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Heiligkeit als Standard Alttestamentliche Anmerkungen zu „Gaudete et Exsultate“


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Mit seinem Lehrschreiben „Gaudete et Exsultate“ betont Papst Franziskus, dass der Ruf zur Heiligkeit kein Elitenprogramm ist. Er demokratisiert den Heiligkeitsbegriff.1) Sie ist kein unerreichbares Ideal, sondern „nichts anderes als die in Fülle gelebte Liebe [Jesu]“2), wie er mit einem Zitat aus einer Katechese von Papst Benedikt XVI klarstellt. Christliche Existenz ist die Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes und dadurch eine Sendung, ja eine Mission für jeden Christen.3) Um das christliche Grundverständnis von Heiligkeit als praktische Lebensform zu erklären, legt er die Seligpreisungen im Matthäus-Evangelium aus (Matthäus 5,1-12, siehe auch Matthäus 25,31-46) und kommt zu dem Schluss: „[K]ann man etwa die Heiligkeit abseits dieses konkreten Anerkennens der Würde jedes menschlichen Wesens verstehen?“4) Dieser Ruf zur Heiligkeit erklingt bereits im Alten Testament, wie Papst Franziskus betont:

„Der Ruf zur Heiligkeit ist nämlich von den ersten Seiten der Bibel an auf verschiedene Weise präsent. So erging die Aufforderung des Herrn an Abraham: ‚Gehe vor mir und sei untadelig! (Gen 17,1)‘ […] Was ich […] mit diesem Schreiben in Erinnerung rufen möchte, ist vor allem der Ruf zur Heiligkeit, den der Herr an jeden und jede von uns richtet, den Ruf, den er auch an dich richtet: ‚Seid heilig, weil ich heilig bin‘ (Lev 11,44; 1 Petr 1,16).“5)

Gehe vor mir und sei untadelig!

Heilige gibt es nicht erst, seitdem es das Christentum gibt. Bereits der Prophet Elisa wird im Alten Testament als „heilig“ bezeichnet (2 Könige 4,9) und der Prophet Jeremia wurde von Gott bereits vor seiner Geburt „geheiligt“ (Jeremia 1,5). Heiligkeit ist hier grundgelegt in der Beziehung zu Gott und beschreibt eine dynamische Funktion. Sie ist das menschliche Wirken im göttlichen Auftrag in der Welt – so gesehen sind das Heilige und das Profane kein strikter Widerspruch. Auch die Aufforderung an Abraham ist in diesem Sinne ein Ruf zur Heiligkeit. Darin kommt das Wort „heilig“ nicht vor, sondern Abraham wird aufgefordert „untadelig“ zu sein. Das verwendete hebräische Wort „‎תָמִֽים“ (gesprochen: tamim) wird häufig in den alttestamentlichen Gesetzen verwendet, um ein Opfertier als fehlerfrei und makellos zu bezeichnen. Was für ein Anspruch an das Leben Abrahams! Es entspricht nur der Forderung Gottes, wenn die Zugehörigkeit zu Gott vorbehaltlos und unbedingt ist. Das Kriterium hierfür findet sich in dem Imperativ „gehe vor mir!“, oder wörtlicher übersetzt: „wandle vor mir!“. Der Lebenswandel Abrahams soll sich vollends an Gott ausrichten, bzw. ihm gegenüber verantwortet sein. Vor Gott wandeln bedeutet im Alten Testament sich unter seine Aufsicht zu stellen, sich von ihm leiten zu lassen und sich unter seinen Schutz zu stellen.

Seid heilig, weil ich heilig bin!

Das Buch Levitikus erklärt, was es bedeutet, sein Leben an Gott auszurichten. Mehrfach findet sich in ihm die Aufforderung, die auch Papst Franziskus zitiert:

Erweist euch als heilig und seid heilig, weil ich heilig bin. Levitikus 11,44 (siehe auch Levitikus 20,7)

In Levitikus 11 dient dieser Vers zur Begründung, warum das Volk Israel sich durch das Essen von Kriechtieren und Gewürm nicht verunreinigen soll. Das Buch Levitikus setzt voraus, dass zur Heiligkeit sowohl die ethische als auch die kultische Dimension gehört. So findet sich diese Aufforderung, heilig zu sein, in einem Kapitel mit Gesetzen betreffs des Essens und der Nahrung. Heiligkeit ist ein alle Lebenssphären umfassender Anspruch, der sowohl das Verhältnis zu Gott, zu den Menschen und zur Welt insgesamt definiert. Gott als Schöpfer der Welt ist das Prinzip der Heiligkeit und seine Heiligkeit hat einen verpflichtenden Charakter nicht nur im Gottesdienst, sondern auch im ethischen Handeln, wie beispielhaft Levitikus 19 verdeutlicht. Dieses Kapitel versammelt soziale, ethische und auch liturgische Einzelbestimmungen, die mit der grundlegenden Aufforderung beginnen:

Seid heilig, denn ich, der HERR, euer Gott, bin heilig. Levitikus 19,2

Aufgrund der Heiligkeit Gottes soll Israel zum Beispiel die Elterngeneration ehren, die Sabbate halten, keine anderen Götter neben JHWH verehren, für die Armen und Fremden sorgen, das Recht nicht beugen, nicht hassen und den Nächsten lieben. In eben diesem Kapitel findet sich auch die Aufforderung an Israel, Fremde nicht zu unterdrücken – eine Wahrheit, die die Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk lehrt:

Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der HERR, euer Gott. Levitikus 19,33-34

Innerhalb der europäischen Diskussion, wie man mit Flüchtlingen und dem Islam umgehen soll, ist dieser Ruf zur Heiligkeit eine Stimme, die nicht ungehört verhallen darf – und die Papst Franziskus besonders in seinem Lehrschreiben betont:

„Oft hört man, dass angesichts des Relativismus und der Grenzen der heutigen Welt beispielsweise die Lage der Migranten eine weniger wichtige Angelegenheit wäre. Manche Katholiken behaupten, es sei ein nebensächliches Thema gegenüber den ‚ernsthaften‘ Themen der Bioethik. Dass ein um seinen Erfolg besorgter Politiker so etwas sagt, kann man verstehen, aber nicht ein Christ, zu dem nur die Haltung passt, sich in die Lage des Bruders und der Schwester zu versetzen, die ihr Leben riskieren, um ihren Kindern eine Zukunft zu bieten. Sehen wir, dass es genau das ist, was Jesus von uns verlangt, wenn er uns sagt, dass wir in jedem Fremden ihn selbst aufnehmen (vgl. Mt 25,35)? Der heilige Benedikt hat dies ohne Vorbehalte angenommen. So hat er, auch wenn dies das Leben der Mönche „verkomplizieren“ könnte, festgelegt, dass alle Gäste, die zum Kloster kommen, ‚wie Christus‘ aufgenommen werden sollen, indem ihnen sogar Zeichen der Verehrung erwiesen werden, und dass die Armen und Pilger vor allem mit ‚Eifer und Sorge‘ behandelt werden sollen.“6)

Aufruf!

Der Ruf zur Heiligkeit ist der Aufruf, sich die Hände dreckig zu machen – nicht unrein –, „voll Freude, Optimismus und Offenheit für Gottes Wort alles Mittelmaß hinter sich zu lassen und aufzubrechen“, wie Kardinal Marx das Lehrschreiben kommentiert.7) Der Aufruf zur Heiligkeit in der Bibel ist die Aufforderung, nicht einfach das Mittelmaß hinter sich zu lassen, sondern Gottes Willen – seine Barmherzigkeit und seine Gerechtigkeit – als Standard des menschlichen Lebens zu definieren.


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Bildnachweis

Titelbild: Licht, Gebäude, Lizenz: gemeinfrei.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Siehe „Papst-Schreiben: ‚Klare Absage an Elitenprogramm der Heiligkeit‘“, katholisch.at, 09.04.2018 [Stand: 14. April 2018].
2. Gaudete et Exsultate“, Nr. 21.
3. Siehe „Gaudete et Exsultate“, Nr. 23.25.
4. Gaudete et Exsultate“, Nr. 98.
5. Gaudete et Exsultate“, Nr. 1.10.
6. Gaudete et Exsultate“, Nr. 11.
7. Kardinal Marx würdigt Apostolisches Schreiben Gaudete et exsultate von Papst Franziskus ‚über den Ruf zur Heiligkeit in der Welt von heute‘“, DBK, Pressemeldung 56, 09.04.2018 [Stand: 14. April 2018].
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