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Vom Glück der Versuchung Neutestamentliche Reflexionen über ein korrumpiertes Phänomen


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Kommunikation ist ein komplexes Rollenspiel. Es beruht auf fragilen Vereinbarung und Konventionen. Wer sie missachtet, zerstört jede Kommunikation. Die Rollen der Urheberschaft und des Rezipierens können nicht einfach vertauscht werden. Leserinnen und Hörer, die einen Text bei Nichtverstehen einfach verändern, werden damit selbst zu Autorinnen und Urhebern. Es ist nun ihr Werk und nicht mehr der des ursprünglichen Urhebers. In den besseren Fällen wird diese Veränderung gar zur Kunstform erhoben, wenn Vertrautes persifliert, satirische konterkariert oder parodiert wird; Persiflage, Satire oder Parodie setzen freilich ein grundlegendes Verstehen der Vorlage voraus. Die weniger gelungenen Fälle hingegen bezeugen mehr ein Unvermögen des Verstehens seitens derer, die einen Text willkürlich verändern und ihn so zum eigenen machen. In den schlechtesten Fällen hingegen grenzt jeder willkürliche Eingriff in eine Vorlage womöglich sogar an Urkundenfälschung.

Die Erbschuld der Übersetzung

Die Interpretation von Texten unterliegt einer hohen Verantwortung – zumindest, wenn man die Texte nicht einfach dem eigenen Gusto anpassen möchte, sondern um ein Verstehen in ihrer ursprünglichen Form ringt. Dabei kann sicher der Schluss stehen, dass ein Text in sich falsch und unverständlich ist. Eine Änderung macht ihn damit aber trotzdem zu einem neuen, eigenen Text.

Schwieriger als die bloße Interpretation wiegt allerdings die Übertragung eines Textes aus einer in eine andere Sprache. Unterschiedliche Sprachspiele, Grammatiken, Sprachgestalten bedingen nicht nur eine vorgängige Interpretation des Urtextes, die ein grundlegendes Verstehen ermöglicht. In der Translation müssen dann auch in der Zielsprache adäquate Ausdrucksformen gefunden werden, die der Ursprungsintention des Textes entsprechen. Nicht ohne Grund werden deshalb in den Titeleien immer auch die Übersetzerinnen und Übersetzer ausgewiesen, denn die Übersetzung ist in sich ein eigenständiges Werk. Dass es dabei zu Bedeutungsverschiebungen kommen kann (nicht muss) liegt in der Natur der Sache; es ist gewissermaßen die translative Erbschuld, die jede Übersetzerin und jeder Übersetzer tragen muss.

In, durch, vorbei – hinein in die Versuchung!

Welche Bedeutungen, vor allem aber welche Wirkungen Übersetzungen haben, wird durch die Intervention Papst Franziskus’ wieder aktuell, der sich daran stößt, die sechste Bitte des Vaterunser

und führe uns nicht in Versuchung (Matthäus 6,13/Lukas 11,4)

sei in vielen Sprachen – auch im Deutschen – falsch übersetzt1). Die neue französische Übersetzung „Und lass uns nicht in Versuchung geraten“ hält er für besser2), ohne dass er begründet, wie sich diese Übersetzung aus dem Urtext, der hier eindeutig ist3) und auch keine textkritischen Varianten aufweist, herleiten lässt.

In der Tat stößt sich Papst Franziskus vor allem an einer irritierenden Assoziation:

„Es sei nicht Gott, sondern Satan, der den Menschen in Versuchung führe, sagte Franziskus. Daher sei die neue Übersetzung treffender. Ein Vater mache so etwas nicht, sondern helfe, wieder aufzustehen.“4)

Vom Gebet des Herrn zum Gebet Papst Franziskus’?

Hier liegt also eine Glaubenseinsicht, nämlich die, dass Gott kein Versucher ist, der Interpretation voraus. Der Text, der im Urtext des Vater unser wörtlich übersetzt sogar heißt „und trage uns nicht in die Versuchung hinein“, muss also geändert werden. Damit aber wäre das Vaterunser nicht mehr das Gebet, das Jesus seine Jünger lehrte, sondern das Gebet, das Papst Franziskus seine Kirche lehrt.

Es besteht kein Zweifel daran, dass Päpste der Kirche Gebete vermachen. Auch das Vater unser kann man sicher aktuellen Befindlichkeiten anpassen. Allerdings ist es dann nicht mehr das Gebet Jesu, sondern ein neues Gebet. Konsequenterweise müsste man dann eben auch unterlassen, das neue Vater unser mit den Worten „Lasst uns beten, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat“ einzuleiten, denn die Lehre Jesu ist eine andere.

Gleichwohl trifft die Invektive Papst Franziskus’ den eigentlichen Punkt – die Versuchung. Das altgriechische Wortfeld πειράζειν/πειρασμός (gesprochen: peirázein/peirasmós) findet reichhaltige Verwendung. Es umfasst dabei im Deutschen die Bedeutungsvarianten versuchen/Versuchung, probieren/Probe, prüfen, auf die Probe stellen, untersuchen/Untersuchung, aber auch Anfechtung und Verlockung. Das Wortfeld betrifft also sowohl eine untersuchende Überprüfung eines Gegenstandes oder einer Person als auch die In-Frage-Stellung moralischer oder bekenntnishafter Haltungen. Damit trägt das Wortfeld in sich eine Spannung, die im Endeffekt nur durch die jeweilige kontextuelle Verwendung aufgelöst werden kann. Eindeutig festzustellen, Gott könne nicht versuchen, ist daher auf den ersten Blick zu kurz gedacht.

Die Versuchung zur Versuchung

Hinzu kommt freilich, dass das Wortfeld zu einem großen Teil dahingehend Verwendung findet, wenn Gott durch den Menschen versucht wird – oder besser: werden soll. Das Dilemma der Versuchung zur Versuchung wird bereits in der Versuchung Jesu in der Wüste deutlich. Dort heißt es etwa bei Matthäus:

Dann wurde Jesus vom Geist in die Wüste geführt; dort sollte er vom Teufel versucht werden. Matthäus 4,1

Die Führung in die Wüste wird als geistgewirkt beschrieben. Es ist das πνεῦμα (gesprochen: pneûma), also der Gotteshauch, der Geist, der Jesus vorantreibt. Er geht gewissermaßen nicht aus freien Stücken. Was nun geschieht, muss geschehen – und es ist gottgewirkt. Das Ziel aber ist die Versuchung durch den Durcheinanderbringer5) (πειρασθῆναι ὑπὸ τοῦ διαβόλου – gesprochen: peirasthênai hypò toû diabólou). Bereits an dieser Stelle müsste man also ein Fragezeichen hinter der apodiktischen Aussage machen, Gott können nicht in Versuchung führen. Im Fall des Jesus von Nazareth erscheint sie geradezu als gottgewollte Notwendigkeit, die zu einer inneren Katharsis führt – eben als Erprobung und Prüfung der Tauglichkeit.

Dabei macht bereits die Versuchungsperikope deutlich, worin die eigentlich Versuchung besteht, wenn Jesus nach der zweiten Probe das Ansinnen des Durcheinanderbringers, er möge sich vom Tempel hinabstürzen, mit den Worten zurückweist:

In der Schrift heißt es auch: Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe (ἐκπειράσεις – ekpeiráseis)6) stellen. Matthäus 4,7

Dabei ist zuerst bemerkenswert, dass Jesus hier die schriftbegründete Argumentation (aus Psalm 91,11-12) des Durcheinanderbringers mit einem Schriftwort (aus Deuteronomium 6,16) zurückweist. Die Probe, der sich Jesus hier stellen muss, besteht offenkundig darin, dass einzelne, aus dem Zusammenhang gerissene Schriftworte dazu geneigt sind, Gott auf die Probe zu stellen. Das aber würde bedeuten, sich über Gott zu erheben. Es ist die Versuchung dieser Selbstvergottung, die Menschen immer wieder im Kleinen wie im Großen dazu bringt, Gott auf die Probe zu stellen. Die Versuchung ist die Vertauschung der Rollen von Urheber und Werk, von Schöpfer und Geschöpf. Wer Gott so klein denkt, dass er ihn auf die Probe stellen kann, bringt vieles durcheinander.

Vor des Lebens Prüfung

Nun muss nicht jeder vom Geist in die Wüste geführt werden, um dort Versuchung zu erfahren. Die Prüfungen, die das Leben bereit hält, genügen da schon. Paulus etwa weiß über die sexuelle Anziehung von Mann und Frau folgendes zu sagen:

Nun zu dem aber, was ihr geschrieben habt: Es ist gut für den Mann, keine Frau zu berühren. Wegen der Gefahr der Unzucht soll aber jeder seine Frau haben und jede soll ihren Mann haben. Der Mann soll seine Pflicht gegenüber der Frau erfüllen und ebenso die Frau gegenüber dem Mann. Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt aber auch der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau. Entzieht euch einander nicht, außer im gegenseitigen Einverständnis und nur eine Zeit lang, um für das Gebet frei zu sein! Dann kommt wieder zusammen, damit euch der Satan nicht in Versuchung (μὴ πειράζῃ – mè peiráze) führt, weil ihr euch nicht enthalten könnt. Das sage ich als Zugeständnis, nicht als Gebot. Ich wünschte, alle Menschen wären unverheiratet wie ich. Doch jeder hat seine eigene Gnadengabe von Gott, der eine so, der andere so. 1 Korinther 7,1-7

Wohlgemerkt: Paulus beschreibt hier die Sexualität in positiver Weise. Die gegenseitige Anziehung von Mann und Frau wird als gottgegeben betrachtet. Der Textzusammenhang legt freilich nahe, dass mit Blick auf die erhofft unmittelbar bevorstehende Wiederkunft Christi alles Denken, Tun und Streben auf sie gerichtet werden soll. Deshalb empfiehlt er Enthaltsamkeit – aber nur deshalb. Wenn es gerade die Enthaltsamkeit ist, die dazu führt, dass des Lebens Sehnen überstark wird und deshalb die Aufmerksamkeit von der Erwartung der Wiederkunft Christi ablenkt, dann soll sie besser ausgelebt werden. Und das ist aus paulinischer Sicht ein Befehl!

Von hier aus gesehen wird deutlich, dass man diese Perikope nicht nur nicht als Hinweis auf die Besonderheit eines zölibatären Lebens lesen kann – zu kurz ist die Frist, in der die Wiederkunft Christi erwartet wird; auch wird deutlich, worin die Versuchung besteht: in der Ablenkung der Wahrnehmung der Gegenwart Gottes. Hier soll sich der Mensch in den guten und weniger guten Lebensphasen immer wieder selbst prüfen:

Erforscht euch selbst, ob ihr im Glauben seid, prüft euch selbst! Erfahrt ihr nicht an euch selbst, dass Jesus Christus in euch ist? Sonst hättet ihr ja schon versagt. 2 Korinther 13,5

Ἑαυτοὺς πειράζετε (gesprochen: heautoùs peirázete) – unterzieht euch selbst einer Prüfung. Auch hier zielt der πειρασμός (gesprochen: peirasmós), die Prüfung auf das Gottesverhältnis der Adressaten: Ist Jesus Christus in euch?

In ähnlicher Weise verwendet er den Begriff dann auch im Galaterbrief:

Brüder und Schwestern, wenn ein Mensch sich zu einer Verfehlung hinreißen lässt, so sollt ihr, die ihr vom Geist erfüllt seid, ihn im Geist der Sanftmut zurechtweisen. Doch gib Acht, dass du nicht selbst in Versuchung (πειρασθῇς – gesprochen peirasthês) gerätst! Galater 6,1

Auch hier geht es wieder um die Gottesbeziehung. Wenn ein anderer sich von Gott abwendet, dann soll man ihn davon abhalten – aber eben aufpassen, nicht selbst mitgerissen zu werden.

Prüfungsfreud?

Es ist deutlich geworden, dass die neutestamentliche Rede von der Versuchung im Wesentlichen den Charakter einer Erforschung und Erprobung darstellt. Der Mensch steht immer in der Versuchung, Gott auf die Probe zu stellen; vor allem aber stellt dem Menschen das Leben selbst immer wieder neue Herausforderungen, in denen die Tragfähigkeit seines Gottesglaubens auf die Probe gestellt wird. Es ist also nicht Gott, der zum Versucher wird, wie auch der Autor der Jakobusepistel eindeutig feststellt:

Keiner, der in Versuchung gerät (πειραζόμενος – gesprochen: peirazómenos), soll sagen: Ich werde von Gott in Versuchung geführt (πειράζομαι – gesprochen: peirázomai). Denn Gott lässt sich nicht zum Bösen versuchen, er führt aber auch selbst niemanden in Versuchung. Jakobus 1,13

Die Ursache der Versuchung liegt vielmehr in dem, was des Lebens ist:

Vielmehr wird jeder von seiner eigenen Begierde in Versuchung geführt, die ihn lockt und fängt. Wenn die Begierde dann schwanger geworden ist, bringt sie die Sünde zur Welt; ist die Sünde reif geworden, bringt sie den Tod hervor. Jakobus 1,14-15

Der Grund der Versuchung liegt also im Menschen selbst. Es ist sein Streben, sich selbst zu erheben, das zum Grund für die Trennung von Gott – denn darin besteht das Wesen der Sünde – wird.

Und trotzdem – oder vielleicht sogar deswegen? – singt der Autor der Jakobusepistel ein Lob auf die Versuchung:

Nehmt es voll Freude auf, meine Brüder und Schwestern, wenn ihr in mancherlei Versuchungen (πειρασμοῖς – gesprochen: peirasmoîs) geratet! Ihr wisst, dass die Prüfung eures Glaubens Geduld bewirkt. Die Geduld aber soll zu einem vollkommenen Werk führen, damit ihr vollkommen und untadelig seid und es euch an nichts fehlt. Jakobus 1,2-4

Der πειρασμός (peirasmós) in V. 1 korrespondiert hier, wie schon übrigens bei Paulus in 2 Korinther 13,5 mit dem δοκίμιον (gesprochen: dokímion): Die Versuchung/Erprobung/Erforschung wird zur Selbstprüfung. Bei Jakobus ist sie Anlass zur Freude, kann der Glaubende doch gerade in einer solchen Erprobung seine Glaubensstärke unter Beweis stellen, die sich als Geduld erweist. In der Erprobung kann er sogar reifen und wachsen. Die Versuchung erscheint hier sogar heilsam und glaubensnotwendig, so wie die Versuchung Jesu für ihn selbst einen Prozess der inneren Reifung am Beginn seines öffentlichen Wirken bedeutet hat.

Prüfungsangst

Jede Prüfung kann zum Sieg – aber eben auch zum Scheitern führen. Das wissen auch Paulus und der Autor der Jakobusepistel, wenn sie an die Geduld erinnern, aber auch davor warnen, sich nicht mitreißen zu lassen. Hier – vor allem hier! – ist der Grund für die sechste Bitte im Vater unser zu suchen. Man muss auch sie im Kontext der vertrauenswollen Hinwendung zu Gott lesen, die darin zum Ausdruck kommt, dass sein Wille geschehe, er das täglich Brot geben möge und er die Schuld vergibt, wie auch die Beter einander die Schuld vergeben. Und dann kommt:

Und führe uns nicht in Versuchung. Matthäus 6,13/Lukas 11,4

Man darf den Zusammenhang nicht ausblenden. Im Gegenteil: Gerade aus dem Zusammenhang ergibt sich der Sinn der Bitte. So wie Gott gebeten wird, dass es täglich Brot gibt, so soll er auch davor bewahren, in die Gefahr zu geraten, von der Versuchung mitgerissen zu werden – eben jener Versuchung, die darin besteht, sich selbst zum Maß der Dinge zu machen. So könnte man ja den Schluss ziehen, wenn man Gott schon um das tägliche Brot bittet, dass er dann wie in einem Schlaraffenland für das Nötige sorgt. So zum Oberkellner des Menschen gemacht, braucht der Mensch nichts mehr zu tun. Es wäre fast wie bei der ersten Versuchung Jesu:

Da trat der Versucher an ihn heran und sagte: Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl, dass aus diesen Steinen Brot wird. Er aber antwortete: In der Schrift heißt es: Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt. Matthäus 4,3-4

Aber auch die fünfte Bitte darf nicht übersehen werden, die Vergebung der Schuld, wie sie die Beter einander vergeben. Auch hier müssen Wort und Tat korrespondieren: Was erbeten bzw. empfangen wird, muss selbst geübt werden. Der Mensch darf sich nicht selbst verabsolutieren – genau das ist die Versuchung wider die er sich immer wieder selbst erforschen muss.

Der Mensch kann daran, vor allem aber an sich selbst scheitern. Niemand aber kann sich selbst entfliehen. Als Ebenbild Gottes muss der Mensch sich dem Dilemma seiner Freiheit stellen. Und die Freiheit hält viele Versuchungen parat: Die Selbstüberhebung, die Selbstvergottung, der Irrtum, der Mittelpunkt der Welt zu sein – aber auch die Sucht der Freiheit durch Selbstunterwerfung unter Totalitarismen aller Art zu entfliehen. Wenn Gott der Schöpfer aller Dinge ist, dann will er die Freiheit. Da liegt es auf den ersten Blick nahe, den Vorschlag der französischen Bischöfe zu übernehmen:

„Lass uns nicht in Versuchung geraten.“

Aber das würde gerade der jakobinischen Freude im Weg stehen, an der Versuchung zu wachsen. Diese Übersetzung verändert wie alle anderen Paraphrasierungen nicht nur das Gebet an sich; sie verstellt noch mehr den ohnehin verstellten Sinn dessen, was Versuchung meint. Da gilt auch für den Vorschlag Klaus Bergers und anderen, die beten wollen:

„Führe uns an der Versuchung vorbei!“

Auch die von manchen vorgeschlagene Übersetzung

„Führe uns durch die Versuchung hindurch“

übersieht die Selbstverantwortung des Menschen. So wie die Bitte, Gott möge das tägliche Brot geben, nicht von der Pflicht zur Arbeit entbindet, so entbindet die sechste Bitte des Vater unser den Menschen nicht von der Verantwortung.

... und führe uns nicht in Versuchung von einem, der weiß, wovon er betet

Versuchung ist möglich

So erweist sich auch die sechste Bitte des Vater unser als Bitte voller Vertrauen, Gott möge vor den Proben des Lebens bewahren, die geeignet sind, in die Gottferne zu geraten. Aber kann Gott in diese Prüfungen führen? Natürlich! So wie er Jesus in die Wüste geführt hat, um zu reifen, und so, wie er dem Menschen frei erschaffen hat. Vielleicht hat die sechste Bitte des Vaterunser gerade in dieser existentiellen Erfahrung Jesu ihren tiefsten Grund. Er hat die Versuchung erfahren – und lehrt gerade deshalb in seinem Gebet die Bitte, nicht in diese Versuchung geführt zu werden. Von hierher ist die Bitte in sich verständlich, vor den Prüfungen des Lebens bewahrt zu bleiben, ebenso, wie vor Hunger verschont zu werden, ebenso wie Versöhnung in Schuld zu erlangen. Wenn die Prüfungen aber kommen, dann können, nein: dann sollen sie als Chancen begriffen werden, im Glauben zu reifen. Wer so an des Lebens Prüfungen herangeht, mag vor der Versuchung nicht gefeit sein; auch Jesus wird sie im Garten Getsemane wieder erleben, wenn er darum bittet, der Kelch des Todes möge an ihm vorübergehen, sich dann aber doch dem Willen des Vaters ergibt. Aber gerade hier wird nicht nur deutlich, dass die geduldig ertragene Prüfung heilbringend sein kann; Gott ist auch der, der selbst des Menschen Leben mit allem, was dazu gehört, kennt:

Da wir nun einen erhabenen Hohepriester haben, der die Himmel durchschritten hat, Jesus, den Sohn Gottes, lasst uns an dem Bekenntnis festhalten. Wir haben ja nicht einen Hohepriester, der nicht mitfühlen könnte mit unseren Schwächen, sondern einen, der in allem wie wir versucht worden ist, aber nicht gesündigt hat. Lasst uns also voll Zuversicht hinzutreten zum Thron der Gnade, damit wir Erbarmen und Gnade finden und so Hilfe erlangen zur rechten Zeit! Hebräer 4,14-16

Versuchung – Erprobung – Prüfung – all das ist nicht nur möglich, sondern zur Reifung auch im Glauben sogar notwendig. Freilich impliziert sie auch das Scheitern. Sich hier vertrauensvoll an Gott zu wenden, nicht in Versuchung geführt zu werden, ist menschlich – ebenso wie die Bitte um das tägliche Brot. Aber sie entbindet den Menschen eben nicht von seiner Verantwortung, denn über allem und vor allem steht Gott: Sein Name werde geheiligt und sein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden. Achtet Gott nicht zu gering, ihr Beterinnen und Beter! Stellt euch nicht über sein Wort! Lasst euch von ihm herausfordern, auch wenn die Versuchung groß ist, es sich einfach zu machen! Der Durcheinanderbringer aber mag es halt bequem. Diese Prüfung sollte doch zu bestehen sein. Man sollte nur nicht in ihr hängenbleiben … davor bewahre uns Gott!

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Bildnachweis

Titelbild: Der Schrei (Edward Munch) – Quelle: Wikicommons – lizenziert als gemeinfrei.

Video: Das Phänomen des Bösen. Dei Verbum direkt/Diskussion zwischen Dr. Till Magnus Steiner und Dr. Werner Kleine vom 24.10.2017 (Katholische Citykirche Wuppertal/Christoph Schönbach) – Quelle: Vimeo – alle Rechte vorbehalten.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Vgl. hierzu etwa Zeit online, Papst plädiert für neue Übersetzung des Vaterunser, in: Zeit online, 7.12.2017, Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-12/vatikan-papst-franziskus-vaterunser-uebersetzung [Stand: 10.12.2017].
2. Vgl. hierzu etwa Zeit online, Papst plädiert für neue Übersetzung des Vaterunser, in: Zeit online, 7.12.2017, Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-12/vatikan-papst-franziskus-vaterunser-uebersetzung [Stand: 10.12.2017].
3. Vgl. hierzu etwa Werner Kleine, Gestolpert? Hinschauen! – Quelle: http://www.dei-verbum.de/gestolpert-hinschauen/ [Stand: 10. Dezember 2017] oder Thomas Söding im Kirche+Leben-Interview „Bibel-Experte Söding: Vaterunser soll bleiben wie es ist“, Quelle: https://www.kirche-und-leben.de/artikel/bibel-experte-soeding-vaterunser-soll-bleiben-wie-es-ist/ [Stand: 10. Dezember 2017]. Dagegen argumentieren Franz Alt (Quelle: http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/theologe-halfte-aller-jesusworte-falsch-ubersetzt [Stand: 10. Dezember 2017] oder Klaus Berger, der vorschlägt „und führe uns an der Versuchung vorbei“ zu beten (vgl. http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/papst-franziskus-kritisiert-deutsche-uebersetzung-wird-das-vaterunser-umgeschrieben/20688472.html [Stand 10. Dezember 2017]).
4. Zeit online, Papst plädiert für neue Übersetzung des Vaterunser, in: Zeit online, 7.12.2017, Quelle: http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-12/vatikan-papst-franziskus-vaterunser-uebersetzung [Stand: 10.12.2017].
5. So die wörtliche Übersetzung des griechischen διαβόλος (gesprochen: diabólos).
6. Das hier verwendet Wort gehört dem Wortfeld πειράζειν/πειρασμός an.
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39 Replies

  1. Konsequenterweise müsste man dann eben auch unterlassen, das neue Vater unser mit den Worten „Lasst uns beten, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat“ einzuleiten, denn die Lehre Jesu ist eine andere.”

    Dann gehört aber auch das priesterliche Solo da nicht rein 😉

      • Also im Neuen Testament finde ich den Satz nicht – auch bei Matthäus nicht. Es gibt zwar ein paar textkritische Varianten, die aber zeitlich so spät anzusetzen sind, dass hier schon der liturgische Gebrauch durchscheint. Im Sinne einer lectio brevior und einer quantitativ doch eher geringen und qualitativ nicht überzeugenden Bezeugung muss man das textkritisch als sekundär ausscheiden – egal in welcher Sprache ;-). Nicht die Sprache ist das entscheidende Kriterium, sondern die Frage nach der ursprünglichen Bezeugung – und da besteht doch common sense in der NT-Szene. Freilich zeigen die Textvarianten, dass das Vaterunser offenkundig schon sehr früh liturgisch verwendet wurde (siehe Didache).

    • Die Lutherbibel gibt die Doxologie in eckigen Klammern an, Nestle-Aland als Variante. Aber die Liturgie nutzt sie fleißig – und das Volk auch. Ich bezweifle daher, dass vielen klar ist, dass das nicht mehr Teil dessen ist “was Jesus gelehrt hat”. Inszeniert ist das in jedem Fall schlecht. Wie gut bezeugt alles ist, hängt aber letztlich davon ab, wieviel ich Zeugen glaue – und manchmal glaube ich, die Polizei würde bei dem ein oder anderen Evangelisten oder gar bei Paulus von einem “Knallzeugen” sprechen.

      Worauf ich urspünglich hinauswollte: Das Verständnis

      Mein finales Argument zur Versuchungsbitte bleibt aber, dass schon die ersten Texte Übersetzungen aus einem anderen Kulturraum waren – vergleichbar den deutschen Veröffentlichungen von Flüchtlingen, dem Deutsch meines holländischen Krankengymnasten, den Schlagertexten von Ireen Sheer, oder dem “Taizé-Englisch”, wo die meisten Worte schon stimmen, einige aber leicht anders verwendet werden als im Urspungsraum der verwendeten Sprache… (Und ich warte auf den Tag, wo mein Verdacht sich bestätigt und Lukas und Johannes als die früheren Varianten entdeckt werden. Aber das würde hier zu weit führen…)

      Sehr lesenswert fand ich übrigens http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/24991, der auch nochmal gegen das Argument von http://www.katholisch.de/aktuelles/aktuelle-artikel/vaterunser-die-versuchung-ist-nicht-das-problem argumentiert…

      • Da haben Sie Recht, was das Volk angeht. Man darf aber nicht übersehen, das die rk Tradition das aus der evangelischen erst recht spät übernommen hat – und im Stundengebet wird sie gerade nicht gebetet. Da ist also offenkundig Bildungsbedarf  !

        Den anderen Kulturraum kann ich nur bedingt erkennen. Gerade bei Matthäus mit seinen Hebraismen hätte man da doch eine eindeutige Variante erwarten können. Es bleibt, wie es ist – das Argumentieren aus Kulturräumen bleibt spekulativ und trägt nicht wirklich weiter …

        Dass es Verwandtschaften des Vater unser mit der jüdischen Spiritualität gibt, daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Schließlich war der Erstbeter Jude – aber eben einer, der auch mit Konventionen brach … Das gilt wohl auch für das Vater unser, bei dem man das Neue im Vertrauten eben gerade nicht übersehen darf. 😉

    • Wir sehen als Christen sehr gerne den Konventionsbrecher Jesus – mir hat bisher aber eher weitergeholfen, zu sehen, wie tief er in seinem Judentum verankert war.

      Was Matthäus angeht: Warum zitierte der gute Mann im gesamten Werk denn konsequent die Septuaginta? Vielleicht doch mehr der Karl-May-Effekt, der durch einige eingestreute “fremde” Worte mehr Lokalkolorit bewirkt?

    • Dem im Judentum verwurzelten Jesus widerspreche ich ja gar nicht. Sie dürfen das nicht als entweder-oder, sondern als sowohl-als auch lesen. Im übrigen glaube ich, dass Jesus zumindest in diesem Punkt nicht unbedingt einzigartig war. Es wird auch andere gegeben haben, die mit althergebrachten Konventionen gebrochen haben. Nur sind die halt nicht von den Toten auferstanden… 🙂

      Die neutestamentlichen Schriftsteller gehen mit der Septuaginta um. Sie schreiben eben in der damals verwendeten Universal-Sprache. Das erklärt sich dann eigentlich von selbst. Nicht jeder konnte Hebräisch. Wenn man aber das Christentum in die Welt tragen möchte, muss man eben die Weltsprache sprechen. Deshalb auch Septuaginta. Die Frage aber bleibt: wenn die Vertreter der These aramäischer Rückübersetzungen Recht hätten, bleibt die Frage, warum die neutestamentlichen Autoren dann nicht die entsprechenden griechischen Äquivalente, die ist ja gibt, benutzt haben. Die Beweislast liegt also bei diesen Vertretern.

    • Der Tod als althergebrahte Konvention – auch ein schönes Bild. 😉

      So wie ich Lapide verstehe (und mein Hebräisch ist mickrig), hat das hebräische Wort für “führen” zwei mögliche Übersetzungen und “führen” war durchaus die häufigere und geläufigere. Nur eben nicht im Kontext etwa des Stundengebets. So hätte der griechische Autor nicht “falsch” übersetzt sondern eher “unglücklich”. Oder mehr noch: Bei seinen jüdischsprachigen Bekannten hätte er darauf vertrauen können, dass die trotzdem wissen, wie es gemeint ist.

      Ein Freund von mir sagte mir regelmäßig “Es war mir ein Plätschern mit Dir gesprochen zu haben.” Ich verstand was er meinte. Ohne dass er erklärte. Wobei das ja noch gewollter Blödsinn war. Aber tatsächlich, wir haben ja eben nie eine zielgenaue Sprache, sondern sind immer kulturellen Gewohnheiten unterworfen. Aber an der Stelle werden wir vermutlich nie die selbe Sicht teilen. Gewollte Vielfalt. 🙂

    • Natürlich ist der Tod eine absolute Konvention 😉. Aber Sie wissen schon, was ich gemeint habe, da bin ich sicher!

      Lapide spricht jetzt von Hebräisch (was auch spekulativ bleibt. Ist die Rückübersetzung so eindeutig und unzweifelhaft?). Jesus soll aber dich Aramäisch gebetet haben. Was denn jetzt? Das sind dich alles Nebelkerzen … und eine unglückliche Übersetzung doll damals keinem aufgefallen sein, aber uns heute? Das glauben Sie doch selbst nicht. Es gibt ja noch nicht einmal textkritische Varianten bzw. Korrekturen. Ne, das bleibt eine falsche Fährte …

      • Nein, der vorliegende Tag ist ja auch heute. Das „das zum Dasein Nötige“ wird meist in der Dopoelung „unser tägliches Brot gib uns heute“ subsumiert. Dazu äußere ich mich hier aber schon an anderer Stelle. „Morgen“ ist auf jeden Fall merkwürdig und ihne Halt am Text. Wie gesagt, ich soreche hier über die lexikalische Bedeutung, die man sprachlich sicher flüssig anpassen muss, etwa in „das notwendige Brot gib uns heute“.

    • Andersrum: Ich glaube, dass Zeitgenossen das wunderbar verstanden haben, das Verständnis danach aber flöten ging. Ähnlich, wie sich das Abendmahlsverständnis durch die Weitergabe aus einer griechisch-geprägten Philosophie in ein relativ tumbes Germanentum bei Beibehaltung von Wortlauten trotzdem im Verständnis änderte.

      Übrigens würde ich die ganze Diksussion ja nicht führen, wenn die Texte zur Zeit Jesu aufgeshrieben und Jesus nachweislich griechisch gesprochen hätte. Dann würde ich jedes Ihrer Argumente für unwidersprechbar halten. So bleibe ich skaptisch. (Und ich glaube nicht, dass die von mir ins Spiel gebrachte Alternative zwingend korrekt ist. Ich halte sie nur für ene ausreichend plausible Alternative, die ich darum benenne… Das ist meine persönliche Form des Konventionenbruchs… 😉 )

    • Na ja, im Fall des Matthäus und Paulus darf man ein Verständnis der hebräischen Sprache voraussetzen – und die ändern am Vaterunser bzw. den Einsetzungsworten nichts. Bei Lukas ist das Verständnis der hebr. Sprache vllt nicht do da, aber er hat den gleichen Wortlaut. Das alles deutet sicher eher darauf hin, dass es schon do gemeint ist, wie es da steht. Das muss man wohl so annehmen und nicht durch Winkelzüge Scheinlösungen suchen. Die konnten schon Hebräisch, sicher such Aramäisch – und sie präsentieren es genau so im Griechischen, wie es da steht. Das ist Fakt. Warum also postfaktisch werden 😉

  2. Was sich mir nicht ganz erschließt, ist, warum wir darum bitten sollen, nicht in Versuchung geführt zu werden, wenn die Versuchung etwas ist, was für uns nicht grundsätzlich schlecht ist – sondern eben auch eine Prüfung, an der wir wachsen können. Ähnlich wie beim Täglichen Brot – hungern ist zwar unangenehm, aber gerade mit dem Fasten kennt die katholische Kirche einen Wert im Hungern. Während ich damit noch umgehen kann, indem ich das tägliche Brot metaphorisch als mehr als “nur” tatsächliches Brot sehe – wir brauchen ja mehr zu leben als nur Brot, wie auch im Text zitiert wird – fällt es mir schwer, einen derartigen Umgang mit der Versuchung zu finden. Vor allem weil da auch ein Unterschied zu allen anderen Bitten besteht – alles andere, um das ich bitte, gibt Gott mir sicher und verlässlich, und das Gegenteil dieser Bitten ist immer schlecht – die Vergebung der Schuld, die Erlösung vom Bösen, wobei deren Gegenteile immer schlecht sind. Aber in Versuchung geführt werden wir andauernd, und es muss – wenn Versuchung eben auch Prüfung bedeutet – nicht einmal schlecht für uns sein.

    • Es geht wohl nicht um die banalen Verführungen. Die Vergleichsmatrix ist die Versuchung Jesu. Er hat sie selbst erfahren, ja, wurde sogar hineingeführt (vom Geist getrieben). Diese Versuchung ist existentieller Art und mündet in die Versuchung, sich in die Gottferne zu begeben. Gerade weil Jesus die Macht dieser(!) Art der Versuchung und die Möglichkeit des Scheiterns an einer solchen Prüfung selbst durchlebt hat, formuliert er m.E. diese Bitte. Sie trägt dann den Sinn, dass seinen Jüngern diese(!) Art existentieller Erprobungen, die möglicherweise in sich tragen, generell Gott in die Ferne zu weisen, erspart bleiben mögen (grammatikalisch handelt es sich ja um einen Konjunktiv – es heißt also nicht, dass sie auch erspart bleiben). Wie bei allem Beten, schärft diese Bitte deshalb vor allem auch das Bewusstsein und die Wachsamkeit der Beter (und hier macht der Verweis auf das “Glück der Versuchung” bei Jakobus eben Sinn – die Versuchung kann eben auch eine Chance zur Reifung sein). Man müsste hier also auch Fragen, was überhaupt Beten bedeutet.
      Aus diesem Grund führe ich ja auch aus, dass auch die Brotbitte nicht bloß metaphorisch zu sehen ist. Im griechischen Urtext heißt es ja sogar “gib uns das zum Dasein nötige Brot heute”. Der Akzent liegt da weniger auf dem Brot, sondern auf dem “für das zum Dasein Nötige” – dazu gehört sicher auch Brot. Wenn man schon das Vaterunser ändert, müsste man es hier ändern und das griechische Wort τὸν ἐπιούσιον (gesproechen: tòn epioúsion), das jetzt nämlich unübersetzt ist, mit einbinden – dann würde sich der Akzent nämlich von der Exklusivität des Brotes verschieben. Wörtlich würde es dann heißen: “Unser Brot, das zum Dasein Nötige, gib uns heute (Matthäus)/täglich (Lukas)”.

      • Ich tippe beim “epioúsion” viel eher auf die von Hans Klein (https://www.bibelwissenschaft.de/wibilex/das-bibellexikon/lexikon/sachwort/anzeigen/details/vaterunser-1/ch/ccc89e26d0d386bd268fba66a3b3703b/) erwähnte (dann allerdings doch verworfene) Wortbedeutung:

        „Unser Brot für morgen gib uns heute.“

        Das passt sprachlich wohl besser und klingt mit diesem typischen Wortwitz vieler Jesussprüche auch überzeugender. Außerdem macht es die Übersetzung des Hieronymus und Abealard (unser himmlisches Brot gib uns heute) eher denkbar, denn “morgen” ist für Jesus ja ggf. schon nach Anbruch des Himmelreichs. Das legt dann (für Katholiken jdfs., Klein als Lutheraner kommt da nicht drauf) den eucharistischen Bezug der vierten Bitte schon nahe.

        • Das sind immer wieder nette Versuche, die aber keinen Halt am Urtext haben. Paraphrasierungen sind eben keine Übersetzungen. eipoúsion heißt ebe nicht “morgen”, sonder “das zum Dasein Nötige”. Das “morgen” verfälscht da sogar den Sinn, weil der Vorsorgegedanke jesuanisch eben ausgeschlossen ist – siehe “Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage.” (Matthäus 6,34) – ein Satz, der nur wenige Verse nach dem Vater unser zu finden ist. Die Idee von Hans Klein geht also in vielerlei Hinsicht an der Intention des Textes – sowohl lexikalisch als auch inhaltlich – vorbei. Auch das Himmelreich bricht nicht morgen an, sondern ist jetzt schon nahe. Man kann die Widerständigkeit von Texten nicht wirklich dadurch bewältigen, indem man an ihnen herumparaphrasiert, bis sie passen – das gilt auch für das epioúsion, das eben gerade nicht “morgen” heißt, sondern auf das aktuell Notwendige bezogen ist.

          • Nun ja, die Idee ist ja nicht von Hans Klein (er referiert sie nur als herrschende Meinung der Forschung) und schließt sich im nächsten Absatz gerade Ihrer Ansicht an und meint, es sei wohl das “benötigte” Brot damit ausgesagt. Allerdings begründet er das mit kontextuell-inhaltlichen Argumenten und nicht sprachlich. Sprachlich scheint die Wortbedeutung “morgen” ja offenbar weiterhin gängige Forschungsmeinung zu sein, jedenffalls wenn der Artikel von Klein noch aktuell ist.

          • Die kontextuelle Begründung zieht ja gerade nicht, wie das Zitat aus Matthäus 6,34 zeigt. Die gängige Forschungsmeinung sehe ich auch nicht. Da scheint Hans Klein sich doch in sehr speziellen Zirkeln zu bewegen. Es geht auch nicht um das “benötige” Brot, sondern um das für das “Dasein” benötigte Brot – ein kleiner, feiner Unterschied.
            Kontextuell-inhaltliche Argumente werden meist bei Paraphrasierungen herangezogen, sind aber doch hier sehr subjektiv. Der Kontext legt gerade anderes nahe – und inhaltlich gibt das Wort es gerade nicht her.

          • Ja, Klein argumentiert nicht mit Matthäus 6,34, aber mit ganz ähnlichen Kontextstellen (Aussendungspredigt) und kommt dabei wie gesagt zu einem ähnlichen Ergebnis wie Sie.

            Die in der Forschung diskutierten sprachlichen Herleitungen ordnet er zwei Richtungen zu, die einen übersetzen ἐπιούσιον mit “für den betreffenden Tag”, die anderen (h.M.) mit “für den folgenden Tag” (also morgen).
            Der Begriff “Dasein” kommt in der sprachlichen Herleitung, so wie Klein das referiert, aber gar nicht vor. Da müssten Sie sagen, woher Sie das haben.

          • Da würde ich mal gerne die Belege sehen. Das Wort gibt die Bedeutung einfach nicht her. Er führt auch keine Belege an, sondern argumentiert wieder von einem hebräische oder aramäischen Kontext her. Das bleibt aber spekulativ. Rückübersetzungen helfen doch nicht wirklich weiter. Warum hätte dann die ntl. Autoren nicht das Wort für “morgen” (aúrion) verwendet – das erscheint doch alles wenig glaubhaft. Also: Hans Klein führt keine Belege für seine Argumentation aus dem Forschungsstand an, Rückübersetzungen bleiben gewollt und im griechischen hätte es ein entsprechendes Äquivalent gegeben – das bleibt doch alles sehr dünn und fragwürdig, was Hans Klein da macht. Das überzeugt mich nicht.

          • Die Belege kenne ich auch nicht, der Artikel ist aus 2011 und verweist in der Literaturliste auf sein eigenes Buch (Klein, H., Das Vaterunser. Seine Geschichte und sein Verständnis bei Jesus und im frühen Christentum, in: H. Klein / V. Mihoc / K.W. Niebuhr (Hgg.), Das Gebet im Neuen Testament, WUNT 249, Tübingen 2009, 177-143).
            Ich nehme an, da wird das näher ausgeführt und belegt.

            Allerdings sagen Sie ja auch nicht, von welchen Autoren diese Idee mit dem “Dasein” stammt.
            Die Idee klingt gut, finde ich, und könnte mich durchaus überzeugen, aber mir fehlt der Beleg, wer denn behauptet hat, dass „epioúsion“ svw. “das zum Dasein Nötige” bedeutet. Bei den Autoren, die ich dazu kenne (einschließlich dieser Lexikonartikel von Klein) steht immer nur, man könne letztlich nicht genau wissen, was das Wort heißt.

          • Doch, ich sage ja, dass das lexikalisch nicht anders geht. Sie brauchen also in einem Wörterbuch altgriechisch – deutsche schauen. Etwa in das von Bauer und Aland. Die Quelle habe ich, so gesehen, also angegeben. Hans Klein bleibt da völlig spekulativ. Das führt streng genommen gar nicht weiter. Allein die lexikalische Wortbedeutung spricht schon dagegen. Wie gesagt: ein Blick ins Wörterbuch genügt.

          • Also bei Rienecker (13. Aufl., 1970) steht dasselbe wie bei Klein Alt. 1 (“was für den vorliegenden Tag bestimmt ist”).

            Die Alt. 2 (“morgen”) kommt bei ihm nicht vor.

            Von “Dasein” steht da aber auch nichts.

          • Die englische Ausgabe von 2000 des auf Walter Bauer zurückgehenden Lexikons nennt beide von Klein erwähnten Alternativen (either “daily” bread or “bread for tomorrow”). Von “Dasein” ist offb. auch da nichts gesagt.

            William Arndt, Frederick W. Danker and Walter Bauer, A Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Christian Literature, 3rd ed. (Chicago: University of Chicago Press, 2000), 376.

          • Dss ist zwar interessant, weil es sich dann von epienai ableitet, hier ist m.E. Nach aber epi ousia zu lesen. Epienai widerspricht dich gerade Mt 6,34. ist spitzfindig, aber kontextuell dich schwierig. Epi ousia entspricht da doch exakt der eigentluchen Intention.

          • Klar, das stimmt natürlich. Es kommt zweimal vor und ist deswegen kein Hapax leg., Denkfehler von mir, sorry.

            Lukas übersetzt das Wort Klein zufolge gemäß der Alt. 1 seiner Systematik (S. 4): Lk versteht ἐπιούσιον (epiousion) im Sinne von „für den betreffenden Tag notwendig“.

          • „Das zum Dasein Nötige“ – als „hypostasierende“ Deutungsvarianten werden auch „Zukunftsbrot“, „heutiges Brot“ und „morgiges Brot“ (von epienai) angegeben. Aber was soll kontextuell eine Bitte „unser morgiges Brot gib uns heute“ – gerade mit Verweis auf Mt 6,34? Wie gesagt: Spitzfindig ja, aber doch auch sehr gewollt. „Gib uns das nötige Brot heute“ passt sowohl intentional als auch kontextuell. Warum also exegetische Winkelzüge machen?

          • Super danke!
            Ihr Fazit entspricht auch Hans Kleins Ergebnis.

            Ich bin da nur insoweit etwas vorsichtig, weil ich nicht gut einschätzen kann, inwieweit diese Übersetzung mit “morgen” (die kontextuell nicht zu passen scheint) sprachlich nicht doch etwas für sich hat, wie das Kleins Darstellung andeutet, weil er diese Übersetzung als h.M. bezeichnet (“In der gegenwärtigen Forschung wird der zweiten Möglichkeit weithin der Vorzug gegeben, zunächst aus sprachlichen Gründen …”).
            Aber seisdrum, da müsste man genauer nachlesen, wer und wie genau man zu dieser Übersetzung gekommen ist und wer das heute tatsächlich noch vertritt.

            Danke für das aufschlussreiche Gespräch!!

  3. Ich denke, es geht doch beim gesamten Vater unser dem Herrn um den Kern des Betens an sich. Und zwar auf Grund der entsprechenden Bitte Seiner Jünger an Ihn, sie das rechte Beten zu lehren.

    Sehr zutreffend haben Sie, Dr. Kleine, sowohl Jesu Versuchungserfahrung durch den Teufel in der Wüste als auch im Garten Getsemanae angeführt; mir fällt spontan auch noch die Szene ein, als Petrus den zuvor als Messias bekannten Herrn von seinem Opfertod in Jerusalem abhalten will…
    Zurück zur Ölbergszene: Jesus betet, dass nach Möglichkeit(!) doch der Kelch der öffentlichen Hinrichtung an Ihm vorbeigehen möge. Ich deute das i.S. der 6. Vaterunserbitte als ungeheuere Ihm bevorstehende Versuchungserfahrung, in die Ihn doch – falls irgendwie vermeidbar – der Vater Bitte nicht führen möge. Der Herr fügt aber daran unmittelbar die 3. Vaterunserbitte (…Dein Wille geschehe [statt Meines Willens]) an! Und beugt bzw. ergibt sich selbst so in den Willen des Vaters.
    Interessant finde ich in diesem Zusammenhang auch noch, dass Er sich um Seine schlafenden Jünger kümmert und sie zum Wachen und Gebet anhält – eben damit sie selbst nicht in Versuchung fallen mögen. Wie wichtig und vorausschauend das vom Herrn gedacht ist, zeigt u.a. die spätere 3malige Verleugnung der Bekannt- und Gefolgschaft des Herrn durch Petrus im Tempelvorhof.