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Ethica·Exegetica

Der Nächste? Nächstenliebe in Zeiten der Flüchtlingskrise


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Wer ist mein Nächster? Für einen Christen hat die Antwort auf diese Frage grundlegende Bedeutung im Kontext der sogenannten „Flüchtlingskrise“. „Es ist unter rechten Christen 
beliebt, die Nächstenliebe örtlich zu verengen und Flüchtlinge als ‚Fernste‘ davon auszuschließen,“1) erklärt die Juristin und Publizistin Liane Bednarz. Aber wie das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter im Neuen Testament zeigt, ist die Bedingung für den handelnden Liebeserweis nicht die örtliche Nähe, sondern das helfende Handeln, das die Distanz überbrückt. Nähe und Ferne sind relative Kategorien. Am Ende des Gleichnisses über den Priester und den Leviten, die den Halbtoten am Wegesrand unbeachtet liegen lassen, und dem Samariter, der ihm hilft, stellt Jesus seinem Gesprächspartner, dem Gesetzeslehrer, folgende Frage:

Wer von diesen dreien meinst du, ist dem der Nächste geworden, der von den Räubern überfallen wurde? Lukas 10,36

Werner Kleine hat in seinem Beitrag der vergangenen Woche hier auf www.dei-verbum.de auf die Besonderheit dieser Frage hingewiesen und die für Christen entscheidende Definition der Nächstenliebe gegeben: „Die Frage lautet eben nicht, wer ist der Nächste gewesen, sondern wer ist ihm zum Nächsten geworden (γεγονέναι – gesprochen: gegonénai)! Sehen und dann handeln – das ist das Wesen der Nächstenliebe.“.2) Nun könnte man einwenden, dass diese Art der Nächstenliebe nur für die individuelle Alltagsethik relevant ist und keine politische Relevanz besitzt. Im Alten Testament, innerhalb des Gesetzes des Volkes Israel, ist die Nächstenliebe ja scheinbar auf das eigene Volk begrenzt.

Der Nächste?

Die Nächstenliebe ist keine christliche Erfindung. Auf die Frage nach dem wichtigsten Gebot verweist Jesus Christus im Doppelgebot der Liebe auf zwei alttestamentliche Bibelstellen:

Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste? Er antwortete ihm: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken [Deuteronomium 6,5]. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst [Levitikus 19,18]. An diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten. Matthäus 22,36-40

Das hier mit „Nächsten“ wiedergegebene griechische Wort ist πλησίον (gesprochen: plesion). Es zeigt Nähe an: „der Nächste“. In der zitierten Stelle aus dem Buch Levitikus steht im hebräischen Text der Begriff רֵעַ (gesprochen: rea). Der Kontext legt nahe, dass neben den verwendeten Begriffen „Bruder“, „Mitbürger“, „Kinder deines Volkes“ auch „der Nächste“ den Mit-Israeliten bezeichnet.

Du sollst in deinem Herzen keinen Hass gegen deinen Bruder tragen. Weise deinen Mitbürger zurecht, so wirst du seinetwegen keine Sünde auf dich laden. An den Kindern deines Volkes sollst du dich nicht rächen und ihnen nichts nachtragen. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Ich bin der HERR. Levitikus 19,18

Während jedoch die ersten drei Begriffe deutlich auf die Volksgemeinschaft bezogen sind, ist der Begriff „der Nächste“ in seiner Bedeutung offen.3) Es kann „Nächster“, „Liebhaber“, „Freund“, „Verbündeter“ bedeuten oder gar einfach ganz unspezifisch „einen anderen Mann“ bezeichnen (zu letzterem vgl. 2 Sam 12,11). Zum Beispiel werden beim Auszug aus Ägypten die Ägypter mit diesem Wort als Nachbarn der Israeliten bezeichnet (Ex 11,2). Mit diesem Wort wird der Kanaanäer Hira aus Adullam als loyaler Partner Judas charakterisiert (Genesis 38,12.20). Von der Wortbedeutung her lässt sich die Liebe zum Nächsten also nicht auf völkische Grenzen beschränken. Dass die Grenzen der Nächstenliebe bereits im Buch Levitikus diskutiert wurden, darauf könnte ein späterer Vers im selben Kapitel hinweisen.

Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der HERR, euer Gott. Levitikus 19,34

Explizit wird hier ausgesagt, dass die Liebe zu den Mitmenschen sich nicht nur auf die Israeliten zu begrenzen hat. Auch Ausländer, die sich dauerhaft im Land befinden, stehen unter dem besonderen Schutz des Gesetzes. Dass dieses Gebot im Zusammenhang mit dem Gebot der Nächstenliebe zu verstehen ist, verdeutlich sich durch einen auffallenden wörtlichen Verweis. Nur hier und in der Formulierung des Gebots der Nächstenliebe heißt es „du sollst [ihn] lieben wie dich selbst“. Wenn die Nächstenliebe also nicht nur auf die Volksgenossen begrenzt ist, sondern keinen Unterschied zwischen den Menschen innerhalb der Landesgrenzen macht, was ist dann mit den Flüchtlingen, die verzweifelt versuchen nach Europa zu kommen?

Der Flüchtling

Im nachbiblischen Judentum der Antike wurde das Gebot der Nächstenliebe ebenso wie im Neuen Testament als Zusammenfassung des Willen Gottes verstanden (vgl. Römer 13,10). In einer der schriftlich niedergelegten Diskussionen verweist einer der Rabbinen darauf, dass jedoch eine Bibelstelle noch grundlegender für das ethisch richtige Handeln sei: „Es ist das Buch der Geburtsfolge des Menschen (Genesis 5,1) ein wichtigerer Grundsatz als dieser [das Gebot der Nächstenliebe].“4) Die Bibel betont bereits am Anfang im Buch Genesis, dass alle Menschen und alle Völker von einem Menschenpaar abstammen und im biblischen Sinne „Brüder“ bzw. „Geschwister“ sind.

Dies ist das Buch der Geschlechterfolge Adams: Am Tag, da Gott den Menschen erschuf, machte er ihn Gott ähnlich. Genesis 5,1

Zum Beispiel ist das Volk Edom ein Brudervolk von Israel, da es auf Jakobs Bruder Esau als deren Ahnvater zurückgeführt wird (Deuteronomium 2,1-7). Auch wenn Edom ein anderer Staat mit einer anderen Religion war. Als die Babylonier Jerusalem zerstörten und Israel ins Exil zwangen, fordert Gott von den Edomitern Nächstenliebe als Menschenliebe im Angesicht des Flüchtlingsschicksals der Israeliten:

Stell dich nicht am Engpass auf, um seine Flüchtlinge niederzumachen! Liefere seine Entflohenen nicht aus am Tag der Not! Obadja 14

Verstellen wir Flüchtlingen bewusst ihre Wege? Schieben wir Schutzbedürftige einfach ab? Oder lassen wir die notleidenden Menschen unsere Nächsten werden innerhalb und außerhalb von künstlich errichteten Grenzen?

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Bildnachweis

Titelbild: Fuir la mort en Libye, fotografiert von Magharebiat. Lizenz: CC BY 2.0.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Wo die Rechten predigen“, Interview mit Liane Bednarz, chrismon, 28.6.2018 [Stand: 15. Juli 2018].
2. Der Nächste, bitte!“, Werner Kleine, Dei Verbum, 10.07.2018 [Stand: 15. Juli 2018].
3. Zu den Auslegungproblemen von Levitikus 19,18 ausfürhlicher: “Selbstliebe als biblische Botschaft?“, Till Magnus Steiner, Dei Verbum, 01.11.2016 [Stand: 15. Juli 2018].
4. Sifra, Kedoshim 4:12
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