine ‘aurah, wenn sie ihr Haus verlässt, der Teufel kommt ihr entgegen.”7)

Als Nicht-Muslim sollte man allerdings nicht über Sinn oder Unsinn einer religiösen Praxis des Islam urteilen: Es handelt sich zuerst um eine innerislamische Kontroverse.

Und genau hier setzt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes an. Es stärkt zuerst die staatlich garantierte Bekenntnisfreiheit, so verstörend sie auch bisweilen sein kann. Ein Staat, in dem Bekenntnis- und Religionsfreiheit herrschen, darf sich selbst kein Bekenntnis geben. Er darf nicht christlich, jüdisch, muslimisch – aber auch nicht laizistisch sein. Die staatliche Symbolik hat sich deshalb jedweden Bekenntnisses zu enthalten. Das ist der Inhalt des Kruzfixurteils: In staatlich-öffentlichen Räumen wie Klassenzimmern, Gerichtssälen oder Amtsstuben ist die negative Religionsfreiheit – also die Freiheit von jedweder religiösen Symbolik – zu gewährleisten.

Zugleich muss der Staat das private Bekenntnis des und der Einzelnen gewährleisten – unabhängig davon, wie fremd manche Symbole denen erscheinen mögen, die durch die westlich-abendländische Kultur geprägt sind.

Das Verhältnis von Staat und Religion ist also ambivalent. Der Staat an sich muss neutral sein, um gerade aus dieser Neutralität heraus die Freiheit der vielfältigen Bekenntnisse der einzelnen zu garantieren. Für Christen spiegelt sich das in einem Wort Jesu selber wieder:

So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört! Markus 12,17

Das Kreuz gehört daher nicht unbedingt in die öffentlichen Räume, wohl aber überzeugte Christinnen und Christen, die den Glauben mit ihrem Leben bezeugen. Egal ob Kopftuch oder Kreuz – es ist die Haltung, die den wahrhaft Glaubenden prägt, nicht die Äußerlichkeit.

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Bildnachweis

Petr Adam Dohnálek (Eigenes Werk). Lizenziert unter CC BY-SA 3.0 cz über Wikimedia Commons.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Welt, 20.3.2015
2. Georg Neureither, Benachteiligtes Kruzifix? – katholisch.de – http://www.katholisch.de/de/katholisch/themen/gesellschaft/150325_verfassungsgericht_vergleich_kruzifix_kopftuch.php (Stand: 2. April 2015
3. Helmut Merklein/Marlies Gielen, Der erste Brief an die Korinther. Kapitel 11,2-16,24 (ÖTK NT 7/3), Gütersloh 2005, S. 54
4. Auch bei trachttragenden Ordensschwestern steht weniger das religiöse Bekenntnis im Vordergrund. Es geht vielmehr um die äußerliche Anzeige eines Standes und der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Orden.
5. vgl. hierzu den erhellenden Beitrag des Islamwissenschaftlers Ralph Ghadban, Das Kopftuch in Koran und Sunna. Das Frauenbild hinter dem Kopftuch – http://www.bpb.de/politik/innenpolitik/konfliktstoff-kopftuch/63294/ralf-ghadban?p=all (Stand 1. April 2015)
6. Ebenda
7. at-Trimidhî 1093 – zitiert nach Ralph Ghadban, ebenda
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