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Der Jude Jesus Ein neutestamentlicher Zwischenruf angesichts des immer noch existierenden Antisemitismus


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Als der Jude Jesus von den Römern ans Kreuz geschlagen wurde, war seine Mission gescheitert. Bis auf einige wenige Getreue, einige Frauen und ein Jüngling, hatten sich seine Jünger von dannen gemacht, ja sogar seine Bekanntschaft geleugnet. Von der Euphorie des Anfangs, den hochtrabenden Plänen eines erneuerten und innerlich neu erbauten Israel war nichts übriggeblieben. Die, die siegesgewiss schon die Pöstchen verteilt hatten, sah man jetzt nicht mehr. Alle Hoffnung hatte sich aufgelöst in Blut, Schweiß und Tränen. Der Jude Jesus hatte keine Kirche gegründet, keine Nachkommen in die Welt gesetzt, die seinen Namen selig angedenkend weitertragen würden. Der Weg war zu Ende. Der Jude Jesus teilte das Schicksal vieler Nichtrömer, die mit dem Staat in Konflikt gerieten und am Kreuz endeten. Auf einen mehr oder weniger kam es nicht an. Vor allem teilte der Jude Jesus das Schicksal vieler Juden, die die Römer gut vierzig Jahre später ebenfalls ans Kreuz brachten, nachdem sie im Jahr 70 unserer Zeitrechnung einen jüdischen Aufstand niedergeschlagen und den Zweiten Tempel zerstört hatten.

Herrlichkeit für Israel

Wahrscheinlich hätte man nie etwas von dem Juden Jesus gehört, wenn die Seinen sich nicht neu gesammelt hätten. Es war die Begegnung mit dem vom Kreuzestod Auferstandenen, die eine Restauration der alten Jüngergemeinschaft bewirkte. Was auch immer sich damals in den Tagen nach dem Kreuzestod Jesus zwischen Jerusalem und Galiläa zugetragen hat – die Erfahrung muss so fundamental und gleichermaßen real gewesen sein, dass die Jüngerinnen und Jünger begannen, ihr Leben neu zu sehen. Die Angst war noch nicht weg. Die Räume blieben verschlossen. Und doch war da eine Inspiration, das Werk des Juden Jesus weiterzuführen. Und das bestand primär in der spirituellen Erneuerung Israels. Es kam ihm jedenfalls nicht von selbst in den Sinn, sich an Nichtjuden zu wenden. In der Begegnung mit der syrophönizischen Frau antwortet er deshalb geradezu harsch auf deren Bitte, er möge doch ihre Tochter heilen:

Lasst zuerst die Kinder satt werden; denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen. Markus 7,27

Es wir die Beharrlichkeit und Klugheit der Syrophönizierin sein, die Jesus schließlich überwindet. Die Überwindung aber war wohl nicht grundsätzlicher Natur. Als Jesus später wieder in das Gebiet von Tyrus und Sidon kommt, weist er erneut eine nichtjüdische Frau aus Kanaan, die um Heilung bittet, zuerst brüsk zurück:

Ich bin nur zu den verlorenen Schafen des Hauses Israel gesandt. Doch sie kam, fiel vor ihm nieder und sagte: Herr, hilf mir! Er erwiderte: Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den kleinen Hunden vorzuwerfen. Matthäus 15,24-26

Wie schon zuvor, beschimpft er die Frau geradezu verächtlich. Das Verhältnis Jesu zu Nichtjuden war wohl in der Frühzeit seines öffentlichen Wirkens gespannt. Er hatte die Herrlichkeit Israels im Blick, noch nicht das Licht zur Erleuchtung der Heiden.

Eine jüdische Bewegung

Tatsächlich hat auch die nachösterlich restaurierte Jüngergruppe noch nicht die große Mission der Völker im Blick. Die frühe Jüngergemeinde war und blieb eine innerjüdische Bewegung, die den jüdischen Regeln gemäß lebte. Nicht ohne Grund heißt es deshalb in der Apostelgeschichte im Anschluss an das Pfingstereignis und die aufgrund der petrinischen Pfingstpredigt entstehende Urgemeinde, die – wenn überhaupt – erst als Keimzelle der Kirche verstanden werden kann:

Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Lauterkeit des Herzens. Sie lobten Gott und fanden Gunst beim ganzen Volk. Und der Herr fügte täglich ihrer Gemeinschaft die hinzu, die gerettet werden sollten. Apostelgeschichte 2,46-47

Da ist noch keine Rede von einer selbstständigen Kirche. Die Urgemeinde war eine innerjüdische Gemeinschaft, die das Judentum und den Weisungen der Thora gemäß lebte. Jesus selbst hatte ja gesagt:

Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben! Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, ich sage euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird kein Jota und kein Häkchen des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Matthäus 5,17-19

Man erblickte in dem vom Kreuzestod Auferstandenen den Gesandten Gottes, den Messias, der gekommen war, um Israel zu erlösen. Die messianische Zeit war angebrochen, in der die Herrlichkeit Israels offenbar werden sollte. Man lernte wohl auch langsam, dass das nahe Reich Gottes von anderer Qualität war, als man ursprünglich dachte. War man angesichts der Verhaftung Jesu noch bereit, zur Waffe zu greifen, wie etwa Petrus selbst, der einem Tempeldiener sogar ein Ohr abschlägt (vgl. Johannes 18,10), erkannte man zunehmend, dass die Sache des Auferstandenen in der Tradition des irdischen Jesus nicht mit Gewalt betrieben werden kann, sondern mit den Mitteln von Erkenntnis und Verstand, mit der Macht der Worte, vor allem mit einer neuen Sicht auf die jüdischen Schriften, die über den Messias sprechen. So rechtfertigen sich Petrus und Johannes im Verhör vor dem Hohen Rat auf die Frage, in wessen Vollmacht sie auftreten:

Da sagte Petrus, erfüllt vom Heiligen Geist, zu ihnen: Ihr Führer des Volkes und ihr Ältesten! Wenn wir heute wegen einer guten Tat an einem kranken Menschen darüber vernommen werden, durch wen er geheilt worden ist, so sollt ihr alle und das ganze Volk Israel wissen: im Namen Jesu Christi, des Nazoräers, den ihr gekreuzigt habt und den Gott von den Toten auferweckt hat. Durch ihn steht dieser Mann gesund vor euch. Dieser Jesus ist der Stein, der von euch Bauleuten verworfen wurde, der aber zum Eckstein geworden ist. Und in keinem anderen ist das Heil zu finden. Denn es ist uns Menschen kein anderer Name unter dem Himmel gegeben, durch den wir gerettet werden sollen. Apostelgeschichte 4,8-12

An die Stelle der Gewalt tritt die παρρεσία (gesprochen: parresía), die freimütige Rede (vgl. Apostelgeschichte 4,13).

Sollbruchstelle

Es sind nicht die Apostel, die den innerjüdischen Bereich verlassen. Es werden Diasporajuden in Antiochia sein, die sich zum vom Kreuzestod Auferstandenen bekennen, die einen frühkirchlichen Quantensprung auslösen. War die Jerusalemer Urgemeinde noch eine rein innerjüdische Bewegung, ja vielleicht sogar eine Sekte, dachte man in Antiochia weiter. Man zog die Konsequenz aus der Tatsache, dass der Jude Jesus nach dem Gesetz als Gottverlassener starb (vgl. Deuteronomium 21,23) und doch von Gott, wie die Auferstehung zeigt, gerettet wurde. Das hierin begründete Paradox führte auch zu einer Neubewertung der Aussage Jesu, dass er nicht gekommen sei, das Gesetz und die Propheten aufzuheben, sondern zu erfüllen. Jede und jeder jüdische Jesusjünger sollte und musste deshalb weiter das Gesetz erfüllen. Zeigt Gott aber durch die Auferstehung vom Kreuzestod nicht an, dass die Befolgung der Thora nicht mehr der alleinseligmachende Weg zur Gerechtigkeit in Gott war? Jesus selbst hatte doch mit Blick auf das Sabbatgebot gesagt:

Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat. Markus 2,27

Die sich in dieser Aussage widerspiegelnde Neubewertung der Thora hatte Konsequenzen. Offenkundig gab es nun einen Weg in die Gerechtigkeit Gottes, die nicht über die Thora führte. War das nicht gerade der Ausweis der angebrochenen messianischen Zeit, dass nun eben die Gojim, die heidnischen, nichtjüdischen Völker zu Gott kommen würden?

So entsteht in Antiochia nicht nur die Idee der Heidenmission. Man spricht jetzt vom „neuen Weg“ (vgl. Apostelgeschichte 9,2; 18,25-26; 19,9 und öfters), wobei das Neue des Weges wesentlich stärker betont wird als in der Jerusalemer Urgemeinde. Das Neue wird auch daran deutlich, dass es nun eine neue, eigene Bezeichnung gibt:

In Antiochia nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen. Apostelgeschichte 11,25

Stiefgeschwister

Die antiochenischen Entwicklungen waren immer noch nicht darauf bedacht, eine eigene, vom Judentum unabhängige Kirche sein zu wollen. Gleichwohl zeichnet sich ein Grundkonflikt mit dem Judentum ab, der sich schon innerhalb der christlichen Bewegung auswirkt, wenn eine Konkurrenz zwischen Juden- und Heidenchristen, die etwa im Hintergrund des Galaterbriefes mitschwingt, aber auch ursächlich für das Apostelkonzil ist (vgl. Gal 2,1-10; Apostelgeschichte 15,1-29). Die Freude über die getauften Heiden scheint in der Jerusalemer Urgemeinde gebremst gewesen zu sein. Die Zugehörigkeit zum Judentum, so vielfältig und disparat das auch war, blieb die Norm der Jerusalemer Jesusjünger. Wie sollte man da jetzt Heiden hineinintegrieren. Dass das trotz einer einmütigen Einigung auf dem Apostelkonzil kein leichter Weg werden sollte, zeigt nicht nur der sogenannte antiochenische Zwischenfall, bei dem Petrus nach der Ankunft der Leute des Jakobus die Tischgemeinschaft mit den heidnischen Christen verweigert (vgl. hierzu Galater 2,11-21, oder das Eindringen judenchristlicher Agitatoren in die von Paulus gegründeten heidenchristlichen Gemeinden Galatiens, gegen die er sich vehement zur Wehr setzt:

Ich bin erstaunt, dass ihr euch so schnell von dem abwendet, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, und dass ihr euch einem anderen Evangelium zuwendet. Es gibt kein anderes Evangelium, es gibt nur einige Leute, die euch verwirren und die das Evangelium Christi verfälschen wollen. Jedoch, auch wenn wir selbst oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten als das, das wir verkündet haben – er sei verflucht. Was ich gesagt habe, das sage ich noch einmal: Wer euch ein anderes Evangelium verkündet im Widerspruch zu dem, das wir verkündet haben – er sei verflucht. Galater 1,6-9

Der Fluch am Ende des Abschnittes – ἀνάθεμα ἔστω (gesprochen: anáthema ésto) – nimmt eine Wendung vorweg, die in der Kirchengeschichte noch häufig benutzt werden wird. Das Anathem zieht eine Grenzlinie zwischen denen, die dazugehören und denen, die nicht dazugehören. Ob Paulus es wollte oder nicht – hier setzt ein Prozess ein, der eine zunehmende Entfremdung zwischen Juden und Heiden offenlegt. Es ist ein Prozess, der von beiden Seiten – wenn man es denn, um der Einfachheit willen – nur auf zwei Seiten begrenzt. Das Bestreben der getauften Heiden, jetzt auch zu Israel zu gehören, wird nicht nur von den Judenchristen in Jerusalem nur schwerlich goutiert. Es findet schon gar keinen Anklang bei den Juden, die in Jesus nur einen am Kreuz gescheiterten Juden sehen, der am Abend des Pessachfestes als Zauberer und Betrüger erhängt wurde1).

Wollten die Heiden jüngere Brüder und Schwestern der älteren jüdischen Geschwister sein, wollten diese die Heiden noch nicht einmal als Stiefgeschwister anerkennen. Es ist also kein Wunder, dass das Judentum sich letztlich vom Christentum als – jüdisch gesehen – häretischen Entwicklung trennt – ein Prozess, der sich schon in den Auseinandersetzungen der Apostel Jesu mit den jüdischen Autoritäten abzeichnet, wie etwa das oben zitierte Verhör zeigt, der aber nach der Zerstörung Jerusalems an Stärke zunimmt, als sich ein normatives Judentum unter der Führung verschiedener pharisäischer Schulen ausbildet2). Dazu schreibt der Rabbiner Walter Homolka:

„Im Laufe der folgenden Jahrhunderte zeichnete sich immer stärker ab, dass Juden, deren Auslegung der Halacha von der Auffassung der Autoritäten abwich, zu Häretikern erklärt wurden. Frühe jüdische-christliche Sekten, Gruppierungen, die allmählich immer mehr christologische Elemente in ihr Glaubensspektrum aufnahmen, gerieten zunehmend ins Visier dieser normativen Reaktion.“3)

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Die Niederschlagung des jüdischen Aufstandes durch die Römer und die Zerstörung des Jerusalemer Tempels stellt auch für das Verhältnis von Juden und Christen eine bedeutende Zäsur dar. (Ausschnitt aus dem Titusbogen in Rom - Kriegsbeute aus dem Jerusalemer Tempel)

Reaktion

In den spätneutestamentlichen Schriften zeigen sich Spuren dieses Abgrenzungsprozesses, etwa wenn im Johannesevangelium pauschal von „den Juden“ als Gegner Jesu die Rede ist, wo doch Jesus und seine Apostel selbst Juden waren und Joseph von Arimathäa, aber auch Nikodemus (vgl. hierzu Johannes 3,1-21), die beide sogar dem Hohen Rat angehörten, sogar als Sympathieträger vorgestellt werden. Die pauschalierende Rede des Johannes erklärt sich hingegen hervorragend aus den zeitgleich laufenden und direkt erlebten Abgrenzungsprozessen seitens des Judentums. Sie sind als Reaktion Zeichen einer Enttäuschung, dass das heidnische Ansinnen, nun auch zu Israel zu gehören und den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu verehren, von den als älteren Geschwistern ersehnten Juden nicht erwidert wird. Wie schnell aus einer solchen Enttäuschung Hass entstehen kann, zeigt die Wirkungsgeschichte der in dieser Desillusion wurzelnden Texte, etwa der verhängnisvollen Selbstverfluchung, die Matthäus den Gegnern Jesu in den Mund legt:

Als Pilatus sah, dass er nichts erreichte, sondern dass der Tumult immer größer wurde, ließ er Wasser bringen, wusch sich vor allen Leuten die Hände und sagte: Ich bin unschuldig am Blut dieses Menschen. Das ist eure Sache! Da rief das ganze Volk: Sein Blut – über uns und unsere Kinder! Matthäus 27,24-25

Entwurzelt

Der Abgrenzungsprozess zwischen Christen und Juden wurde aber nicht nur von jüdischer Seite initiiert. Auch die heidenchristlichen Gemeinden mussten immer wieder daran erinnert werden, dass der Glaube kein Luftschloss ist, sondern höchst irdische Wurzeln hat. Jedwede heidnische Schwärmerei in die Schranken weisend muss Paulus deshalb das Verhältnis zum Judentum definieren. Auch wenn nach antiochenischer Lesart, der Paulus folgt, die Auferstehung des Gekreuzigten als Beginn der messianischen Zeit verstanden wird, in der nicht allein das Befolgen der Thora zur Gerechtigkeit Gottes führt, bleibt die Verwiesenheit auf Israel essentiell. Er widmet im Römerbrief ganze drei Kapitel der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Israel und den Heidenchristen, wobei er immer wieder die bleibende Bedeutung Israels betont und deshalb nur zu einem Schluss kommt:

Ist aber die Erstlingsgabe vom Teig heilig, so ist es auch der ganze Teig; und ist die Wurzel heilig, so sind es auch die Zweige. Wenn aber einige Zweige herausgebrochen wurden, du aber als Zweig vom wilden Ölbaum mitten unter ihnen eingepfropft wurdest und damit Anteil erhieltest an der kraftvollen Wurzel des edlen Ölbaums, so rühme dich nicht gegen die anderen Zweige! Wenn du dich aber rühmst, sollst du wissen: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich. Nun wirst du sagen: Die Zweige wurden doch herausgebrochen, damit ich eingepfropft werde. Gewiss, wegen des Unglaubens wurden sie herausgebrochen. Du aber stehst durch den Glauben. Sei daher nicht überheblich, sondern fürchte dich! Hat nämlich Gott die Zweige, die von Natur zum edlen Baum gehören, nicht verschont, so wird er auch dich nicht verschonen. Siehe nun die Güte Gottes und seine Strenge! Die Strenge gegen jene, die gefallen sind, Gottes Güte aber gegen dich, sofern du in seiner Güte bleibst; sonst wirst auch du herausgehauen werden. Ebenso werden auch jene, wenn sie nicht im Unglauben bleiben, wieder eingepfropft werden; denn Gott hat die Macht, sie wieder einzupfropfen. Wenn du nämlich aus dem von Natur wilden Ölbaum herausgehauen und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest, dann werden erst recht sie als die von Natur zugehörigen Zweige ihrem eigenen Ölbaum wieder eingepfropft werden.Römer 11,16-24

Trotz aller Uneinsichtigkeit Israels, was den Juden Jesus betrifft, – Paulus benutzt hier das Wort „Verstockung“ (πώρωσις – gesprochen: pórosis; vgl. Römer 11,25) – wird ganz Israel gerettet werden: Ganz (!) Israel:

Denn ich will euch, Brüder und Schwestern, nicht in Unkenntnis über dieses Geheimnis lassen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung liegt auf einem Teil Israels, bis die Vollzahl der Heiden hereingekommen ist, und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: Es wird kommen aus Zion der Retter, er wird alle Gottlosigkeit von Jakob entfernen. Römer 11,25-26

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Die Trennung von Kirche und Synagoge wird zu einer Geschichte einer enttäuschten Liebe, die immer wieder und allzu schnell in Hass und Verachtung umschlägt, wie die christliche Darstellung der Allegorien einer strahlenden Kirche und der blinden Synagoge zeigt.

Die Geschichte einer enttäuschten Liebe

Angesichts dieses Befundes kann man sich nur wundern, dass Christen in der Geschichte immer wieder im Volk der Juden verdammungswürdige Gottesmörder gesehen haben. Der Heilswill Gottes seinem zuerst erwählten Volk gegenüber ist ungebrochen. Christen, die Juden verfolgen, sie Pogromen aussetzen, töten und vergasten, haben die Wurzel zerstört, aus der sie selbst leben sollten. Nach der Zerstörung Jerusalems ist das Judenchristentum de facto einflusslos geworden. Die Kirchengeschichte wurde zu einer Geschichte der Kirche aus den Heiden. Dieses heidnische Christentum aber entartet, wenn es vergisst, dass es auf das Judentum hingeordnet ist.

Diese Rückbesinnung innerhalb des Christentums ist in der Geschichte immer wieder gescheitert. Ihr tiefstes grausamstes Scheitern erfuhr es in Ausschwitz. Und die Gefahr der Entartung schwelt auch in diesen Tagen wieder, wenn ein unbeschwerter Antisemitismus4) fröhlich Urständ feiert. Der Vorsitzende der jüdischen Kultusgemeinde Wuppertals, Leonid Goldberg, stellt jedenfalls fest:

„Auch unsere Gemeindemitglieder wurden schon bespuckt. Antisemitismus war nie weg.“5)

Auf christlicher Seite kommt oft eine unintellektuelle Pseudofrömmigkeit hinzu, die auch aus einer Begebenheit spricht, die dem israelischen Schriftsteller Amos Oz widerfahren ist und die er in seinem Roman „Judas“ seinem Protagonisten, dem alten polnischen Juden Gerschom Wald zuschreibt, der als junger Mann zusammen mit zwei katholischen Nonnen in einem Zugabteil sitzt, als sich folgendes zuträgt:

„Die Ältere wirkte matronenhaft und höchst ehrbar. Die Jüngere war hübsch, ja schön, geradezu engelhaft – ein Ebenbild der Madonna. Er saß diesen beiden Frauen also gegenüber und las eine hebräische Zeitung. Die ältere Nonne sagte: ‚Entschuldigen Sie, mein Herr, lesen Sie da eine jüdische Zeitung?‘ Und er antwortete: ‚Ja, ich bin Jude und ich werde bald nach Jerusalem gehen, um dort unter Juden zu leben.‘ Schweigen. Dann plötzlich sagte die Jüngere, mit lieblicher Stimme, den Tränen nahe: ‚Er war so gütig, wie konntet ihr ihm das antun?‘ Und Gerschom Wald antwortet: ‚Wissen Sie, junge Dame, ich war nicht dabei, als es geschah. Ich hatte an dem bewussten Morgen einen Zahnarzttermin.‘“6)

Wie Jakob und Esau

Die enttäuschte Liebe, von den ersehnten älteren Geschwistern noch nicht einmal als Stiefgeschwister anerkannt zu werden, zeigt sich in vielen Gewändern. Sie zeigt sich darin, dass der Jude Jesus von Christen einfach vereinnahmt wird, wenn man ihn zum Kirchengründer stilisiert, obwohl er das nicht war; wenn man vergisst, dass er sich in der Auferstehung als der Christus erwies, er aber nicht der erste Christ war; wenn man vergisst, dass die ersten Jünger Juden waren, blieben und nie etwas anderes sein wollten; wenn man vergisst, dass selbst der große Heidenapostel Paulus stolz auf seine jüdische Herkunft war, wenn er gegen seine Gegner ausruft:

Sie sind Hebräer – ich auch. Sie sind Israeliten – ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams – ich auch. 2 Korinther 12,22

Das Gieren nach Anerkennung hingegen hat zu einer Enttäuschung der Liebe geführt. Enttäuschte Liebe schlägt nur allzu schnell in Hass um. Die jüdisch-christliche Geschichte ist voll von den Folgen der enttäuschten Liebe, die ihren Ausdruck darin findet, sich gegenseitig zu bekämpfen, wie die Brüder Jakob und Esau es taten. Jakob wird im Kampf mit dem Unbekannten am Jabbok den Namen Israel empfangen. Der Segen liegt auf ihm. Als Gesegneter wird er Esau gegenübertreten, jenem betrogenen Bruder, mit dem die Juden früherer Jahrhunderte das Christentum identifizierten, wenn sie die Vision Obadjas als Verurteilung heranzogen7):

Dann ziehen die Befreier auf den Berg Zion, um Gericht zu halten über das Bergland von Esau. Obadja 1,21

Die Begegnung zwischen dem zu Israel gewordenen Jakob und Esau verläuft allerdings verheißungsvoll. Israel/Jakob will sich unterwerfen, Esau aber weist das zurück. Er hat selbst mehr als genug. Er ist selbstbewusst und braucht die Gegnerschaft und den Hass nicht mehr. Schließlich ist es Esau der sagt:

Brechen wir auf und ziehen wir weiter! Ich will an deiner Seite ziehen. Jakob entgegnete ihm: Mein Herr weiß, dass die Kinder noch schwach sind; auch habe ich für säugende Schafe und Rinder zu sorgen. Treibt man sie auch nur einen einzigen Tag rasch an, so stirbt das ganze Vieh. Mein Herr ziehe doch seinem Knecht voraus. Ich aber will mich dem gemächlichen Gang der Viehherden vor mir und dem Schritt der Kinder anpassen, bis ich zu meinem Herrn nach Seïr komme. Darauf sagte Esau: Ich will dir einige von meinen Leuten zuweisen. Wozu?, erwiderte Jakob, ich finde ja das Wohlwollen meines Herrn. Genesis 32,12-15

Mit Respekt!

Die geschwisterlichen Ansinnen der Heiden mögen enttäuscht worden sein, sie waren lange genug Grund für grundlosen Hass. Die Geschichte Israels/Jakobs und Esaus zeigt den Weg, wenn Esau Israel schützt. Die heutigen Heidenchristen müssen wieder lernen, dass sie ohne die Wurzel nicht leben können. Wir Christen brauchen Israel – ob Israel uns braucht? Mit der Ungewissheit dieser Frage müssen Christen leben. Nur eins ist gewiss: Ohne die Kinder Israels verliert das Christentum Saft und Kraft. Israel bleibt erwählt. Ihr Esaujünger – wenn ihr wirklich Brüder und Schwestern Israels sein wollt, dann schützt Israel, wie Esau es getan hat, als er reif geworden ist. Nährt nicht den Hass, sondern den Respekt. Die Kinder Israels haben es verdient. Wir brauchen sie. Immer noch!

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Bildnachweis

Titelbild: Kippa! – Szene der Platzrede von Dr. Werner Kleine auf dem Berliner Platz in Wuppertal-Oberbarmen vom 25.4.2018 (Christoph Schönbach/Katholische Citykirche Wuppertal) – alle Rechte vorbehalten.

Bild 1: Jüdische Sklaven sowie römische Kriegsbeute aus dem zerstörten Jerusalemer Tempel, werden nach der Eroberung von Jerusalem (70 n. Chr.) im Triumphzug nach Rom gebracht (Originaldarstellung auf dem Titusbogen in Rom, errichtet Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr.) (dnalor 01 – eigenes Werkt) – Quelle: Wikimedia – lizenziert als CC BY-SA 3.0

Bild 2: Kirche und Synagoge (WerkstattRU) – Quelle: Pixabay – lizenziert als CC0

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1. So etwa der Traktat Sanhedrin aus dem Babylonische Talmud (bSanh), 43a.
2. Vgl. hierzu Walter Homolka, Wessen Jesus?. Zwischen Geschichte und Wirkungsgeschichte, in: Amos Oz, Jesus und Judas, Ostfildern 2018, S. 65-91, hier: S. 71.
3. Walter Homolka, Wessen Jesus?. Zwischen Geschichte und Wirkungsgeschichte, in: Amos Oz, Jesus und Judas. Ein Zwischenruf, Ostfildern 2018, S. 65-91, hier: S. 71 (Hervorhebung im Original kursiv).
4. Genauer müsste man eigentlich von einem Antijudaismus sprechen, weil ja auch nichtjüdische Araber eigentlich Semiten sind. Gleichwohl hat sich mit dem Begriff „Antisemitismus“ die Konnotation eines Rassenbegriffs etabliert, während der Terminus „Antijudaismus“ mit Blick auf die Kirchengeschichte immer auch die Komponente einer Bekehrung zum Christentum beinhaltet. Aus diesem Grund wird hier der Begriff „Antisemitismus“ verwendet.
5. Zitiert nach Nina Bossy, „Der Antisemitismus war nie weg“, in Wuppertaler Rundschau, 2.5.2018, S. 4.
6. Zitiert nach: Amos Oz, Jesus und Judas, in: ders., Jesus und Judas. Ein Zwischenruf, Ostfildern 2018, 8-48, hier: S. 26f.
7. Vgl. hierzu Walter Homolka, Wessen Jesus?. Zwischen Geschichte und Wirkungsgeschichte, in: Amos Oz, Jesus und Judas, Ostfildern 2018, S. 65-91, hier: S. 72.
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1 Reply

  1. […] verschlossenen Türen gesessen hätten. Das freilich ist die Diktion des Johannesevangeliums, der unter dem Einfluss der theologischen Kontroverse im ausgehenden 1. Jahrhundert, als die Trennung …. Das sich nach der Zerstörung des Jerusalemer Tempels neu formierende Judentum sah in den […]