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Exegetica

Von der Frau zur Jungfrau Eine nicht nur neutestamentliche Suche von Spuren göttlicher Logik


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Die heilige Nacht interessierte im frühen Christentum kaum jemanden. Es ist schon erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit das Neue Testament den Ereignissen in Betlehem widmet. Nicht die Menschwerdung Gottes war das zentrale Datum des frühchristlichen Glaubensbekenntnisses, sondern Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi. Dementsprechend lautet das von Paulus im 1. Korintherbrief überlieferte Glaubensbekenntnis:

Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. 1 Korinther 15,3-5

Die Einleitung macht deutlich, dass das Glaubensbekenntnis stammt nicht von ihm selbst stammt. Er findet es schon vor. Es ist ihm nicht offenbart worden. Sein Ursprung muss also vor seiner eigenen Bekehrung liegen1). In ihm ist der Kern des Glaubens der Christusnachfolger formelhaft verdichtet worden: der Glaube an den vom Kreuzestod Auferstandenen. Paulus betont in der Folge gleich zweimal, wie bedeutsam dieses Bekenntnis ist, auf dem allein der christliche Glaube beruht:

Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos. 1 Korinther 15,14

Und wenige Verse später noch einmal:

Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos und ihr seid immer noch in euren Sünden; und auch die in Christus Entschlafenen sind dann verloren. 1 Korinther 15,17-18

Erkenntnis braucht Deutung

Das in Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi enthaltene Paradox der gottgewirkten Auferweckung eines Gottverlassenen wirft aber die Frage auf, wer dieser Jesus von Nazareth ist. Es ist der Beginn der christlich-theologischen Reflexion. In den neutestamentlichen Schriften liegen kerygmatische Dokumente vor. Sie reflektieren die Ereignisse aus der Sicht derer, die an die Tatsächlichkeit der Auferstehung glauben. Paulus legt dabei Wert darauf, dass es sich hierbei nicht um ein Hirngespinst handelt, sondern um eine vernünftige Erkenntnis2). Auf der Basis dieser Erkenntnis kann man Theologie treiben. Theologie ist Deutung von Erfahrungen und Ereignissen auf dem Hintergrund des Axioms, dass ein Gott ist. Für die neutestamentlichen Schriftsteller gilt dieses Axiom. Mehr noch: Für sie ist Gott der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Gott, der mit Noah, Abraham und Mose einen Bund geschlossen hat, der Gott, der Israel als seinem auserwählten Volk die Torah als Weisung gegeben hat, der Gott, der in der Geschichte mit seinem Volk gegangen ist und der zu ihm durch Propheten gesprochen hat; eben der Gott, der in den Schriften, die die Christen heute als „Altes Testament“ bezeichnen, bezeugt wird. Wer also auf diesem Hintergrund Kreuzestod und Auferstehung des Jesus von Nazareth verstehen will, ja wer sogar danach fragt, wer denn dieser Jesus von Nazareth ist, der wird die Antwort in den Schriften suchen. Und genau das machen die neutestamentlichen Schriftsteller. Sie erforschen die Schriften des heute sogenannten Alten Testaments und interpretieren sie mit Blick auf Jesus.

Die Notwendigkeit der Deutung

Zu deuten ist eine Notwendigkeit, um die niemand herum kommt. Jede Kommunikation bedarf der Deutung, auch die Kommunikation mit Heiligen Schriften. Die Aussage „Es steht doch geschrieben“ alleine genügt nicht. Die menschliche Sprache ist zu keiner absoluten Eindeutigkeit fähig. Das gilt auch für Heilige Schriften, die ja immer in menschlicher Sprache vorliegen. Erst durch Deutung bekommen sie Bedeutung. Jede Deutung aber muss sich im Falle Heiliger Schriften am Text und durch den Text seine innere und äußere Dramaturgie verifizieren lassen.

Für die Frage, wer denn dieser Jesus von Nazareth überhaupt ist, heißt das zuerst, das in Kreuzestod und Auferstehung Jesu enthaltene Paradox zu verstehen. In einem ebenfalls von Paulus überlieferten frühchristlichen Hymnus wird deutlich, dass bereits in frühester Zeit die Erkenntnis bei den Glaubenden Raum gegriffen hat, dass Jesus selbst göttlicher Herkunft gewesen ist. So besingt es jedenfalls der sogenannte Philipperhymnus, in dem die κένωσις (gesprochen: kénosis – „Entäußerung“) Jesu eine wesentliche Rolle spielt:

Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte (ἐκένωσεν – gesprochen: ekénosen) sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: ,Jesus Christus ist der Herr.’ – zur Ehre Gottes, des Vaters. Philipper 2,6-11

Im Hymnus wird erkennbar die Menschwerdung Jesu besungen, die als „Gleichwerden“ dessen verstanden wird, der ursprünglich gottgleich war. Der Vorgang an sich wird als „Entäußerung“ verstanden. Jesus „entleert“ sich gewissermaßen seiner Göttlichkeit und nimmt menschliche Gestalt an, wobei das griechische Original in Philipper 2,7 vor allem betont, dass er die Gestalt eines Sklaven3) annahm (μορφὴν δούλου λαβών – gesprochen: morphèn doúlou labón – wörtlich: Gestalt eines Sklaven nehmend).

GraffitiKrippe2015-Menschwerdung
Das Wort wird Fleisch - Gott wird Mensch - Ausschnitt aus der Wuppertaler Graffiti-Krippe 2015.

Eine Nebensächlichkeit mit Bedeutung

Der ursprüngliche Gedanke der Menschwerdung war also nicht der der Inkarnation, sondern der der Kenosis, der Entäußerung. Der Prozess wird so von der Perspektive Gottes her gedacht. Gleichwohl führt die Kenosis zur Inkarnation, zur Fleischwerdung – ein Aspekt, der zwischen 90 und 100 n.Chr. im Johannesprolog sprachliche Gestalt annimmt:

Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit. Johannes 1,14

Die Aussage der Kenosis von Philipper 2,7 korrespondiert also in gewisser Weise mit der von Johannes 1,14. Sie spiegeln gewissermaßen zwei Seiten ein und derselben Medaille wieder. Gleichwohl ist die Ausdrucksweise von Johannes 1,14 drastisch: καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο (gesprochen: kaì ho lógos sàrx egéneto – „und das Wort ist Fleisch geworden“). Fleisch (griechisch: σάρξ – gesprochen: sárx) – das ist sehr materialistisch gesprochen. Das lässt sich nicht mehr spiritualisieren. Ließ die Kenosis in Philipper 2,7 und die Rede von dem „Gestalt annehmen“ noch wenigstens potentiell die Möglichkeit einer spiritualisierenden Menschwerdung offen, wird dies durch die johanneische Rede unmöglich gemacht. Der Logos (λόγος) – im folgenden übersetzt mit „Wort“ – aber ist göttlichen Ursprungs:

Im Anfang war das Wort (λόγος), und das Wort (λόγος) war bei Gott, und das Wort (λόγος) war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort (λόγος) geworden und ohne das Wort (λόγος) wurde nichts, was geworden ist. Johannes 1,1-3

Auch hier wird also der göttliche Ursprung des Fleischgewordenen betont. In Jesus, dem fleischgewordenen Wort, kommen Göttlichkeit und fleischliche Menschlichkeit zusammen. Bereits gut zweihundert Jahre vor der dogmatischen Entscheidung der Wesensgleichheit auf dem Konzil von Nicäa (325 n.Chr.) und mehr als dreihundert Jahre vor der Zwei-Naturen-Lehre auf dem Konzil von Chalcedon (451 n.Chr.), als dem Bekenntnis, Jesus Christus, sei wahrer Gott und wahrer Mensch, finden sich die Wurzeln dieser christologischen Reflexion in den Schriften des Neuen Testaments.

Es bleibt allerdings die Frage, wie sich denn die Fleischannahme des ewigen göttlichen Logos zugetragen hat. Aus Sicht der hehren Dogmatik ist das sicher eine Nebensache, die auch Paulus so abhandelt, wenn er im Galaterbrief lapidar schreibt:

Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt. Galater 4,4

„Geboren von einer Frau“ – mehr hat Paulus dazu nicht zu sagen. Er nennt noch nicht einmal den Namen dieser Frau (griechisch: γυνή – gesprochen: gyné). Es reicht, dass Jesus nach Menschart geboren wurde und so menschliche Gestalt annahm. Alles andere scheint für Paulus nebensächlich zu sein. Und doch ist diese Nebensächlichkeit von Bedeutung, denn die bloße Tatsache des Geborenwerdens eines Gottursprünglichen von einer Frau wirft doch Fragen auf.

Pfadfinder der Menschwerdung Gottes

Wie wenig Beachtung man in neutestamentlichen Zeiten dem Vorgang der Menschwerdung Gottes zugesprochen wurde, zeigt der Befund, dass das älteste Evangelium – das Markusevangelium – keine Weihnachtserzählung kennt; es beginnt mit den Schilderungen der Ereignisse um die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer und dem damit verbundenen Beginn des öffentlichen Wirkens des erwachsenen Jesus von Nazareth. Die beiden anderen Synoptiker aber, Matthäus und Lukas, füllen diese Lücke. Dabei sind die Weihnachtserzählungen von Matthäus und Lukas nur dahingehend kompatibel, dass Jesus in Bethlehem geboren wurde, schließlich in Nazareth aufwächst, dass seine Mutter Maria heißt und das zu dieser Familie noch Josef als Ziehvater4) gehört. Ansonsten weisen beide Erzählungen eine individuelle Ausprägung auf. Matthäus etwa berichtet von der Huldigung der persischen Sterndeuter (Matthäus 2,1-12), dem von Herodes veranlassten bethlehemitischen Kindermord (Matthäus 2,16-18) und der Flucht Jesu mit seiner Familie nach Ägypten (Matthäus 2,13-15) sowie der Übersiedelung der Familie nach Nazareth (Matthäus 2,19-23). Lukas hingegen leitet sein Evangelium mit einer Gegenüberstellung der Zeugungs- und Geburtserzählungen von Johannes dem Täufer und Jesus von Nazareth ein. Er kennt außerdem noch verschiedene Kindheitsgeschichten, wie die Darstellung Jesu im Tempel (Lukas 2,21-40) sowie die Erzählung vom zwölfjährigen Jesus unter/zwischen den Schriftgelehrten (Lukas 2,41-52)5).

Beiden Evangelisten gemein ist auch das Wissen um die Jungfräulichkeit der Mutter Jesu. Freilich spielt sie im Matthäusevangelium eine eher beiläufige Rolle. Der lakonische Hinweis,

dass sie [sc. Maria, WK] ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes Matthäus 11,18b

wird dem (ver-)zweifelnden Josef gegenüber lediglich durch das Zitat von Jesaja 7,14 unterstrichen, das der ihm im Traum erscheinende Engel als Beleg für die Lauterkeit Mariens anführt:

Seht, die Jungfrau wird ein Kind empfangen, einen Sohn wird sie gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben, das heißt übersetzt: Gott ist mit uns. Matthäus 1,23

Lukas hingegen widmet der jungfräulichen Empfängnis des Gottessohnes eine ausführliche Schilderung (vgl. Lukas 1,26-38). Gleich zu Anfang wird die Jungfräulichkeit Mariens mehrfach betont:

Im sechsten Monat wurde der Engel Gabriel von Gott in eine Stadt in Galiläa namens Nazareth zu einer Jungfrau gesandt. Sie war mit einem Mann namens Josef verlobt, der aus dem Haus David stammte. Der Name der Jungfrau war Maria. Lukas 1,26-27

An späterer Stelle lässt Lukas Maria nach der Ankündigung der Empfängnis überdies sagen:

Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Lukas 1,34

Henry_Ossawa_Tanner_-_The_Annunciation
Henry Ossawa Tanner - The Annunciation (1898). Kenosis und Inkarnation - Entäußerung und Fleischwerdung - Maria, ein verschüchtertes junges Mädchen erfährt die Begegnung von Ewigkeit und Zeit.

Die Theo-Logik der Jungfrauengeburt

Das mangelnde Erkennen eines Mannes ist dabei mehr als eine vornehme Umschreibung eines noch nicht stattgefunden habenden geschlechtlichen Verkehrs. Die hier verwendete griechische Verbform γινώσκω (gesprochen: ginósko – ich erkenne) ist vom Tempus her ein Präsens; es bezeichnet als einen andauernden Zustand6). Maria weiß gleichwohl um die Notwendigkeit eins Mannes für die Zeugung. Aber sie weiß eben noch nicht, wie es geht. Sie ist im wahrsten Sinn eine junge Frau – die Altersangaben schwanken zwischen 12 und 15 Jahren – die von derlei Dingen noch keine Ahnung, geschweige denn Erfahrung mit ihnen hat. Jede junge Frau ist in diesem Sinn daher immer auch Jungfrau7).

Lukas betont aber nicht nur mehrfach die Jungfräulichkeit Mariens und ihre sexuelle Unberührt- und Unerfahrenheit; er betont auch den göttlichen Ursprung des so verheißenen Neugeborenen:

Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen, und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden. Lukas 1,35

Es sind oft die kleinen Worte, die das Wort Gottes groß machen. Hier ist es das deutsche „deshalb auch“, mit dem die beiden kleinen griechischen Partikel διὸ καί (gesprochen: diò kaí) wiedergeben werden. Jesus wird Sohn Gottes und heilig genannt werden, weil(!) Gott wirklich der Vater ist. Sonst wäre „Sohn Gottes“ nur titulär zu verstehen, wie es etwa in 2 Samuel 7,14 der Fall ist. Jesus ist aber Sohn Gottes in mehr als einem nur titulären Sinn, wie ihn auch die Kaiser für sich in Anspruch nahmen. Jesus ist wirklich und wahrhaftig Sohn Gottes. In ihm ist Gott wirksam, weil er göttlichen Ursprungs ist. In einem theo-logisch induktiven Schluss hat der sich sich seiner Göttlichkeit entäußernde und fleischliche Gestalt Annehmende eben diese fleischliche Seite von seiner Mutter erhalten; eine Geburt und Fleischwerdung ist grundsätzliche ohne Mutter nicht möglich! Folglich also muss Gott der Ursprung der Göttlichkeit sein. Das mag biologisch fragwürdig klingen; theologisch ist es eine logische Notwendigkeit, die Lukas erzählerisch ausmalt und betont.

Vergrößern

Salome
Die ungläubige Hebamme Salome, Elfenbeinschnitzerei auf dem Bischofsstuhl des Maximian in Ravenna. Bild zeigt die Szene aus dem Protoevangelium des Jakobus. Salome präsentiert Maria ihre verdorrte Hand.

Ein alter biologischer Zweifel

Was theo-logisch klar ist und doch der allgemeinen biologischen Kenntnis widerspricht, bleibt unbefriedigend. Schon Lukas betont ja die Besonderheit der Umstände, wenn er den Engel Gabriel sagen lässt:

Denn für Gott ist nichts unmöglich. Lukas 1,37

Der biologische Zweifel, der so viele heute angesichts dieser Erzählung nicht loslässt, muss aber schon in frühchristlichen Zeiten virulent gewesen sein. So findet sich im apokryphen Protoevangelium des Jakobus8) eine bemerkenswerte Erwähnung von zwei Hebammen. Die eine Hebamme, die betont als „hebräische“ Hebamme vorgestellt wird, wirkt unmittelbar bei der Geburt Jesu mit:

Und sie standen an dem Platz, wo die Höhle war, und siehe, eine lichte Wolke hüllte die Höhle in Schatten. Da sagte die Hebamme: »Erhoben ist heute meine Seele. Denn meine Augen haben Wunderbares gesehen; denn für Israel ist Heil geboren worden.« Und sogleich verzog sich die Wolke aus der Höhle, und es erschien ein gewaltiges Licht in der Höhle, so dass unsere Augen es nicht ertragen konnten. Und nach kurzer Zeit verschwand jenes Licht, bis das Kind zu sehen war; und es kam und nahm die Brust von seiner Mutter Maria. Und die Hebamme schrie auf und rief: »Groß ist der Tag heute für mich, dass ich dieses neue Schauspiel habe sehen dürfen!« und die Hebamme verließ die Höhle. Protoevangelium des Jakobus 19,2

Die Geburt wird in der apokryphen Schrift also als wunderbares Ereignis beschrieben. Eine Hebamme – also eine objektive Fachfrau, die doch von den üblichen natürlichen Umständen weiß – wird Zeugin der Ereignisse. Nachdem diese die Geburtsgrotte verlassen hat, begegnet sie ihrer Kollegin Salome, der sie das Erlebte sofort erzählt:

Da begegnete ihr Salome, und sie sagte zu ihr: »Salome, Salome! Ein neues Schauspiel habe ich dir zu erzählen: eine Jungfrau hat geboren, was doch ihre Natur gar nicht erlaubt!« Da sagte Salome: »So wahr der Herr, mein Gott, lebt, wenn ich meinen Finger nicht anlege und ihren Zustand untersuche, so glaube ich nicht, dass eine Jungfrau geboren hat.« Protoevangelium des Jakobus 19,3

Salome erscheint hier fast wie Thomas der Zweifler, der erst an die Auferstehung des Gekreuzigten zu glauben vermag, wenn er seine Finger in dessen Wunden legen darf (vgl. Johannes 20,24-29). Und tatsächlich verschafft sich die Hebamme Salome selbst Gewissheit über das ihr Geschilderte, was nicht ohne Folgen für sie bleibt:

Und die Hebamme ging hinein und sagte zu Maria: »Lege dich zurecht! Denn kein geringfügiger Streit ist um dich im Gange.« Und Salome untersuchte unter Anlegen ihres Fingers ihren Zustand. Dann stieß sie Klagerufe aus und rief: »Wehe über mein Unrecht und meinen Unglauben! Denn ich habe den lebendigen Gott versucht. Siehe da, meine Hand fällt verbrannt von mir ab!« und sie beugte ihre Knie vor dem Gebieter und sprach: »Gott meiner Väter! Gedenke meiner, dass ich Same Abrahams und Isaaks und Jakobs bin! Gib mich nicht vor den Kindern Israel der Schande preis, sondern gib mich den Armen wieder! Denn du weißt, Gebieter, dass ich auf deinen Namen hin meinen Dienst an Armen und Kranken ohne Entgelt ausübe und meinen Lohn dafür von dir empfing.« und siehe, ein Engel des Herrn trat herzu und sprach zu ihr: »Salome/ Salome! Erhört hat dich der Herr. Leg deine Hand an das Kindlein und trage es! Rettung und Freude wird dir zuteil werden.« Und Salome trat heran und trug es und sagte dabei: »Ich will ihm meine Verehrung darbringen, denn als großer König für Israel ist es geboren worden.« Und siehe, sogleich war Salome geheilt, und sie verließ die Höhle gerechtfertigt. Und siehe, eine Stimme sprach: »Salome, Salome! Erzähle nicht weiter, was du alles Wunderbares gesehen hast, bis der Knabe nach Jerusalem hineinkommt!« Protoevangelium des Jakobus 20

Cogito, ergo dubito

Zwei Hebammen, sicher Fachfrauen ihres Gebietes, die naturkundig bewandert wohl kaum wundergläubig waren, werden in dieser apokryphen Schrift zu Zeuginnen der Jungfräulichkeit Mariens benannt. Der Zweifel der intendierten Leser des Protoevangeliums des Jakobus an den biologischen Umständen der Geburt Jesu muss wohl groß gewesen sein, wenn der Autor des Textes solche Geschütze auffährt. Der biologische Zweifel an der Jungfräulichkeit der Gottesgebärerin ist also kein neuzeitliches Phänomen; er ist so alt wie die Erzählungen um die Fleischwerdung dessen, der sich seiner Göttlichkeit entäußert.

Im Alma mater, der marianischen Antiphon, die in der Advents- und Weihnachtszeit zum Nachtgebet gesungen wird, wird die Jungfräulichkeit Mariens vor und nach der Geburt besonders betont (virgo prius ac posterius – übersetzt: Jungfrau vorher und nachher). Damit wird viel theologisches Gewicht auf den Zustand der Gottesgebärerin gelegt, während Paulus ein einfaches „er wurde geboren von einer Frau“ (Galater 4,4) genügte. Dabei gerät der eigentliche Skandal aus dem Blick: Hier wird Gott Mensch! Mehr sagt eigentlich auch die Jungfräulichkeit Mariens, die das Ergebnis einer theo-logischen Induktion ist, nicht aus. Aber eben auch nicht weniger. Sie ist ein Bekenntnis zur Göttlichkeit Jesu. Es handelt sich also um ein theologisches Symbolon, kein biologisches. Thomas der Zweifler jedenfalls scheint das Missverständnis einer biologistischen Theo-Logik im letzten Moment erkannt zu haben. Obschon der Auferstandene ihn zur Berührung auffordert, sagt der Auferstandene schlussendlich doch:

Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben. Johannes 20,29

Gesehen –nicht berührt! Begreifen ist eben doch nur die Vorstufe wahrhaften Erkennens. Was wäre der Salome erspart geblieben. Wenn sie nur nicht – so oder so – biologiefixiert gewesen wäre …

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Bildnachweis

Titelbild: Antikes römisches Relief – Geburtshilfe durch eine Hebamme (Wellcome Library, London) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als CC-BY 4.0

Bild 1: Ausschnitt aus der Wuppertaler Graffiti-Krippe 2015 (Foto: Christoph Schönbach)

Video: Einfach biblisch – Weihnachtsvorbereitung im “Berliner Plätzchen” – Dr. Till Magnus Steiner und Dr. Werner Kleine diskutieren die lukanische Vorgeschichte – Rechte bei: Katholische Citykirche Wuppertal – Quelle: https://vimeo.com/149931561

Bild 2: The Annunciation (Henry Ossawa Tanner – 1898) ( – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei

Bild 3: Die ungläubige Hebamme Salome, Elfenbeinschnitzerei auf dem Bischofsstuhl des Maximian in Ravenna – lizenziert als gemeinfrei

Einzelnachweis   [ + ]

1. Allgemein wird hierfür Mitte der dreißiger Jahr des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung angenommen. Je nachdem, ob man die Chronologie der synoptischen Evangelien oder des Johannesevangeliums zugrunde legt, haben sich Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi im Jahr 30 oder 33 ereignet. Demzufolge muss das frühchristliche Glaubensbekenntnis, das Paulus in 1 Kor 15,3-5 überliefert, bereits kurz nach Kreuzestod und Auferstehung Jesu Christi formelhaft verdichtet worden sein.
2. Man denke nur an die sage und schreibe 513 Zeugen, die Paulus in 1 Korinther 15,5-8 als Beweis für die Tatsächlichkeit der Auferstehung anführt.
3. Die Entäußerung in die Sklavenexistenz hinein bedeutet eine nicht größer zu denkende Differenz zur ursprünglichen Gottgleichheit.
4. Vgl. hierzu den Dei-Verbum-Beitrag zum Stammbaum Jesu: Till Magnus Steiner, Weihnachten mit Abraham, David, Josef, Maria und Jesus: http://www.dei-verbum.de/weihnachten-mit-abraham-david-josef-maria-und-jesus/ [Stand: 27. Dezember 2015].
5. So gesehen geht die Bewegung des Matthäus von Bethlehem nach Nazareth, während die Bewegung des Lukas von Nazareth nach Bethlehem geht. Beide Autoren wissen offenkundig um eine Geburt in Bethlehem; beide wissen aber auch um die Herkunft aus Nazareth. Matthäus und Lukas erklären diese Tatsachen in einer je eigenen textlichen Dynamik.
6. Vgl. F. Blass/A. Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen 1990, 318,2.
7. So gesehen läuft die immer wieder geführte Diskussion um die Differenz zwischen dem hebräischen אלמה (gesprochen: almah), das eher „die junge Frau“ meint, und dem griechischen παρθένος (gesprochen: parthénos), das „die Jungfrau“ bezeichnet, ins Leere.
8. Das Protoevangelium des Jakobus‘ ist im 2. Jahrhundert entstanden und schildert die Geschichte der Gottesgebärerin Maria. Es enthält unter anderem Darstellungen der Ankündigung der Geburt der Mariä sowie ihrer unbefleckten Empfängnis. Obschon es zu den apokryphen Texten gehört, ist es wirkungsgeschichtlich gerade auch für die Marienfrömmigkeit von enormer Bedeutung. Auch in der bildenden Kunst genießt die Schrift hohes Ansehen, wie zahlreiche Darstellungen zeigen. Der Text ist im Internet zu finden unter http://www.jakobus-weg.de/aJakw/3Spiritua/Jkevangel.htm [Stand: 27. Dezember 2015].
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