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Disput·Exegetica

Nathans Waisen Wer die Grenzen der Religionen überwinden will, muss die Grenzen der Religionen achten – ein Plädoyer für den interreligiösen Dialog


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Die Wahrheit ist von flüchtigem Wesen. Wer glaubt, sie erfasst zu haben, muss oft nur allzu schnell erkennen, dass er eigentlich nichts weiß. Die Weisen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, immer tiefer in die Wahrheit einzudringen, kennen das Phänomen: Hat man der Wahrheit die Antwort auf eine Frage abgerungen, stellen sich sofort mindestens zwei neue. Die Wahrheit ist groß und der Weg der Wahrheitssuche beschwerlich. Er ist gepflastert mit Fakten, echten und alternativen, Leuchttürmen und Irrlichtern, Lügen, Täuschungen und Geistesblitzen. Wohl dem, der auf dem Weg zur wahren Erkenntnis die Geister zu unterscheiden lernt. Nicht ohne Grund mahnt Jesus deshalb in der Bergpredigt:

Geht durch das enge Tor! Denn das Tor ist weit, das ins Verderben führt, und der Weg dahin ist breit und viele gehen auf ihm. Aber das Tor, das zum Leben führt, ist eng und der Weg dahin ist schmal und nur wenige finden ihn. Matthäus 7,13-14

Und dann ist da noch die Religion ...

Die Wahrheit will errungen werden. Sie lässt sich nicht leicht fassen. Wer auch immer vorgibt, den Weg zur Wahrheit exklusiv zu kennen, kann schnell als falscher Prophet entlarvt werden. So mahnt auch Jesus weiter:

Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie (harmlose) Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen. Erntet man etwa von Dornen Trauben oder von Disteln Feigen? Jeder gute Baum bringt gute Früchte hervor, ein schlechter Baum aber schlechte. Ein guter Baum kann keine schlechten Früchte hervorbringen und ein schlechter Baum keine guten. Jeder Baum, der keine guten Früchte hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen. An ihren Früchten also werdet ihr sie erkennen. Matthäus 7,15-20

In den Worten Jesu wird deutlich, dass sich die Wahrheit in der Wirklichkeit erweist. Es genügt nicht, die Wahrheit zu behaupten. Die Wirklichkeit ist das Spielfeld, in dem sich die Wahrheit als Wahrheit erweist. Erkenntnis an sich nutzt nichts, wenn sie nicht im Leben wirkt. Erkenntnis, die im Leben wirkt, aber ist Religion, denn jede Erkenntnis muss sich ihrer Grundannahmen vergewissern, aus denen heraus sie vorgibt, die Wahrheit zu erkennen. So wie ein Baum nur dann Früchte hervorbringen kann, wenn er mit den Wurzeln fest im Boden, der ihm Nahrung gibt, verwurzelt ist, so kann auch der Wahrheitssucher nur dann wirksame Erkenntnis hervorbringen, wenn er sich an feste Grundaxiome seines Denkens zurückbindet. Nicht ohne Grund führt Jesus aus:

Wer diese meine Worte hört und danach handelt, ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute. Als nun ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es nicht ein; denn es war auf Fels gebaut. Wer aber meine Worte hört und nicht danach handelt, ist wie ein unvernünftiger Mann, der sein Haus auf Sand baute. Als nun ein Wolkenbruch kam und die Wassermassen heranfluteten, als die Stürme tobten und an dem Haus rüttelten, da stürzte es ein und wurde völlig zerstört. Matthäus 7,24-27

Rückbindung aber heißt auf lateinisch re-ligio.

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... und die Frage nach Gott

In diesem Sinne ist jeder Wahrheitssucher religiös, denn er muss sein Denken und Erkennen an einen festen Ausgangspunkt zurückbinden. Insofern ist jede Form von Religion erkenntnis-, damit aber eben auch lebens- und kulturprägend. Hierin liegt die Macht jedweder Religion: Sie bringt immer Früchte hervor. Die Frage ist nur, ob sie dem Menschen dienen oder nicht.

Dabei ist an sich nicht gesagt, ob Religion von der Annahme des Grundaxioms „Gott ist“ ausgeht. Auch der Atheismus ist in diesem Sinne religiös. Er muss seine Denkannahmen genauso rechtfertigen, wie die Religionen, die von der Aussage „Gott ist“ ausgeht. Wenn man aber annimmt, dass Gott ist und diese Aussage als Wahrheit erkennt, dann stellt sich sofort die Frage nach dem Gottesbild.

Die um die Wahrheit ringen

Die drei großen monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam nehmen jeweils für sich in Anspruch, den Königsweg der Wahrheit zu kennen. Alle drei Religionen glauben nicht nur, dass Gott ist; sie bezeugen auch, dass nur ein Gott ist und sich dieser Gott offenbart hat. Ohne diese Offenbarung wäre Gott dem Menschen verborgen. So heißt es in Psalm 1, der von Juden wie Christen gebetet wird:

Wohl dem Mann, der nicht dem Rat der Frevler folgt, nicht auf dem Weg der Sünder geht, nicht im Kreis der Spötter sitzt, sondern Freude hat an der Weisung des Herrn, über seine Weisung nachsinnt bei Tag und bei Nacht. Er ist wie ein Baum, der an Wasserbächen gepflanzt ist, der zur rechten Zeit seine Frucht bringt und dessen Blätter nicht welken. Alles, was er tut, wird ihm gut gelingen. Nicht so die Frevler: Sie sind wie Spreu, die der Wind verweht. Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund. Psalm 1,1-6

Zweifelsohne könnte dieser Psalm auch ohne Schwierigkeiten von Muslimen gebetet werden, auch wenn er im Qur’an so nicht vorkommt. Gleichwohl findet sich der in Psalm 1 geäußerte Gedanke schon in der Eröffnungssure des Qur’an الفاتحة (gesprochen: al-fatihah – „die Eröffnung“):

Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. Lob sei Gott, dem Herrn der Menschen in aller Welt, dem Barmherzigen und Gnädigen, der am Tag des Gerichts regiert! Dir dienen wir, und dich bitten wir um Hilfe. Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, denen du Gnade erwiesen hast, nicht (den Weg) derer, die dem Zorn d(ein)em Zorn verfallen sind und irregehen! Sure 11)

Unschwer erinnern die letzten beiden Verse der ersten Sure des Qur’an an den ersten Vers von Psalm 1. Beide Traditionen, die jüdisch-christliche wie die islamische erinnern am Beginn der Schriften2) daran, dass ich die Wahrheit nicht leicht erringen lässt. Es bedarf der Hilfe und Weisung Gottes, um sich der Wahrheit zu nahen. Wer hingegen von diesem Weg abweicht, verfällt dem Gericht.

Der Gedanke der الفاتحة wird in der zweiten Sure, der البقرة (gesprochen: al-baqara – „die Kuh“) fortgeführt analog zu Psalm 1:

Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes. ´lm. Dies ist die Schrift, an der nicht zu zweifeln ist, (geoffenbart) als Rechtleitung für die Gottesfürchtigen, die an das Übersinnliche glauben, das Gebet verrichten und von dem, was wir ihnen (an Gut) beschert haben, Spenden geben, und die an das glauben, was (als Offenbarung) zu dir, und was (zu den Gottesmännern) vor dir herabgesandt worden ist, und die vom Jenseits überzeugt sind. Sie sind von ihrem Herrn rechtgeleitet, und ihnen wird es wohl ergehen. Sure 2,1-53)

Bis hierher scheint eine große Einigkeit zwischen islamischer und jüdisch-christlicher Tradition zu bestehen. Die Fortführung der 2. Sure hingegen beinhaltet aber eine entscheidende Abgrenzung:

Denen, die ungläubig sind, ist es gleich, ob du sie warnst, oder nicht. Sie glauben (so oder so) nicht. Gott hat ihnen das Herz und das Gehör versiegelt, und ihr Gesicht ist verhüllt. Sie haben (dereinst) eine gewaltige Strafe zu erwarten. Unter den Menschen gibt es auch welche, die sagen: ‚Wir glauben an Gott und an den jüngsten Tag’, ohne dass sie (wirklich) gläubig sind. Sie möchten Gott und diejenigen, die glauben, betrügen. Aber sie betrügen (in Wirklichkeit) nur sich selbst, ohne sich (dessen) bewusst zu sein. Sure 2,6-94)

Formulierte die الفاتحة, die Eröffnungssure noch ein Bekenntnis zu dem einen Gott, bei dem man auf den ersten Blick gar nicht sagen könnte, ob es jüdisch, christlich oder islamisch ist, so grenzt sich die Warnung in Sure 2,6-9 deutlich von denen ab, die sich zwar zu Gott und seinem endzeitlichen Gericht bekennen ab.

Und Gretchen fragt weiter

Psalm 1 empfahl dem Wahrheitssucher, bei Tag und bei Nacht über die Weisung des Herrn nachzusinnen (vgl. Psalm 1,2). Die Weisung Gottes muss durch Nachdenken aufgeschlossen und ins Leben übertragen werden. Es reicht nicht, die Weisung Gottes nur zu lesen. Das Wort Gottes muss erschlossen und gestaltet werden. Die erkannte Wahrheit muss im Leben des Menschen Gestalt annehmen. Deshalb mahnt Jesus:

Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt. Matthäus 7,21

In ähnlicher Weise sprach Psalm 1,3 vom „Fruchtbringen“.

Hier besteht ein wichtiger Unterschied zum Verständnis des Qur’an. Hier ist das Annehmen des im Qur’an bezeugten Glaubens als solchem die grundlegende Bedingung. So heißt es in der البقرة, der zweiten Sure:

Und wenn ihr hinsichtlich dessen, was wir auf unseren Diener (als Offenbarung) herabgesandt haben, im Zweifel seid, dann bringt doch eine Sure gleicher Art bei und ruft, wenn (anders) ihr die Wahrheit sagt, an Gottes statt eure (angeblichen) Zeugen an! Wenn ihr (das) nicht tut, und ihr werdet es nicht tun -, dann macht euch darauf gefasst, dass ihr in das Höllenfeuer kommt, dessen Brennstoff Menschen und Steine sind, und das (im Jenseits) für die Ungläubigen besteht! Sure 2,23-245)

So sehr die Eröffnungssure, die الفاتحة noch im Einklang mit Psalm 1 war und so sehr hier ein alle drei monotheistischen Religionen einendes Bekenntnis zu dem einen Gott bezeugt wird, dass auch Juden im שמע ישראל (gesprochen: sh’ema jisrael) („Höre Israel, dein Gott ist ein einziger) und Christen im nicaeno-konstaninopolitanischen Glaubensbekenntnis („ich glaube an den einen Gott“) teilen, so zeigen die Verse 23-24 der zweiten Sure doch entscheidende Unterschiede auf: Glaubende hier, Ungläubige dar6). Es geht hier nicht mehr um das Tun des göttlichen Willens, sondern um das Bekenntnis an sich. Demgegenüber stellt Paulus fest, dass es das Tun des Willens Gottes an sich ist, das in den Augen Gottes mehr zählt als die bloße Kenntnis der göttlichen Weisung:

Alle, die sündigten, ohne das Gesetz zu haben, werden auch ohne das Gesetz zugrunde gehen und alle, die unter dem Gesetz sündigten, werden durch das Gesetz gerichtet werden. Nicht die sind vor Gott gerecht, die das Gesetz hören, sondern er wird die für gerecht erklären, die das Gesetz tun. Wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, dass ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab, ihre Gedanken klagen sich gegenseitig an und verteidigen sich – an jenem Tag, an dem Gott, wie ich es in meinem Evangelium verkündige, das, was im Menschen verborgen ist, durch Jesus Christus richten wird. Römer 2,12-16

Ist ein Gott, der Ungläubige aufgrund des fehlenden Bekenntnisses bestraft derselbe Gott wie der, der auf das Tun der Menschen und die Früchte ihres Lebens schaut?

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Gott ist! Wie aber kann der Mensch Gott erkennen, wenn Raum und Zeit auch nur einen Hauch von der Ewigkeit getrennt sind?

Ringkampf

Seit der Feststellung des ehemaligen Bundesinnenministers Wolfang Schäuble im Jahr 2006, der Islam gehöre zu Deutschland, jenem Satz, der erst 2010 durch den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff richtig prominent geworden ist7), reißt die Debatte um das Verhältnis des Islam zur westeuropäischen Kultur, die für sich in Anspruch nimmt, in einer jüdisch-christlichen Tradition zu stehen, nicht ab. Die Amplitude der diskursiven Erregung verzeichnete jüngst nach Äußerungen des Regensburger Bischofs Rudolf Vorderholzer einen Spitzenausschlag, der Islam sei eine

„postchristliche Erscheinung, die mit dem Anspruch auftritt, die Kerngehalte des Christentums zu negieren.“8)

Dazu zählen nach Bischof Rudolf Vorderholzer der Glaube an die Dreifaltigkeit, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und seine Erlösungstat am Kreuz9). In diesem Punkt hat Bischof Vorderholzer sicher Recht, denn der Islam definiert sich ja unter anderem gerade dadurch, dass er die Gottsohnschaft Jesu ablehnt und in Jesus „nur“ einen Propheten sieht. So heißt es im Qur’an:

Sie10) sagen: ‚Gott hat sich ein Kind zugelegt.’ Gepriesen sei er! Er ist der, der reich ist. Ihm gehört, was im Himmel und auf der Erde ist. Wollt ihr gegen Gott aussagen, wovon ihr kein Wissen habt. Sag: Denen, die gegen Gott Lügen aushecken, wird es nicht wohl ergehen. Sure 10,68-6911)

Es ist nicht ausgeschlossen darin eine Spielart der christlichen Irrlehre Arians zu sehen, wie es der jüdische Historiker Michael Wolffsohn andeutet, der im Deutschlandfunk feststellt:

„Es [gibt] eine interessante interdisziplinäre Forschergruppe namens Inârah, die – wie ich finde – empirisch wasserdicht nachweist, dass der frühe Islam bis ungefähr 800 unserer Zeitrechnung ein arianisches Christentum war. Ob das nun stimmt oder nicht, das sollen die Spezialisten entscheiden.“12)

In jedem Fall wird mit der Ablehnung der Gottsohnschaft Jesu nicht nur der für das Christentum essentielle Trinitätsglaube abgelehnt, sondern auch die soteriologische, also die erlösungsrelevante Bedeutung von Kreuzestod und Auferstehung Jesu – ja, die Kreuzigung selbst wird im Qur’an in Frage gestellt:

Und weil sie ungläubig waren und gegen Maria eine gewaltige Verleumdung vorbrachten, und sagten: ‚Wir haben Christus Jesus, den Son der Maria und Gesandten Gottes, getötet.’ – Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) gar nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten. Und diejenigen, die über ihn uneins sind, sind im Zweifel über ihn. Sie haben kein Wissen über ihn, gehen vielmehr Vermutungen nach. Und sie haben ihn nicht mit Gewissheit getötet. Nein, Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben. Gott ist mächtig und weise. Sure 4,156-15813)

Trotz der Ablehnung des Kreuzestodes erfährt Jesus als Gesandter Gottes, als Prophet, Wertschätzung. Ist er aber nicht am Kreuz gestorben und von den Toten auferstanden, so fehlt dem christlichen Glauben das Fundament. Gegenüber der Feststellung des Qur’an sind für den christlichen Glauben Kreuzestod und Auferstehung Jesu aber nicht nur essentiell, sondern auch historisch faktisch. Nicht ohne Grund führt Paulus in 1 Korinther 15,5-8 über 513 Zeugen für die Tatsächlichkeit der Auferstehung Jesu vom Kreuzestod Jesu an.

Jesus ist für den Islam „nur“ ein Prophet, für Christen ist er der Messias. Deshalb kann für Christen Mohammed kein Prophet sein, weil mit Jesus Christus die Offenbarung abgeschlossen ist. Für den Islam hingegen ist Mohammed das Siegel der Propheten.

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Sind die drei großen monotheistischen Religionen wirklich nur Spielarten ein und derselben Quelle? Verehren Sie wirklich den gleichen Gott? Wer die Wahrheit sucht, muss zu den Quellen gehen.

Dreiuneinigkeit

Nimmt man das Judentum hinzu, wird die Sachlage noch komplizierter. An diesem Punkt übersieht Bischof Rudolf Vorderholzer, dass seine Islamkritik auch das Judentum trifft, denn auch die Juden lehnen die von ihm insinuierten Kerngehalte des Christentums – Glaube an die Dreifaltigkeit, die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus und seine Erlösungstat am Kreuz – ab. Gleichwohl unterscheiden sich die Juden aber auch von den Muslimen in einem wichtigen Punkt, aus dem heraus sich hingegen wieder die christliche Tradition nährt. Auch wenn die Juden den Glauben an die Dreifaltigkeit als solchen ablehnen, sprechen sie im Unterschied zur erratischen Einheit Gottes im Islam von einer göttlichen Einheit, die gleichzeitig Fülle ist. Gott ist Singular und Plural zugleich. Das wir sowohl in der biblischen Bezeichnung Gottes אלהים (gesprochen: elohim) also auch in der Gottesanrede אדני (gesprochen: adonai) deutlich, die beide von der grammatikalischen Form her pluralisch sind. Gott ist der eine, als der eine also im Plural zu denken.

Diese Einheit Gottes in Fülle bildet die Basis, aus der heraus sich der christliche Glaube an die Dreifaltigkeit entwickeln kann. Das Christentum als solches steht damit in einer jüdischen Tradition und entwickelt sich doch eigenständig weiter. Der Islam hingegen scheint eine ganz eigene Tradition zu sein.

Dieser Befund bildet sich in bemerkenswerter Weise in den je eigenen Begründungen ab. Alle drei Religionen gehen auf den Urvater Abraham zurück. Während Juden und Christen sich allerdings zu dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bekennen, den die Christen dann auch als Gott und Vater Jesu Christi verehren, leiten sich die Muslime von der anderen Abrahamlinie ab, die auf Ismael zurückgeht.

Halbgeschwister

Ismael ist der Sohn der Hagar, einer Magd Abrahams, Isaak hingegen der Sohn Saras, der Frau Abrahams. Ismael ist der Erstgeborene, Isaak der Zweitgeborene. In der Bewertung der beiden Halbgeschwister unterscheiden sich jüdisch-christliche eminent von der islamischen Tradition. Für die jüdisch-christliche Tradition etwa ist es essentiell, dass sich der Glaube Abrahams in der Aufforderung zur Opferung Isaaks, die dann doch eine Bindung Isaaks wird, erweist (vgl. hierzu Genesis 22,1-19), das im Neuen Testament mehrfach in Anspruch genommen wird, um die Christen, seien es Heiden-, seien es Judenchristen, in die Tradition des Volkes Israel zu stellen. So schreibt Paulus:

Von Abraham wird gesagt: Er glaubte Gott, und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet. Daran erkennt ihr, dass nur die, die glauben, Abrahams Söhne sind. Und da die Schrift vorhersah, dass Gott die Heiden aufgrund des Glaubens gerecht macht, hat sie dem Abraham im Voraus verkündet: Durch dich sollen alle Völker Segen erlangen. Also gehören alle, die glauben, zu dem glaubenden Abraham und werden wie er gesegnet. Galater 3,6-9

Für Paulus ist dabei die Rückführung auf die Isaaklinie essentiell, die er in Galater 4,21-25 deutlich von der Ismael-Linie abgrenzt. Es ist gerade das Isaak-Opfer Abrahams, an dem sich die Wirksamkeit des Glaubens Abrahams erweist – ein Gedanke, der mit Blick auf die notwendige Tatwirklichkeit des Glaubens auch im Jakobusbrief aufscheint:

Wurde unser Vater Abraham nicht aufgrund seiner Werke als gerecht anerkannt? Denn er hat seinen Sohn Isaak als Opfer auf den Altar gelegt. Jakobus 2,21

Auch wenn der Qur’an keinen dezidierten Namen nennt, scheint er in Sure 37,102-197 im Unterschied zu Genesis 22,1-18 Ismael als den vorauszusetzen, der von Abraham geopfert werden soll. Er ist es dann auch, der mit Abraham zusammen die Kaaba erbaut (vgl. Sure 2,127) und zu den großen Propheten zählt.

So gesehen führen sich Islam, Christentum und Judentum zwar alle auf den Glauben Abrahams zurück; ihre Wege scheiden sich aber bereits bei den Söhnen Abrahams. Der Islam folgt einer Ismael-Linie, währen Juden und Christen der Isaak-Linie folgen. Juden und Christen auf der einen und der Islam auf der anderen Seite sind Halbgeschwister, Kinder des einen Urvaters Abraham. Ist damit auch ihr Gott derselbe?

Ein Baum bleibt ein Baum

Es ist bemerkenswert, welche unscheinbare und doch bedeutsame Rolle Bäume bisweilen in der Bibel spielen. Nach dem biblischen Zeugnis werden Hagar und Ismael aus der Gefolgschaft Abrahams entfernt, werden aber in der Wüste von Gott beschützt (vgl. Genesis 16). Erst danach erfährt Abraham von der Verheißung der Geburt eines Sohnes Isaak durch seine Frau Sara (vgl. Genesis 17,19). Der Verheißung dieser Geburt folgt die bemerkenswerte Erzählung vom dem Besuch Gottes bei Abraham und seiner Frau Sara, der bei den Eichen von Mamre lagert (vgl. Genesis 18,1-15). Bei diesen Eichen widerfährt Abraham eine Offenbarung:

Der Herr erschien Abraham bei den Eichen von Mamre. Abraham saß zur Zeit der Mittagshitze am Zelteingang. Er blickte auf und sah vor sich drei Männer stehen. Als er sie sah, lief er ihnen vom Zelteingang aus entgegen, warf sich zur Erde nieder. Genesis 18,1-2

Der eine Gott erscheint in dreien – Einheit in Fülle14). Das ist das prägende Bild, dass Abraham nach biblischer Auskunft erst nach der Verstoßung Hagars und Ismaels und vor der Zeugung Isaaks, die der eine Gott in Fülle dem Abraham bei den Eichen von Mamre noch einmal zusagt, begegnet.

Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Abrahambilder von Juden, Christen und Muslimen hier ihre unterschiedliche Ausprägung erfahren und mit ihnen auch die Bilder von Gott. Juden, Christen und Muslime sind alle Kinder Abrahams; ihre unterschiedlichen Traditionslinien und die damit verbundenen Geschichten gewordenen und im den Heiligen Schriften dokumentierten Glaubenserfahrungen begründen aber auch andere Gottesbilder. Der Gott des Islam ist nicht der Gott der Juden und Christen; und auch Juden und Christen unterscheiden sich in der Frage, ob Gott Mensch wird oder nicht.

Die ewige Suche nach dem Leben im Wahren

Man wird also vorsichtig sein müssen und darf nicht vorschnell davon reden, dass alle doch ein und denselben Gott hätten. Das stimmt so nicht. Andererseits darf man sich aber auch nicht in die Gefahr vorschnellen Verurteilungen begeben. Der Islam wäre nicht der Islam, wenn er den christlichen Glauben an den dreieinen Gott bezeugen würde, in dessen Ablehnung die Juden ebenso mit dem Islam einig sind wie in der christlichen Bewertung des erlösenden Handelns Gottes in Kreuzestod und Auferstehung Jesu. Andererseits sind sich Juden und Christen in dem Gedanken nahe, dass der eine Gott Gott in Fülle ist, während dieser Aspekt dem Islam undenkbar erscheint. Für Juden spielt hingegen Jesus Christus keine Rolle, der immerhin im Islam als Prophet verehrt und geschätzt wird.

Die Suche nach dem Ring Nathans geht also weiter. Nathans Waisenkinder sind in der einen Welt verdammt dazu, den Ring der Wahrheit gemeinsam zu suchen. Wer hier wie Bischof Vorderholzer vorschnell auf eine Integration des Islam abhebt, die er für nicht möglich erklärt, vergibt die Chance, gemeinsam in der Suche der Wahrheit voranzuschreiten. Wie so oft könnte hier das Beispiel Jesu handlungsleitend sein, der sich nicht zu schade ist, die samaritischen Frau am Jakobsbrunnen um Wasser zu fragen, eine Angehörige jenes Stammes, mit dem Juden nichts zu schaffen hatten. Die Frage der Frau verwundert daher nicht:

Wie kannst du als Jude mich, eine Samariterin, um Wasser bitten? Johannes 4,9

Von hier aus entspannt sich ein Gespräch um die Wahrheit und das Leben. Die Frau erkennt in Jesus einen Propheten (vgl. Johannes 4,19), wie es auch die Muslime tun. Später offenbart sich Jesus ihr als der Messias (vgl. Johannes 4,26). Ob die Frau diese Offenbarung angenommen hat? Die aufgeregte Frage der Frau, die die Leute hinzuruft, lässt das offen:

Da ließ die Frau ihren Wasserkrug stehen, eilte in den Ort und sagte zu den Leuten: Kommt her, seht, da ist ein Mann, der mir alles gesagt hat, was ich getan habe: Ist er vielleicht der Messias? Johannes 4,28-29

Die Neugier aber ist geweckt. Die Neugier an der Wahrheit ist das, was sie weiter antreiben wird. Die Neugier wurde geweckt, weil sie mit Jesus gesprochen hat. Das Gespräch zwischen den Wahrheitssuchern ist das, was tiefer in die Wahrheit führt – ein Gespräch, das Bischof Vorderholzer mit seiner Aussage leider in weite Ferne rückt.

Der Ring der Wahrheit, er ist noch tief vergraben. Es wird Mühe machen, ihn zu suchen. Eine Mühe, die sich lohnt. Und es gibt viele Fragen wie die, wie mit Widersprüchen in den Heiligen Schriften umzugehen ist: Gilt das Abrogationsprinzip, nach dem jüngere Stellen ältere überschreiben oder das kanonistische Prinzip, nach dem Widersprüche stehen bleiben müssen und einen offenen Deutungsraum schaffen. Was ist Offenbarung und wie ereignet sie sich? Wie wird ein solcher Offenbarungsanspruch legitimiert und wie stehen Offenbarung, historische Fakten und naturwissenschafltiche Erkenntnisse zueinander?

Sucht gemeinsam nach Antworten, Ihr Glaubenden aller Religionen, sonst werdet ihr der Wahrheit Waisen sein. Auf ihr Sucher der Wahrheit legt die Waffen aus der Hand, macht Schwerter zu Pflugscharen und grabt – grabt gemeinsam, denn der Ring liegt tief.

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Bildnachweis

Titelbild: Feuerring (cosmoflash) – Quelle: flickr – lizenziert als CC BY-SA 2.0.

Bild 1: Camille Flammarion, L’Atmosphère: Météorologie Populaire (Paris, 1888), pp. 163 – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei.

Bild 2: Michelangelo, Die Erschaffung des Adam – Sixtinische Kapelle (1475) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei.

Bild 3: Löwenbrunnen der Abtei Maria Lasch (Reinhard Hause) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC BY-SA 3.0.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 2010.
2. In diesem Zusammenhang sei die Einschätzung Martin Luthers erwähnt, der 1528 in der Vorrede zu seinem Psalmbuch schreibt: „Und solt [der Psalter] allein des halben theur vnd lieb sein, das von Christus sterben vnd auffersten, so klerlich verheisset, vnd sein reich vnd der gantzen Christenheit stand vnd wesen furbildet, das es wol mocht ein kleine Biblia heissen“ (Martin Luther, Werke. Kritische Gesamtausgabe Die Deutsche Bibel, Bd. 1ff, Weimar 1906ff., hier: Bd. 10/1, 98.20-22).
3. Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 2010.
4. Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 2010.
5. Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 2010.
6. Im Psalter ist Psalm 2, der zusammen mit Psalm 1 das Eingangsportal des Psalmbuches bildet, nicht weit von einer solchen Gegenüberstellung entfernt, wenn er danach fragt, warum die Völker toben. Freilich geht es in Psalm 2 nicht um Gläubige und Ungläubige, sondern zuvorderst um die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zum Volk Israel. Von hierher ist auch ein möglicher Konversionsgedanke ausgeschlossen. Vielmehr wird Respekt für Gott und seinem Volk bzw. dem von Gott eingesetzten König gefordert.
7. Vgl. hierzu Mely Kiyak, Die größtmögliche Provokation, in: Zeit online, 14.1.2015, Quelle: http://www.zeit.de/kultur/2015-01/islam-deutschland-deutschstunde [Stand: 5. Februar 2017].
8. Zitiert nach Markus Nolte, Vorderholzer hält Integration des Islam für unmöglich, in: kiche+leben Netz (Katholisches Online Magazin), 30.1.2017, Quelle: https://www.kirche-und-leben.de/artikel/voderholzer-haelt-integration-des-islam-fuer-unmoeglich/ [Stand: 5. Februar 2017].
9. Vgl. hierzu Markus Nolte, Vorderholzer hält Integration des Islam für unmöglich, in: kiche+leben Netz (Katholisches Online Magazin), 30.1.2017, Quelle: https://www.kirche-und-leben.de/artikel/voderholzer-haelt-integration-des-islam-fuer-unmoeglich/ [Stand: 5. Februar 2017].
10. Unklar ist, ob hier die Ungläubigen oder die Christen gemeint sind.
11. Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 2010.
12. Deutschlandfunk, Trinität als Politikum – Michael Wolffsohn im Gespräch mit Andreas Main, 12.1.2017, Quelle: http://www.deutschlandfunk.de/dreifaltigkeit-gottes-trinitaet-als-politikum.886.de.html?dram:article_id=375988 [Stand: 5. Februar 2017].
13. Übersetzung von Rudi Paret, Der Koran, Stuttgart 2010.
14. Die Formulierung in Genesis 18,1-2 insinuiert, dass Gott in Dreien erscheint. Genesis 19,1 löst das in Verbindung mit Genesis 18,22 auf, sodass das Dreierbild nun Gott in Begleitung von zwei Engeln darzustellen scheint. Davon aber ist in 18,1-2 noch nicht die Rede, so dass textdramaturgisch die Fülle des einen Gottes vorgestellt wird, die im Übrigen auch nach der semantischen Aufschlüssellung in Genesis 18,22 und Genesis 19,1 erhalten bleibt, handeln die Engel doch an Gottes statt. Offenkundig ist genau dieser Aspekt des einen Gottes in Fülle das, was Abraham offenbar werden soll.
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