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Verfinsterung Die Psalmen als Anti-Depressivum?


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Advent, Advent, die Seele brennt – die hell-beleuchtete, vorweihnachtliche Freude kann für Menschen, die unter Depression leiden, eine von außen auferlegte, krampfhafte Glückseligkeit sein, die sie nur noch weiter in die einsame Finsternis treibt. 1) Die Depression rückt alles Negative im Leben nicht nur ins Zentrum, sondern sie vergrößert es auch riesenhaft und lässt es unertragbar werden. Sie ist eine „personale Erkrankung“2): eigentlich elementare Herausforderungen des Alltags führen zu niederdrückenden komplexen psychosomatischen Reaktionsweisen nach außen, die dem sozialen Umfeld anzeigen, dass die erkrankte Person den Zusammenbruch ihrer Lebenskraft erlebt; die Folge sind Apathie und innere emotionale Leere.3)

Weder in der Adventszeit noch sonst wann im Jahr ist die Aufforderung an die erkrankte Person, „sich zusammenzureißen“ oder etwas Süßes zur Stimmungsaufmunterung zu essen eine geeignete Therapieform – auch wenn über ein Drittel der Deutschen so auf die äußeren Anzeichen einer Depression reagieren würden.4) Den Zahlen der Stiftung „Deutsche Depressionshilfe“ zufolge, erkranken jährlich 5,3 Millionen Menschen in Deutschland an einer behandlungsbedürftigen Depression und das Risiko, im Laufe des Lebens an einer Depression zu erkranken, wird für Frauen auf 21-23% und für Männer auf 11-13% geschätzt.5)

Depression, der böse Geist Gottes

Depression ist nicht nur ein Phänomen der Moderne, sondern es ist eine menschliche und biblische Erfahrung. 6) In den Samuelbüchern wird König Sauls Depression als ein „böser Geist von JHWH“ in der Person beschrieben, der ihn regelmäßig überfallartig „in Angst versetzte“ (1 Samuel 16,14) 7). In der Geschichte Sauls hängt die Depression mit der Verwerfung durch Gott zusammen und Erleichterung verschafft ihm eine Musiktherapie durch den Leierspieler und zukünftigen König David.

Und es geschah, wenn der Gottesgeist zu Saul kam, da nahm David die Leier und spielte [sie] mit seiner Hand. So verschaffte er Saul Weite / Erleichterung. Es ging ihm gut, der Geist des Bösen wich ab von ihm. 1 Samuel 16,23

Eine Depression geht mit „einer tiefgreifenden Veränderung, einer Einengung einher“8), aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt. Der leidenden Person muss Raum zum Durchatmen verschafft werden.

Die Psalmen als Therapie?

Die David, dem Leierspieler und König, zugeschriebenen Psalmen bieten seit Jahrhunderten Betenden Worte, um durch Klage, Bitte und Hilfeschreie ihre je eigene Not ausdrücken zu können und sich so Luft zu verschaffen. Athanasius von Alexandrien hob als besondere Eigenschaft des Psalters hervor, „dass die Psalmen auf den, der sie singt, wie ein Spiegel wirken; er kann sich selbst und die Regungen seiner Seele in ihnen betrachten und sie in dieser Erkenntnis beten“9). Aber gerade für depressive Menschen können Psalmenworte auch einer Gottes- beziehungsweise Lobvergiftung gleichkommen. Der häufig in den Psalmen anzutreffende Weg von der Klage zum Lob kann nur nachvollzogen werden, wenn die Worte eigene Erfahrungen widerspiegeln, wenn dieser Stimmungsumschwung „Ausdruck eines Kampfes, einer Bewegung, eines aktiven Prozesses [ist], der sich im Menschen abspielt“10) ansonsten sind die Psalmen nur leere Worthülsen.

Die Verbalisierung der Gefühle ist ein erster Schritt aus der Depression und als Sprachangebot können Psalmen „ein poetisch-theologisches Anti-Depressivum“11) sein. Aber generell in der Gegenwart und im Besonderen im Falle von depressiven Menschen ist der Gottglaube keine selbstverständliche Voraussetzung. Im Angesicht des strafenden Gottes, wie im Falle Sauls, kann das Gottesbild gar Teil des Problems und nicht der Lösung sein. Das Gebet kann auch wie Psalm 88 in der Finsternis enden. In dieser Finsternis ist Gott nicht gegeben, sondern ist nur als Gegenüber eine Möglichkeit, ein Ansatzpunkt für die Hoffnung, dass es einen Ausweg gibt aus der gefangennehmenden Enge und Sinnleere. Ohne diese Hoffnung ist keine Therapie möglich. Psalmen sind keine Therapie, sondern ein Sprachangebot mit dessen Hilfe, die depressive Person ihre Gefühlswelt ausbuchstabieren kann vor einem Gegenüber. In den Psalmen ist dieses Gegenüber Gott, der in diesen Texten einen Raum schafft, der es der depressiven Person ermöglicht, sich zu sich selbst zu verhalten, statt in sich selbst gefangen zu sein.12)

Ausbuchstabieren

Ein solches Sprachangebot für depressive Menschen ist zum Beispiel Psalm 38.13) Im Kontext der Klage und Bitte zeigen sich in den Worten des Psalmisten verschiedene Symptome einer Depression. Der Beter fühlt sich erstarrt, zerschlagen und vereinsamt (Verse 9.14). Besonders Vers 7 sind Worte mit denen sich ein depressiver Mensch identifizieren kann:

Ich war gekrümmt/verstört, niedergebeugt gar sehr, den ganzen Tag ging ich verfinstert umher. Psalm 38,7

Während üblicherweise der zweite Teil des Verses als Trauerritus übersetzt wird, 14) hat Bernd Janowski auf die eigentliche Grundbedeutung des Verbs „schwarz werden, sie verfinstern“ verwiesen: „mit dem ‚Schwarz-/Finster-Werden‘ [kann] grundsätzlicher das Schwinden der Lebenskraft, also der psychosomatisch erlebte Einbruch der ‚Finsternis‘[…] gemeint sein […]. Was ‚hell‘ ist, gehört nach altorientalischer wie biblischer Auffassung auf die Seite des Kosmos / des Lebens, und was „dunkel“ ist, auf die Seite des Chaos/des Todes“ 15) (vgl. Psalm 13,2-5). Ob die depressive Person aus dieser Finsternis herauskommt und sie so wie der Beter als Vergangenheit beschreiben kann, hängt davon ab, ob ein Stimmungsumschwung sich ereignet und die betende Person, wenn sie gläubig ist, die letzten Worte des Psalms zu den eigenen machen kann:

Eile mir zu Hilfe, JHWH, du mein Heil! Psalm 38,23

– dazu bedarf es in den Worten Erich Fromms nicht weniger als ein „einer Offenbarung vergleichbares Erlebnis“16).

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Bildnachweis

Titelbild: Depressed, Lizenz: gemeinfrei.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Dieser Text erscheint zeitgleich im theologischen Feuilleton www.feinschwarz.net.
2. T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 32010, S. 274.
3. Vgl. T. Staubli / S. Schroer, Menschenbilder der Bibel, Ostfildern 2014, S. 158.
4. Vgl. C. Sander, Befragung „Depression – So denkt Deutschland“, in: Stiftung Deutsche Depressionshilfe / Deutsche Bahn Stiftung (Hg.), Deutschland-Barometer Depression. Volkskrankheit Depression – So denkt Deutschland. Repräsentative Befragung über Ansichten und Einstellungen der Bevölkerung zur Depression, 2017 [Stand 12.12.2017].
5. Stiftung Deutsche Depressionshilfe, Was ist eine Depression? Häufigkeit [Stand: 12.12.2017].
6. Vgl. T. Veijola, Depression als menschliche und biblische Erfahrung, in: W. Dietrich / M. Marttila (Hg.), T. Veijola, Offenbarung und Anfechtung. Hermeneutisch-theologische Studien zum Alten Testament (Biblisch-theologische Studien 89), Neukirchen-Vluyn 2007, S. 159-190.
7. Wenn nicht anders angemerkt, stammen alle Bibelübersetzungen vom Autor.
8. T. Fuchs, Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 32010, S. 274-275.
9. Athanasius, Epistula ad Marcellinus 2.
10. E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott, Reinbek 1980, S. 168.
11. B. Janowski, Das erschöpfte Selbst. Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch, in: J. Schnocks (Hg.), „Wer lässt uns Gutes sehen?“ (Ps 4,7). Internationale Studien zu Klagen in den Psalmen (Herders Biblische Studien 85), Freiburg u.a. 2016, S. 139.
12. Vgl. Helmut Jaschke, „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir“. Psychotherapie aus den Psalmen. Freiburg u.a. 1989, S. 31.
13. Ausführlich dazu und allgemein zum Thema „Depression“ in den Psalmen: B. Janowski, Das erschöpfte Selbst. Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch, in: J. Schnocks (Hg.), „Wer lässt uns Gutes sehen?“ (Ps 4,7). Internationale Studien zu Klagen in den Psalmen (Herders Biblische Studien 85), Freiburg u.a. 2016, S. 95-143.
14. Zum Beispiel Einheitsübersetzung 2016: „den ganzen Tag ging ich trauernd einher“; vgl. dagegen jedoch bereits die Septuaginta: „den ganzen Tag ging ich düster dreinblickend umher“.
15. B. Janowski, Das erschöpfte Selbst. Zur Semantik der Depression in den Psalmen und im Ijobbuch, in: J. Schnocks (Hg.), „Wer lässt uns Gutes sehen?“ (Ps 4,7). Internationale Studien zu Klagen in den Psalmen (Herders Biblische Studien 85), Freiburg u.a. 2016, S. 111.
16. E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott, Reinbek 1980, S. 169.
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2 Replies

  1. Hallo, Till.
    Dein Text hat mir gut getan. Alleinsein im großen Haus, Dunkelheit, die immer wieder aufbrechende Verlusterfahrung. Schrecklich. Besonders angesichts des total auf Konsum gestylten Weihnachtsfestes, dem fast nicht zu entrinnen ist, es sei denn, ich kann mich wie heute auf leeren Straßen zum früh morgendlichen Rorategottesdienst aufmachen.
    Danke!
    Horst

  2. Hier ein sehr lesenswerter, ergänzender Kommentar von A. Burgmer (Theologin):

    “Der Text zum Thema Psalmen und Depression löste sehr widersprüchliche Gefühle in mir aus. Einige Formulierungen finde ich problematisch und mir ist wichtig – in Rück- und Absprache mit Till Magnus Steiner – ein ergänzende Sichtweise ins Spiel zu bringen. Fragen nach Gott, Glauben oder auch biblisch-spirituelle Impulse helfen einem depressiven Menschen im Zweifelsfall nicht und sollten nur mit Bedacht ins Spiel gebracht werden. Wichtig ist, dass die Grunderkrankung professionell und das heisst mit Psychotherapie und (auch) Medikamenten behandelt wird.

    Meine Erfahrung mit meiner mittlerweile nur noch leichten Depression ist: Es gibt keine «Gefühle», die ausbuchstabiert werden könnten. Teil der Depression ist: Die gewohnte Fühlfähigkeit ist weg, Gefühle sind inexistent. Ich wollte nichts mehr, als wieder «normal» fühlen, doch es ging nicht. In meiner Depression gab es auch keinen Gott. Weder einen strafenden, noch einen liebenden. Auch keinen Dämon. Es gab keinen Glauben. Ich habe in der Bibel gelesen und sie sagte mir nichts ausser, dass ich auch das nicht mehr konnte: Glauben.
    In der Depression gab es genau nichts. In der Depression wurde ich auf ein «Ich» geworfen welches nicht (mehr) existiert. Und jede Erinnerung durch Texte, Worte usw. an das verloren gegangene «Ich» wurde zur Belastung, weil ich dieses «Ich» gerne wieder gehabt hätte.

    Ein Beispiel: Ich erinnerte mich, dass ich bei Trauer weinen kann. Ich wusste, dass Tränen Erleichterung verschaffen. Also weinte ich, und es war pure Körpermechanik. Nicht mehr. Keine Trauer und keine Erleichterung. Nur Salzwasser, das aus Löchern an den inneren Augenwinkeln tropfte. Der Erinnerung daran, dass das früher anders war, traute ich nicht. Und der Aussage der Therapeutin, dass das irgendwann auch wieder so sein wird, glaubte ich nicht.
    Depression ist Vakuum. Sie saugt alles weg und interessiert sich meiner (!) Erfahrung nach nicht dafür, ob Advent ist oder Sommer oder wie die Menschen um einen herum drauf sind. Ich selber habe «nur» eine schwere Erschöpfungsdepression erlebt. Doch ich habe rund zwei Jahre gebraucht, um diese Erfahrung und die immer wieder unberechenbar geschehenden Schübe, in mein Leben zu integrieren. Ich weiss, dass diese Schübe bis an mein Lebensende immer wiederkommen können.

    Was geholfen hat: Eine gute Therapie! Medikamente. Das genaue Kennenlernen der eigenen Depressionen, die sich neben der Lähmung in allen Lebensbereichen auch in Zwangshandlungen und starken Konzentrationsschwächen äusserten. Für den Umgang mit der Depression muss jede und jeder den ganz eigenen Weg finden.
    Die Psalmen, Gott, ein wiederkehrender Glaube halfen mir erst später. Ich habe bei der Lektüre des Textes von Till Magnus Steiner gemerkt, dass ich es sehr schwierig finde, eine andere als die rein therapeutische Sichtweise auf das Thema anzuwenden und das, obwohl ich selber Theologin bin.

    Selbst jetzt, mit all meiner Erfahrung und der in der Therapie gelernten Selbstkompetenz ist es so: stecke ich in einem Schub, ist es genauso wie beim ersten Mal. Da ist nichts. Die Schübe dauern einfach nicht mehr so lang und sind seltener. Selbst jetzt, mit dem Wissen, dass es mir gut geht und ich Gott mein Fundament nenne, sind die Momente des Schubs Momente von Gottlosigkeit und Nicht-Glauben. Sie sind Momente von Nicht-Existenz in der Existenz. Sie gehen vorbei, weil ich akzeptiere, dass sie da sind, und geduldig warte, bis sie vorbeiziehen.”