Kapitel
Ecclesiastica·Pastoralia·Res publica

Der Hilfeschrei des Opfers Eine Perspektive im Missbrauchsskandal

Werden Priester dazu geweiht, Kinder sexuell zu missbrauchen? Ist es der Auftrag der Kirche, diese Taten zu verdecken, dann Empörung zu äußern, aber strukturell ihren Blick vom Himmel abzuwenden? Es reicht nicht, sich für seine Kirche zu schämen. Man muss ihr nicht nur die Messe, sondern die Leviten lesen. Im Klosterleben der Benediktiner gehörten im Mittelalter, bereits ab dem 8. Jahrhundert, Andachts- und Bußübungen zum Lebensrhythmus, bei denen aus dem Buch Levitikus die kultischen und ethischen Verhaltensmaßregeln zum Tadel und zur Ermahnung immer wieder vorgelesen wurden. Mehrfach wird das Volk Israel in diesem Buch aufgefordert „heilig zu sein“ (siehe „Heiligkeit als Standard“):

Erweist euch als heilig und seid heilig, weil ich heilig bin. Levitikus 11,44 (siehe auch Levitikus 20,7)

Das eigene Handeln an Gott auszurichten, ist nicht nur ein Standard für das auserwählte Volk Israel, sondern im Ersten Petrusbrief wird diese Forderung auch zum Maßstab für alle Christen:

Als Kinder des Gehorsams gebt euch nicht den Begierden hin, wie früher in eurer Unwissenheit! Wie er, der euch berufen hat, heilig ist, so soll auch eure ganze Lebensführung heilig sein. Denn es steht geschrieben: Seid heilig, weil ich heilig bin! Und wenn ihr den als Vater anruft, der jeden ohne Ansehen der Person nach seinem Tun beurteilt, dann führt auch, solange ihr in der Fremde seid, ein Leben in Gottesfurcht! Erster Petrusbrief 1,14-17

Heiligkeit ist kein äußerer Besitz. Entscheidend ist nicht das Ansehen einer Person, sondern das vor Gott zu verantwortende Handeln. Ein Amt allein führt nicht zu einem gottgewollten Leben.

Machtmissbrauch

Die Erzählung über Susanna im Anhang des Buches Daniel könnte der Katholischen Kirche wichtige Impulse im Missbrauchsskandal geben. Susanna ist eine gottesfürchtige Frau, die im Gesetz Gottes erzogen wurde. Ihr stehen die zwei amtierenden Richter, zwei der Ältesten, gegenüber, die gemäß dem Gesetz Gottes über das Volk urteilen sollten, aber ihr Amt pervertieren:

Die beiden Ältesten sahen sie [= Susanna] täglich kommen und umhergehen; da regte sich in ihnen die Begierde nach ihr. Ihre Gedanken gerieten auf Abwege und sie wandten ihre Augen davon ab, zum Himmel zu schauen und an die gerechten Strafen zu denken. Daniel 13,8-9

Anstatt gottesfürchtig ihr Amt zu erfüllen, missbrauchen sie es. In ihrer Geilheit lauern sie Susanna auf, und drohen der verheirateten Frau mit Verleumdung und Todesstrafe, wenn sie ihnen nicht sexuell gefügig ist:

Das Gartentor ist verschlossen und niemand sieht uns; wir [= die beiden Ältesten] sind voll Begierde nach dir [= Susanna]: Sei uns zu Willen und gib dich uns hin! Weigerst du dich, dann bezeugen wir gegen dich, dass ein junger Mann bei dir war … Daniel 13,20-21

Ihre Situation ist aussichtslos: Entweder gibt Susanna sich ihren Vergewaltigern hin oder die beiden Ältesten werden sie des Ehebruchs bezichtigen, was die Todesstrafe für sie bedeutet. Die Erzählung räumt Susanna eine Möglichkeit ein, die Opfer von sexuellem Missbrauch meistens nicht besitzen. Sie verweigert sich und wird nicht vergewaltigt – und ein Schreiwettkampf beginnt:

Da schrie Susanna mit lauter Stimme auf. Aber zugleich mit ihr schrien auch die beiden Ältesten. Daniel 13,24

Susannas Schrei nach Hilfe bedeutet ihr Todesurteil. Das Schreien der Ältesten ist der Versuch das Leid des Opfers zu übertönen. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft, die zur Hilfe gerufen ist, richtet sich jedoch nicht auf Gerechtigkeit, sondern auf das Ansehen. Die Ältesten legen eine Falschaussage gegen Susanna ab: Sie sei von Ihnen beim Ehebruch mit einem unbekannten Mann erwischt worden – und das Amt scheint wichtiger als die Wahrheit zu sein:

Die versammelte Gemeinde glaubte ihnen, weil sie Älteste des Volkes und Richter waren, und verurteilten Susanna zum Tod. Daniel 13,41

Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist lauter und damit stärker als irgendeine menschliche Autorität. Denn das Gebet der Unterdrückten wird von Gott gehört:

Susanna aber schrie auf mit lauter Stimme und sagte: Ewiger Gott, du kennst auch das Verborgene; du weißt alles, noch bevor es geschieht. Du weißt auch, dass sie eine falsche Aussage gegen mich gemacht haben. Darum muss ich jetzt sterben, obwohl ich nichts von dem getan habe, was diese Menschen mir vorwerfen. Daniel 13,42-43

Gott erhört den Hilfeschrei Susannas und beruft keinen Würdenträger, sondern einfach „einen jungen Mann“, Daniel, um ihr zur Hilfe zu eilen. Nicht sein Ansehen ist entscheidend, sondern sein Wille zur Gerechtigkeit:

Dieser schrie mit lauter Stimme: Ich bin unschuldig am Blut dieser Frau. Da wandten sich alle Leute nach ihm um und fragten ihn: Was soll das heißen, was du da gesagt hast? Er trat mitten unter sie und sagte: Seid ihr so töricht, ihr Söhne Israels? Ohne Verhör und ohne Prüfung der Beweise habt ihr eine Tochter Israels verurteilt. Daniel 13,46-48

Daniel befragt die Richter getrennt von einander und deckt durch die Unterschiede in ihren Aussagen ihr Unrecht auf. Die Richter werden zu Verurteilten. Es wird offenbar, wer sie sind: Die wegen ihres Amtes Wertgeschätzten sind in Wahrheit nicht gottesfürchtig, sondern trieb- und machtgesteuert.

Die Lehre

Mit der Bibel kann sich jeder Gläubige und die Kirche insgesamt sicher sein, dass die Schreie der Opfer von Gott erhört werden. Gott steht auf der Seite Susannas, nicht auf der Seite der zwei Ältesten, die als Richter ihre Macht missbraucht haben. Die gehörten und ungehörten Hilferufe sind eine direkte Anklage nicht nur gegen die Täter, sondern auch gegen diejenigen, die ihren Blick auf das Amt statt auf die Opfer und auf den Himmel gerichtet haben. Wer wird wie Daniel nun gegen die Täter und gegen die Kirche seine Stimme erheben und durch ein gerechtes Gericht Gottes Willen auf Erden durchsetzen?


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Bildnachweis

Titelbild: Ausschnitt aus dem Gemälde ” Susanna e i vecchioni” von Artemisia Gentileschi. Lizenz: gemeinfrei.

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