Kapitel
Disput

Die Erben des Testamentes Neutestamentliche Anmerkungen zum aktuellen Streit um das Alte Testament

Das wütende Schlagen akademischer Türen ist in diesen Tagen kaum zu überhören. Ausgelöst wurde der Streit durch den evangelischen Theologen Notger Slenczka mit einem Artikel über das Verhältnis der Kirche zum Alten Testament1). N. Slenczka vertritt darin folgende These:

„Das AT ist als Grundlage einer Predigt, die einen Text als Anrede an die Gemeinde auslegt, nicht mehr geeignet: Sie – die christliche Kirche – ist als solche in den Texten des AT nicht angesprochen.“2)

Aus diesem Grund unterscheide man ja auch zwischen zwei Testamenten – dem Altem und Neuem, weil es eben Schriften unterschiedlicher Religionen seien. Aus historischer Sicht sei das Alte Testament  das Produkt und die Identitätsgrundlage einer Religionsgemeinschaft, von der sich die frühe Kirche immer mehr unterschieden, ja sogar entfremdet habe, wozu eben auch die Ausbildung des neutestamentlichen Kanon beigetragen habe3).

Ein neuer Streit um Altes

Notger Slenczkas These hat nicht nur eine intensive fachliche Diskussion entfacht4). Sie löst auch Assoziationen zur Lehre des Marcion aus, der im 2. Jahrhundert die Geltung des Alten Testamentes in Frage stellte. Marcions Lehre wurde im Prozess der Identitätsbildung der frühen Kirche verworfen und als Häresie verurteilt.

Marcion spielt auch in der Argumentation von N. Slenczka eine nicht unerhebliche Rolle, denn er beruft sich in seiner Argumentation unter anderem auf Adolf von Harnack. A. von Harnack hatte 1921 ein Buch über Marcion veröffentlicht, aus dem N. Slenczka in seinem Artikel wörtlich zitiert:

“… das AT im 2. Jahrhundert zu verwerfen, war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation noch nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische Urkunde im Protestantismus noch zu conservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung.”5)

N. Slenczka betont zwar mehrfach in der Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, er wolle das Alte Testament nicht verbannen6). Gleichwohl möchte er, wie er selbst sagt, mit der These provozieren,

„dass das AT in der Tat, wie Harnack vorgeschlagen hat, eine kanonische Geltung in der Kirche nicht haben sollte“7).

Damit aber stellt N. Slenczka mit seiner These im Endeffekt die Frage nach der Identität der Kirche und des Christlichen selbst.

Eine Frage der Identität

Im Rahmen seiner eher systematisch-theologisch geprägten Argumentation kommt N. Slenczka auf Römer 9-11 zu zu sprechen. Die Identitätsfrage sieht er mit Blick auf Paulus in Römer 11,1 thematisiert. Paulus stellt seine eigene Identität in den Zusammenhang des Volkes Israel:

Ich frage also: Hat Gott sein Volk verstoßen? Keineswegs! Denn auch ich bin Israelit, ein Nachkomme Abrahams, aus dem Stamm Benjamin. Römer 11,1

Nach N. Slenczka wird gerade in der Person des Paulus sichtbar, dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat:

„Für Paulus ist das Bekenntnis zu Jesus von Nazareth als dem Herrn nicht eine unter vielen Möglichkeiten, das Judesein zu gestalten. Vielmehr wird – im engeren Zusammenhang der Kapitel ausgeführt in Rö 10 – das Bekenntnis zu Jesus von Nazareth zum Basiskriterium der Zugehörigkeit zu Gott und damit zum Basiskriterium der religiösen Identität.“8)

Wahres Judesein erwiese sich dann erst im Bekenntnis zu Jesus als dem Herrn9). Nach N. Slenczka formuliert Paulus hier

„ein Konzept jüdischer Identität, das sein Zentrum im Christusbekenntnis hat“10).

Natürlich weiß auch N. Slenczka, dass im Hintergrund die Auseinandersetzung zwischen Heiden- und Judenchristen steht. Allerdings unterscheidet er zwischen dem zeitgenössischen Judentum und einer innerchristlichen Auseinandersetzung zwischen Juden- und Heidenchristen. Zur Zeit des Paulus gab es diese Differenzierung zwischen Juden auf der einen und Christen auf der anderen Seite so nicht. Die Abstammung (σπέρμα/sprich: Spérma – vgl. Römer 11,1) Israels von Abraham und die damit verbundene Erwählung bleibt ein bestehendes Faktum, das aufgrund der Treue Gottes nicht zurückgenommen wird.

Wie wenig die Scheinabgrenzung N. Slenczkas für eine Unterscheidung von jüdischer und christlicher Identität taugt, zeigt eine Äußerung aus der berühmten, sogenannten „Narrenrede“ des Paulus, in der er sich direkt mit seinen innerkirchlichen Gegner auseinander setzt:

Womit aber jemand prahlt – ich rede jetzt als Narr –, damit kann auch ich prahlen. Sie sind Hebräer – ich auch. Sie sind Israeliten – ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams – ich auch. Sie sind Diener Christi – jetzt rede ich ganz unvernünftig -, ich noch mehr. 2 Korinther 11,21-23

Im Hintergrund des 2. Korintherbriefes stehen innergemeindliche Auseinandersetzungen um die Lauterkeit des Paulus. In diesem Zusammenhang hat man offenkundig von bestimmter Seite auch sein heidenchristliches Engagement in Frage gestellt. Es ist die zeitgenössische innerkirchliche Auseinandersetzung schlechthin. Zentral ist dabei vor allem die Frage, ob für Nicht-Juden die Beschneidung, also der formale Beitritt zum Judentum, der Taufe vorgängig sein muss. Paulus beantwortet die Frage eindeutig. Für ihn würde die Beschneidung das Übernehmen der Thora bedeuten, womit aber die eigentliche Heilstat Jesu Christi in Frage gestellt würde. Dies verdeutlicht er im Brief an die Galater:

Ihr unvernünftigen Galater, wer hat euch verblendet? Ist euch Jesus Christus nicht deutlich als der Gekreuzigte vor Augen gestellt worden? Dies möchte ich von euch erfahren: Habt ihr den Geist durch die Werke des Gesetzes oder durch die Botschaft des Glaubens empfangen? Galater 3,1-2

Die Neuen sind Erben des Alten

Scheinbar spielt Paulus hier Judentum und Christentum gegeneinander aus. Dass es darum jedoch nicht geht wird im Fortgang des Textes deutlich, wenn Paulus erneut die Abstammung von Abraham ins Spiel bringt (vgl. Galater 3,6-18).  Zweifellos stammt das auserwählte Volk Israel von Abraham ab (σπέρμα). Paulus muss nun begründen, warum auch die Unbeschnittenen, die Nicht-Juden in die Abstammung Abrahams eintreten:

Von Abraham wird gesagt: Er glaubte Gott, und das wurde ihm als Gerechtigkeit angerechnet. Daran erkennt ihr, dass die11), die glauben, Abrahams Söhne sind. Galater 3,6-7

Der Rhetorik des Paulus ist seine Sympathie mit den Heidenchristen, die ohne Beschneidung – „allein aus Glauben“ – in die Nachkommenschaft Abrahams eintreten, anzumerken. Nicht ohne Grund wendet Paulus daher einen Vergleich aus dem Erbschaftsrecht an:

Brüder, ich nehme einen Vergleich aus dem menschlichen Leben: Niemand setzt das rechtsgültig festgelegte Testament eines Menschen außer Kraft oder versieht es mit einem Zusatz. Abraham und seinem Nachkommen wurden die Verheißungen zugesprochen. Es heißt nicht: «und den Nachkommen», als wären viele gemeint, sondern es wird nur von einem gesprochen: und deinem Nachkommen; das aber ist Christus. Damit meine ich: Das Testament, dem Gott einst Gültigkeit verliehen hat, wird durch das vierhundertdreißig Jahre später erlassene Gesetz nicht ungültig, so dass die Verheißung aufgehoben wäre. Würde sich das Erbe nämlich aus dem Gesetz herleiten, dann eben nicht mehr aus der Verheißung. Gott hat aber durch die Verheißung Abraham Gnade erwiesen. Galater 3,15-18

Gottes Verheißung gilt – ohne Wenn und Aber. Sie erfährt auch keine Erweiterung. Die dem Abraham zugesprochene Verheißung ist das Testament (διαθήκη/sprich diathéke), das weder außer Kraft noch mit einem Zusatz versehen kann. Sie wird auch in Christus nicht aufgehoben. Im Gegenteil: Christus erscheint hier als Adressat des Testamentes. Das in ihm gründende Neue birgt deshalb immer das ganze Alte.

Das Alte im Neuen

In diesem Sinn ist auch das Bild vom Ölbaum zu verstehen, das Paulus im Zusammenhang der schon angesprochenen Kapitel 9-11 des Römerbriefes entfaltet (vgl. Römer 11,11-24). Gleich die eröffnenden Verse der Bildrede stellen die Interpretation N. Slenczkas in Frage:

Nun frage ich: Sind sie etwa gestrauchelt, damit sie zu Fall kommen? Keineswegs! Vielmehr kam durch ihr Versagen das Heil zu den Heiden, um sie selbst eifersüchtig zu machen. Römer 11,11

Das folgende Ölbaumbild verdeutlicht, wie sehr die neu zum auserwählten Volk hinzukommenden Heiden(christen) von der dem Volk Israel gegebenen Verheißungen abhängig sind:

Ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige. Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden und wenn du als Zweig vom wilden Ölbaum in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der Kraft seiner Wurzel, so erhebe dich nicht über die anderen Zweige. Wenn du es aber tust, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Römer 11,16-18

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Der junge Ölzweig erhält seine Lebenskraft allein aus dem alten Stamm und der alten Wurzel.

Foto: Hans Hillewaert / CC-BY-SA-4.0

Zwar spricht Paulus im Fortgang auch von anderen herausgebrochenen Zweigen. Ihre Lebenskraft aber verloren sie, weil sie nicht glaubten. Sie hielten nicht an der Verheißung fest. Paulus warnt daher vor der Überheblichkeit:

Sei daher nicht überheblich, sondern fürchte dich! Römer 11,20

Neu ist etwas erst mit Blick auf Altes

Aufgrund dieser Mahnung wird man daher vorsichtig sein müssen mit einer vorschnellen Abwertung der alten Verheißung. In ihr liegt die Kraft für die neue Verheißung. Oder – wie Paulus es ausdrückt – die Herrlichkeit der Verheißung des neuen Bundes wird erst auf der Grundlage der Verheißung des alten Bundes sichtbar:

Wenn nämlich schon das Vergängliche in Herrlichkeit erschien: die Herrlichkeit des Bleibenden wird es überstrahlen. 2 Korinther 3,11

Paulus entfaltet hier das Gegenüber von  Altem und Neuem Bund. Er verwendet hier wieder den Begriff διαθήκη (sprich: diathéke), der sowohl mit „Bund“ als auch mit „Testament“ übersetzt werden kann. Der alte Bund wird nicht gelöst. Sein Testament gilt weiter. Erst auf dieser Folie wird die Herrlichkeit des Neuen sichtbar. Ohne diesen Hintergrund würde man die Herrlichkeit des neuen Bundes gar nicht wahrnehmen. Und erst vom Neuen her wird nach Paulus der Sinn des Alten Testamentes, der παλαιὰ διαθήκη (sprich: palaià diathéke) erkannt:

Bis zum heutigen Tag liegt die gleiche Hülle auf dem Alten Bund, wenn daraus vorgelesen wird, und es bleibt verhüllt, dass er in Christus ein Ende nimmt. Bis heute liegt die Hülle auf ihrem Herzen, wenn Mose vorgelesen wird. Sobald sich aber einer dem Herrn zuwendet, wird die Hülle entfernt. 2 Korinther 3,14-17

... wie ein Streit unter Kindern

Aus paulinischer Sicht war das Alte vorläufig. Es findet erst im Neuen seine Erfüllung. Nimmt man aber das Alte hinweg, so lehrt das Bild vom Ölbaum, wird das Neue kraftlos. Altes und Neues Testament sind daher auf das Engste miteinander verbunden. Die paulinische Diktion kennt nur ein auserwähltes Volk. Die Zugehörigkeit zu ihm kann sich aus zwei Kindschaften Abrahams ergeben, die das eine Testament  unterschiedlich interpretieren. Martin Stöhr schreibt dazu:

„Die Fortsetzungsgeschichte des AT kennt zwei Hauptstränge. Der eine ist überzeugt, dass der Schöpfer und Vollender seine Welt erlösen wird. Aber man kann nicht in Jesus von Nazaret d e n Gesalbten Gottes sehen. Zu wenige der biblischen Hoffnungen sind im Christentum erfüllt. Für die anderen verkörpert Jesus den Anfang der messianischen Zeit, des Reiches Gottes. Ihr Gottvertrauen hat ihren Grund in seinen irdischen Taten, in seinem Märtyrertod, seiner Auferweckung. Beide Positionen haben gute Gründe in den messianischen Worten im AT wie im NT.“12)

Identität braucht ein Fundament

Der Streit zwischen den beiden Strängen kann zu einer gegenseitigen Vertiefung der Erkenntnis führen. Er fordert heraus, sich der eigenen Identität immer wieder neu zu vergewissern und sie zu vertiefen. Hierbei gilt: Die Identität des Neuen Testamentes ist grundgelegt im Alten.  Geschwister bleiben Geschwister, auch wenn sie miteinander streiten. Freundschafen kann man beenden, Geschwisterlichkeit nicht. Man wird deshalb das Neue Testament falsch verstehen, wenn man das Alte nicht mehr in seiner ganzen Relevanz ernst nimmt – gerade auch hinsichtlich der Verheißungen und Hoffnungen, die im Neuen unberücksichtigt bleiben.  So lehrt es das Zweite Vatikanische Konzil:

„Gott, der die Bücher beider Bünde inspiriert hat und ihr Urheber ist, wollte in Weisheit, dass der Neue im Alten verborgen und der Alte im Neuen erschlossen sei.“13)

Und bereits das Konzil von Konstantinopel (381 n. Chr.) bekennt über den Heiligen Geist, dass er

„gesprochen hat durch die Propheten“.

Jesus selbst lässt daran keinen Zweifel:

Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinesten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Matthäus 5,17-19

Das Alte gilt im Neuen. Das Alte erklärt das Neue und das Neue lässt das Alte verstehen. So mancher aber, der ein Testament unterschlägt oder sogar fälscht, erbt nur noch unbewohnbare Ruinen.

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Bildnachweis

Titelbild: © Werner Kleine – CC-BY-SA-4.0

Foto “Olea europaea”: Hans Hillewaert – Lizenziert unter CC BY-SA 4.0 über Wikimedia Commons.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Vgl. N. Slenczka, Die Kirche und das Alte Testament, in: Marburger Jahrbuch für Theologie (MJTh) 25 (2013), 83-119.
2. Ebenda, S. 118.
3. Vgl. ebenda, S. 118f.
4. Vgl. hierzu die kurze Übersicht von Hannes Leitlein und Wolfgang Thielmann in der Zeitschrift Christ & Welt (18/2015) – online unter: http://www.christundwelt.de/detail/artikel/wer-braucht-das-alte-testament/ [Stand: 1. Mai 2015].
5. Adolf von Harnack, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott, Leipzig 1921, 248f, zitiert nach N. Slenczka, S. 89.
6. So etwa in seiner Antwort auf die Stellungnahme des Ev. Präsidenten des Koordinierungsrates der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Pfarrer Friedhelm Pieper vom 18.3.2015 (Quelle: https://www.theologie.hu-berlin.de/de/st/slenczkaantwortpieper18-03-2015.pdf [Stand: 1. Mai 2015]).
7. N. Slenczka, S. 83.
8. Ebenda, S. 115
9. Vgl. ebenda, S. 116.
10. Ebenda, S. 117.
11. Das in der Einheitsübersetzung enthaltene Wort „nur“ findet sich im griechischen Urtext nicht (γινώσκετε ἄρα ὅτι οἱ ἐκ πίστεως, οὗτοι υἱοί εἰσιν Ἀβραάμ – wörtlich: Erkennt also, dass die aus dem Glauben, diese sind Söhne Abrahams).
12. M. Stöhr, Braucht de Kirche das Alte Testament? (Quelle: http://www.imdialog.org/bp2015/01/06.html [Stand: 1. Mai 2015]
13. Dei Verbum, 19
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