Kapitel
Allgemein

Das Profane ist das Heilige Neutestamentliche Reflexionen über das Verhältnis von Kontemplation und Aktion


den Artikel
vorlesen lassen

Heiligkeit ist auch nur ein Geschäft auf Gegenseitigkeit. Zumindest kann man den Eindruck gewinnen, wenn manch ein Frommer die Welt nicht nur in Heiliges und Unheiliges einteilt, sondern auch Wege und Mittel zu kennen glaubt, wie man sich die Heiligkeit verdienen kann. Die Mittel zum Zwecke der Heiligung werden dabei streng reglementiert, wie es sich für Geschäfte gehört. Pacta sunt servanda – Verträge müssen erfüllt werden. Wenn der Mensch dieses tut und jenes lässt, dann hat er sich die Heiligung schließlich redlich verdient. Insbesondere der Liturgie wird dabei die Potenz zur Heiligung der Menschen zugeschrieben, lehrt doch das Zweite Vatikanische Konzil in der Konstitution über die Heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“:

„Aus der Liturgie, besonders aus der Eucharistie, fließt uns wie aus einer Quelle die Gnade zu; in höchstem Maß werden in Christus die Heiligung der Menschen und die Verherrlichung Gottes verwirklicht, auf die alles Tun der Kirche als auf sein Ziel hinstrebt.“1)

Quelle und Höhepunkt

Die Liturgie ist als Mittel zur Verwirklichung der Heiligung des Menschen und der Verherrlichung Gottes. Das Konzil sagt nichts darüber aus, ob es sich hier um ein exklusives Mittel der Heiligung handelt. Kein Zweifel besteht hingegen daran, dass sich Heiligung eben auch in der Liturgie verwirklicht. Schaut man genauer hin, wird freilich eine besondere Dynamik sichtbar, in der sich die in der Liturgie verwirklichende Heiligung ereignet:

„In der heiligen Liturgie erschöpft sich nicht das ganze Tun der Kirche; denn ehe die Menschen zur Liturgie hintreten können, müssen sie zu Glauben und Bekehrung gerufen werden. ‚Wie sollen sie den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie sollen sie an den glauben, von dem sie nichts gehört haben? Wie sollen sie aber hören ohne Prediger? Doch wie sollen sie predigen, wenn sie nicht gesandt sind‘” (Röm 10,14-15). Darum verkündet die Kirche denen, die nicht glauben, die Botschaft des Heils, damit alle Menschen den allein wahren Gott erkennen und den, den er gesandt hat, Jesus Christus, und dass sie sich bekehren von ihren Wegen und Buße tun. Denen aber, die schon glauben, muss sie immer wieder Glauben und Buße verkünden und sie überdies für die Sakramente bereiten. Sie muss sie lehren, alles zu halten, was immer Christus gelehrt hat, und sie ermuntern zu allen Werken der Liebe, der Frömmigkeit und des Apostolates. Durch solche Werke soll offenbar werden, dass die Christgläubigen zwar nicht von dieser Welt sind, dass sie aber Licht der Welt sind und den Vater vor den Menschen verherrlichen.“2)

Die Liturgie ist also ein Grundvollzug der Kirche der wechselseitig hingeordnet ist auf die anderen beiden Grundvollzüge der Verkündigung (Martyria) und den Werken der Liebe (Diakonia). Keiner der drei Grundvollzüge kann exklusiv gegen die anderen beiden ausgespielt werden. Vielmehr gibt es dynamische Verwiesenheiten, weshalb das Konzil formuliert:

„Dennoch ist die Liturgie der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt. Denn die apostolische Arbeit ist darauf hingeordnet, dass alle, durch Glauben und Taufe Kinder Gottes geworden, sich versammeln, inmitten der Kirche Gott loben, am Opfer teilnehmen und das Herrenmahl genießen. Andererseits treibt die Liturgie die Gläubigen an, dass sie, mit den ‚österlichen Geheimnissen‘ gesättigt, ‚in Liebe eines Herzens sind‘; sie betet, dass sie ‚im Leben festhalten, was sie im Glauben empfangen haben‘; wenn der Bund Gottes mit den Menschen in der Feier der Eucharistie neu bekräftigt wird, werden die Gläubigen von der drängenden Liebe Christi angezogen und entzündet.“3)

Die Heiligung der Liturgie wird also erst dadurch wirksam, wenn sie sich im alltäglichen Leben ereignet, das immer wieder auf die Feier der Liturgie zuströmt. Von hier aus immer wieder gestärkt, erleuchtet, reflektiert erscheint der Alltag selbst in einem anderen Licht. Der Alltag ist das, was zwischen Quelle und Höhepunkt ist.

Der antiplagiatorische Papst

Die Lehre eines Konzils ist bindend. Sie zu beherzigen für Katholikinnen und Katholiken eine Selbstverständlichkeit. Sie zu diskutieren und sich disputierend zu erschließen ebenso. Nimmt man die Liturgiekonstitution „Sacrosanctum Concilium“ ernst, darf es aber nicht bloß beim Disput bleiben. Der Alltag als Spielfeld der Heiligung, die sich aus der Feier der Liturgie ergibt und auf die sie zustrebt, ist der Ort, an dem sich die Heiligung bewähren muss.

In der Regel veröffentlichen Päpste keine Schreiben aus rein erbaulichen Gründen. In Enzykliken und anderen Lehrschreiben werden vielmehr Wegmarken gesetzt, die anlässlich konkreter zeitgenössischer Entwicklungen auf Problem- und Fragestellungen eingehen und Antworten geben. So üben sie das authentische Lehramt aus – nicht in bloßer Theorie, sondern mit Blick auf den Glauben, dessen inhaltliches Kontinuum in Zeit und Raum immer neu Gestalt annehmen muss.

Nun hat Papst Franziskus mit dem apostolischen Schreiben „Gaudete et exultate“4) Stellung über den Ruf der Heiligkeit in der Welt von heute gezogen. Er wendet sich darin in zweifacher Weise gegen eine Gefahr, der die Glaubenden in der Neuzeit erliegen können. Zum einen kritisiert er einen gegenwärtigen Gnostizismus, der

„die Erkenntnis oder eine bestimmte Erfahrung [überbetont] und (…) gleichzeitig seine eigene Sicht der Wirklichkeit für vollkommen [hält].“5)

Auf der anderen Seite lehnt er einen Neopelagianismus ab, deren Vertreter

„sich, auch wenn sie mit süßlichen Reden von der Gnade Gottes sprechen, ‚letztlich einzig auf die eigenen Kräfte‘ [verlassen] und (…) sich ‚den anderen überlegen [fühlen] […], weil sie bestimmte Normen einhalten oder weil sie einem gewissen katholischen Stil der Vergangenheit unerschütterlich treu sind‘.“6)

Bei Letzteren kommt er auch auf die Liturgie zu sprechen – der einzigen Stelle, an der das Wort „Liturgie“ in dem aktuellen Lehrschreiben „Gaudete et exultate“ auftaucht:

„Dennoch gibt es Christen, die einen anderen Weg gehen wollen: jenen der Rechtfertigung durch die eigenen Kräfte, jenen der Anbetung des menschlichen Willens und der eigenen Fähigkeit; das übersetzt sich in eine egozentrische und elitäre Selbstgefälligkeit, ohne wahre Liebe. Dies tritt in vielen scheinbar unterschiedlichen Haltungen zutage: dem Gesetzeswahn, der Faszination daran, gesellschaftliche und politische Errungenschaften vorweisen zu können, dem Zurschaustellen der Sorge für die Liturgie, die Lehre und das Ansehen der Kirche, der mit der Organisation praktischer Angelegenheiten verbundenen Prahlerei, oder der Neigung zu Dynamiken von Selbsthilfe und ich-bezogener Selbstverwirklichung. Hierfür verschwenden einige Christen ihre Kräfte und ihre Zeit, anstatt sich vom Geist auf den Weg der Liebe führen zu lassen, sich für die Weitergabe der Schönheit und der Freude des Evangeliums zu begeistern und die Verlorengegangenen in diesen unermesslichen Massen, die nach Christus dürsten, zu suchen.“7)

Nicht nur der negative Kontext, in der das Wort Liturgie hier verwendet wird, hat erste Kritiker auf den Plan gerufen; auch die Tatsache, dass das Wort „Liturgie“ nur an dieser Stelle von Papst Franziskus verwendet wird, löst bei manchem mindestens Irritationen, wenn nicht gar Unverständnis aus8).

Nun hat der Papst aber die Liturgie in sich gar nicht abgewertet. Er stellt, freilich ohne das explizit zu zitieren, nur eine einseitige Sicht auf die Liturgie in Frage. Müssen Päpste die Lehre eines Konzils, die doch bekannt ist, in ihren Texten permanent zitieren? Päpste sind ebenso wenig Plagiatoren wie Tradition die Wiederholung des stetig Gleichen ist. Tradition ist die sich immer wieder erneuernde Weitergabe, eine Überlieferung, in der das Evangelium immer neue Gestalt annehmen muss, um verstanden zu werden, ein Prozess der immer neuen Aneignung und Interpretation, bei dem das authentische Lehramt der Päpste eine herausragende Rolle einnimmt. Offenkundig hat Papst Franziskus es als notwendig betrachtet, die an sich bekannte Lehre des Konzils über die Liturgie als Quelle und Höhepunkt einer Heiligung des Menschen dahingehend zu präzisieren, dass diese sich eben nicht nur in der Liturgie ergibt. Schmälert das die Liturgie – keineswegs. Im Gegenteil: Es führt die Liturgie zu sich selbst zurück – als Dienst im Alltag.

Liturgische Indifferenz

Ein Blick in eine Konkordanz offenbart, dass das Wort λειτουργία (gesprochen: leitourgía) im Neuen Testament lediglich sechsmal verwendet wird. Dabei ist die Verwendung in sich indifferent. Λειτουργία kann nämlich sowohl in einem dezidiert religiösen Sinn verwendet werden, wie im Schreiben an die Hebräer, wenn es mit Blick auf Jesus Christus als den wahren Hohepriester heißt:

Jetzt aber ist ihm ein umso erhabenerer Priesterdienst (λειτουργία) übertragen worden, weil er auch Mittler eines besseren Bundes ist, der auf bessere Verheißungen gegründet ist. Hebräer 8,6

Oder an späterer Stelle in der Beschreibung des mosaischen Ritus zum Schluss des ersten Bundes, auf dessen Folie das Kreuzesopfer Christi gedeutet wird. Über Mose heißt es dort:

Dann besprengte er auch das Zelt und alle gottesdienstlichen Geräte (τὰ σκεύη τῆς λειτουργίας – gesprochen: tà skeúe tês leitourgías) auf gleiche Weise mit dem Blut. Hebräer 9,21

Auch in Lukas 1,23 findet sich der dezidiert religiöse Hintergrund, wenn das Wort λειτουργία zur Beschreibung des Tempeldienstes des Zacharias, dem Vater Johannes des Täufers, verwendet wird.

Rein von der Wortbedeutung her muss λειτουργία aber nicht exklusiv den gottesdienstlichen Bezug in sich tragen. Der Begriff selbst ist semantisch weiter gefasst und bezeichnet prinzipiell jedwede Leistung eines einzelnen, insbesondere auch im Dienst des Staates9). In diesem weiteren, den konkret rituellen Bereich übersteigenden Sinn sind etwa die Verwendungen in der paulinischen Briefliteratur zu sehen. Im Philipperbrief taucht der Begriff gleich zweimal auf:

Doch wenn auch mein Leben dargebracht wird zusammen mit dem Opfer und Gottesdienst eures Glaubens, freue ich mich und freue mich mit euch allen. Philipper 2,17

In ähnlicher Weise verwendet er den Begriff, wenn er wenige Verse später über seinen Mitarbeiter Epaphroditus schreibt:

Nehmt ihn also im Herrn mit aller Freude auf und haltet Menschen wie ihn in Ehren, denn wegen des Werkes Christi kam er dem Tod nahe! Er hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um zu vollenden, was an eurem Dienst (λειτουργία) für mich noch gefehlt hat. Philipper 2,29-30

In einem vollends übertragenen Sinn benutzt er den Terminus λειτουργία schließlich im Zusammenhang mit der von ihm verantworteten Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde, über die er im 2. Korintherbrief schreibt:

Denn dieser heilige Dienst füllt nicht nur die leeren Hände der Heiligen, sondern wird weiterwirken als vielfältiger Dank an Gott. 2 Korinther 9,12

Bei Letzterem fällt insbesondere die Verbindung von diakonaler und liturgischer Dimension auf, wenn die Wendung „dieser heilige Dienst“ im griechischen Urtext ἡ διακονία τῆς λειτουργίας – gesprochen: he diakonía tês leiturgiás) steht. Wenn hier die Liturgie als Genitiv – näherhin als Genitivus subjektivus – verwendet wird, determiniert sie auf diese Weise das „Werk der Liebe“, nämlich die Sammlung für die Armen in Jerusalem. Bedenkt man dabei, dass mit διακονία (gesprochen: diakonía) und λειτουργία (gesprochen: leitourgía) zwei semantisch verwandte Begriff verwendet werden, die beide die Konnotation des Dienens in sich tragen – wobei die λειτουργία eben auch für die dezidiert religiöse Dimension offen ist, dann wird hier in dem Werk der tätigen Liebe selbst eine spezifische Form des Gottesdienstes gesehen. Ist es nicht genau das, worauf Papst Franziskus hinweist, wenn er sich gegen die Einengung des Begriffes der Liturgie auf das ebenso andächtige wie weltenthobene Befolgen liturgischer Rubriken wendet?

1024px-Diego_velazquez_scena_di_cucina_con_cristo_in_casa_di_marta_e_maria_1618_ca._02
Marta und Maria - zwei Schwestern im Glauben verunden. Marta steht fest im Glauben, lebenserfahren und gestanden, alltagsweise eben, Maria muss den Weg erst noch suchen. Wird sie ihn finden?

Kontemplation vs. Aktion

Das Übersehen der semantischen Offenheit des Liturgiebegriffes hat in der Kirche traditionell Folgen gezeitigt. Sie findet ihr Pendant in einer grundständigen Differenzierung von Kontemplation und Aktion, wobei der Kontemplation als der vermeintlich heiligeren Haltung der Vorzug gegeben wird. Gewährstext hierfür ist die bekannte lukanische Perikope der Einkehr Jesu im Haus der Schwester Maria und Marta in Betanien:

Als sie weiterzogen, kam er in ein Dorf. Eine Frau namens Marta nahm ihn gastlich auf. Sie hatte eine Schwester, die Maria hieß. Maria setzte sich dem Herrn zu Füßen und hörte seinen Worten zu. Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen. Sie kam zu ihm und sagte: Herr, kümmert es dich nicht, dass meine Schwester die Arbeit mir allein überlässt? Sag ihr doch, sie soll mir helfen! Der Herr antwortete: Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden. Lukas 10,38-42

Die Einheitsübersetzung von 2016 übersetzt hier näher am Urtext, wenn es in Lukas 10,42 heißt, dass Maria den guten Teil (τὴν ἀγαθὴν μερίδα – gesprochen: tèn agathèn merída) gewählt habe. In vielen Ohren wirksam ist freilich die „vertraute“ Übertragung der Einheitsübersetzung 1979, Maria habe „den besseren Teil“ gewählt, die eine eindeutige Wertung beinhaltet, obschon genau das komparativische Element im griechischen Text fehlt: Das kontemplative Lauschen der zu den Füßen sitzenden Maria wird der alltäglichen wie um Gastfreundschaft bemühten Sorge der Marta vorgezogen. Man kann sich richtig vorstellen, wie Maria ihren Herzensschwarm Jesus anhimmelt – so sollen die Glaubenden auch anhimmeln, der Welt und ihrer Sorge entrückt. Das war die Botschaft, die Kontemplation und Aktion in Konkurrenz setzt und der Kontemplation den Vorzug gibt.

Diese Deutung ist mit der Einheitsübersetzung von 2016 zwar nicht vollständig obsolet geworden, muss aber neu kalibriert werden. Maria und Marta erscheinen hier in den Augen Jesu nicht mehr als Konkurrentinnen um den Preis der besten Archetypie der Glaubenden. Maria hat nun lediglich den guten Teil erwählt. Die Frage ist, wo die Referenz des guten Teils ist. Ist es der gute Teil an sich – was wieder der Kontemplation der Vorzug geben würde? Oder ist es der gute Teil für sie – also in dem Sinne, dass Maria etwas nötig hat, was Marta nicht mehr braucht?

Die Fortführung des Verses 42 mit „der wird ihr nicht genommen werden“ deutet eine engere Verwiesenheit auf Maria an. Und genau das kann durch eine weitere Marta-Maria-Perikope erhärtet werden, die sich im Johannesevangelium findet und die das Verhältnis der beiden Schwestern zu Jesus und zum Vertrauen in ihn in einem besonderen Licht erscheinen lässt.

Verkehrte Welt

Die mehrfache Erwähnung von Maria und Marta in den Evangelien, der Hinweis, dass sich ihr Haus in Betanien – einem kleinen Ort an der Ostseite des Ölberges, keine drei Kilometer (oder besser, wie es in Johannes 11,18 heißt: fünfzehn Stadien) von Jerusalem entfernt – befindet und die Tatsache, dass sich Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien insbesondere in den letzten Tagen seines irdischen Lebens immer wieder nach Betanien zurückzieht, lässt den Schluss zu, dass hier nicht nur ein Art Hauptquartier der Jesusbewegung gewesen sein muss. Zwischen den Schwestern und Jesus muss überdies ein besonderes Vertrauensverhältnis geherrscht haben. Genau das steht wohl im Hintergrund der beiläufigen Bemerkung, mit der Johannes in seinem Evangelium die Perikope über die Auferweckung des Lazarus einleitet:

Ein Mann war krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf der Maria und ihrer Schwester Marta. Johannes 11,1

Bereits im folgenden Vers wird Maria als Frau mit einer besonders intensiven Beziehung zu Jesus beschrieben10):

Maria war jene, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihren Haaren abgetrocknet hatte; deren Bruder Lazarus war krank. Johannes 11,2

Johannes weiß zu berichten, dass beide Schwestern eine Nachricht zu Jesus schicken, die in sich schon die enge Beziehung zu den Geschwistern von Betanien hervorhebt:

Herr, sieh: Der, den du liebst, er ist krank. Johannes 11,3b

Zudem heißt es:

Jesus liebte aber Marta, ihre Schwester und Lazarus. Johannes 11,5

Nach zwei Tagen macht sich Jesus auf den Weg. Als Jesus sich Betanien nähert, ist Lazarus allerdings schon vier Tage tot. Als Marta von der bevorstehenden Ankunft hört, macht sie sich auf den Weg. Maria hingegen bleibt im Haus sitzen (vgl. Johannes 11,20). Bei Begegnung Martas mit Jesus entspinnt sich ein bemerkenswerter Dialog, bei dem Marta ihr tiefes Vertrauen in ihn offenlegt:

Marta sagte zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben. Jesus sagte zu ihr: Dein Bruder wird auferstehen. Marta sagte zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Jüngsten Tag. Jesus sagte zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? Marta sagte zu ihm: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll. Johannes 11,21-27

Das Vertrauen Martas in Jesus ist tief. Sie vertraut nicht nur darauf, dass Jesus den Tod des Lazarus hätte abwänden können. Sie vertraut auch jetzt seinen Worten, die auf den ersten Blick gegen jede Vernunft sind. Es bleibt offen, ob die verheißene Auferweckung des Lazarus sich auf das Leben bei Gott oder eine diesseitige Auferweckung bezieht. Gleichwohl offenbart sich Jesus hier ja selbst als „Auferstehung und Leben“ – eine Offenbarung, auf die Marta zustimmend ihren Glauben bekundet.

Wie anders dagegen die Reaktion der Maria, die Jesus im Lukasevangelium doch lauschend zu Füßen saß:

Nach diesen Worten ging sie weg, rief heimlich ihre Schwester Maria und sagte zu ihr: Der Meister ist da und lässt dich rufen. Als Maria das hörte, stand sie sofort auf und ging zu ihm. Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo ihn Marta getroffen hatte. Die Juden, die bei Maria im Haus waren und sie trösteten, sahen, dass sie plötzlich aufstand und hinausging. Da folgten sie ihr, weil sie meinten, sie gehe zum Grab, um dort zu weinen. Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Johannes 11,28-32

Glaube in Aktion

Auf den ersten Blick erscheinen die Reaktionen Marias und Martas ähnlich. Beide bekennen, dass Lazarus in der Gegenwart Jesu nicht gestorben wäre. Die Haltungen beider könnten aber nicht unterschiedlicher sein. Marta ist wie im Lukasevangelium die gestandene Frau, die Zupackende, die, deren Glaube mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen steht. Sie steht im Glauben fest. Fast schon nüchtern vertraut sie sich Jesus an. Da ist keine Schwärmerei, keine andächtige Weltenthobenheit, nur tiefes, grundständiges Vertrauen.

Maria hingegen bleibt selbst in der Gegenwart Jesu in Tränen aufgelöst. Ihre schwärmerische Kontemplation aus dem Lukasevangelium hat keine Glaubenstiefe bewirkt. Sie löst sich jetzt in Salzwasser auf. Ihre Lehrzeit ist noch nicht vorbei. Sie ist noch nicht reif für den Alltag. Deshalb sagt Jesus im Lukasevangelium wohl, dass sie einen guten Teil erwählt hat, der ihr nicht genommen werden wird (vgl. Lukas 10,42). Ihre scheinbare Kontemplation entpuppt sich als notwendige Lehrzeit, die Marta nicht mehr nötig hat. Ihr Glaube hingegen ist alltagserprobt. Der Glaube ist ihr zur Haltung geworden, in der der Alltag selbst zur Heiligung wird. Deshalb kann sie nüchtern bleiben. Es ist diese Nüchternheit, die dem Glauben Tiefe gibt, eine Tiefe, die die Maria gerade noch nicht hat.

Die Quelle muss sprudeln

Eine Quelle, die das Wasser für sich hält, ist keine Quelle. Sie ist vertrocknet. Entlässt sie aber ihr Wasser, sucht es sich seinen Weg in die Welt. Es fließt in die Ritzen und Spalten des Erdendrecks, bildet Mäander und Windungen, strömt in Bächen, Flüssen und Strömen dem Meer entgegen, um von dort mit der Kraft der Sonne erhoben zu werden, um niederregnend wieder zur Quelle zu werden. Das Wasser muss von der Quelle in die Welt und zu ihr zurück. Kein Weg der Wassermoleküle gleicht dem anderen. Die einen vollziehen den Kreislauf schneller als andere. Manche bleiben lange im Untergrund, andere erscheinen an neuen Quellen. Nur strömen, verdunsten, regnen müssen sie immer wieder aufs Neue.

Wer dem Strom des Wassers des Lebens folgt, muss auch von der Quelle in die Welt strömen. Das Grau aller Tage könnte so erblühen, wenn die Mauern der liturgischen Räume nicht zu Staudämmen werden. Die beiden Erzählungen von Marta und Maria lehren, wenn man sie zusammennimmt, dass die Kontemplation der Aktion bedarf um reif und tief zu werden. Man kann sie nicht nur nicht gegeneinander ausspielen. Wer allein der Kontemplation das Wort redet, wird wie Maria bloß salziges Wasser weinen. Nur scheinbar andächtig erhoben erahnen sie bestenfalls wie es wäre, durch die Macht der Sonne in die Höhe gerissen zu werden und als süßes Wasser über den Gefilden der Welt niederzuregnen. Nur Wassermoleküle im Dunkel der Tiefsee bleiben davon verschont. Gereifte Kontemplation bedarf der Aktion – sonst bleiben die vermeintlich Frommen im Dunkel ihrer Sehnsüchte gefangen, wo sie doch in die Höhe wollen. Kniet nicht wie Maria, sondern steht auf wie Marta, möchte man rufen – dann werdet ihr dem Herrn nicht nur begegnen, sondern in ihm auch den Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist. Er begegnet euch im Hier und Jetzt, im Alltag, dort, wo allezeit gebetet wird, wenn Menschen die Haltung von Jüngerinnen und Jüngern des vom Kreuzestod Auferstandenen zeigen. Nichts anderes wollte wohl Papst Franziskus sagen. Wer da bloß auf Stichwortsuche geht und feststellt, dass der Papst nicht gesagt hat, was ohnehin selbstverständlich ist, mag Tränen in den Augen haben. Er darf noch reifen, denn nur eines war jetzt wohl notwendig:

Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. Matthäus 7,21

Öffnet also bisweilen die gefalteten Hände. Der Herr begegnet euch auch heute noch in der Welt – in den Geringen und Schwachen, den Gefangenen und Kranken, in all denen, die der Werke der Liebe auch heute noch bedürfen. Das wird eine nie endende Liturgie, wenn wir mit dem „Ite missa est“ ernst machten und aus der Quelle der Eucharistie in die Welt strömen, dem Herrn dort vielfältig begegnen und wieder zurückkehren in die Gegenwart des Leibes Christi, um erneut auszuströmen. Wenn der Heilige in das Profane kam, dann wird das Profane zum Ort der Heiligung. Das ist der Kreis der Ewigkeit – the circle of life!

Empfehlen Sie diesen Artikel weiter
  • Share this on WhatsApp
  • Share this on Linkedin
Wenn Sie über die Veröffentlichung neuer Texte informiert werden möchten. schicken Sie bitte eine E-Mail, mit dem Betreff „Benachrichtigung“, an mail@dei-verbum.de

Bildnachweis

Titelbild: Wassertropfen (ronymichaud – Ausschnittbearbeitung: Werner Kleine) – Quelle: pixabay – lizenziert als CC0.

Bild 1: Diego velazquez, Scena di cucina con cristo in casa di marta e maria (Sailko) – Quelle: Wikicommons – Lizenz: CC BY 3.0

Einzelnachweis   [ + ]

1. Vaticanum II, Konstitution über die Heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“, 1963, Nr. 10 (Quelle: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html [Stand: 22. April 2018]).
2. Vaticanum II, Konstitution über die Heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“, 1963, Nr. 9 (Quelle: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html [Stand: 22. April 2018]).
3. Vaticanum II, Konstitution über die Heilige Liturgie „Sacrosanctum Concilium“, 1963, Nr. 10 (Quelle: http://www.vatican.va/archive/hist_councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanctum-concilium_ge.html [Stand: 22. April 2018]).
4. Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Gaudete et exultate“ über den Ruf der Heiligkeit in der Welt von heute, 2018, Quelle: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20180319_gaudete-et-exsultate.html [Stand: 22. April 2018].
5. Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Gaudete et exultate“ über den Ruf der Heiligkeit in der Welt von heute, Nr. 40, 2018, Quelle: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20180319_gaudete-et-exsultate.html [Stand: 22. April 2018].
6. Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Gaudete et exultate“ über den Ruf der Heiligkeit in der Welt von heute, 2018, Nr. 49, Quelle: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20180319_gaudete-et-exsultate.html [Stand: 22. April 2018].
7. Vgl. Papst Franziskus, Apostolisches Schreiben „Gaudete et exultate“ über den Ruf der Heiligkeit in der Welt von heute, 2018, Nr. 57, Quelle: https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20180319_gaudete-et-exsultate.html [Stand: 22. April 2018].
8. So etwa bei Benjamin Leven, der feststellt: „Der Papst mag sich um Leute sorgen, die vor lauter Gottesdienstvorbereitung die Nächstenliebe vergessen. Das mag es geben. Aber die Kirche ist heute so stark in der Organisation praktischer Nächstenliebe, während viele Gottesdienste so lieblos, so gleichgültig gefeiert werden. Muss man da wirklich diejenigen verurteilen, die daran etwas ändern wollen? ‚Ahme nach, was du vollziehst‘, heißt es im Ritus der Priesterweihe. Das bedeutet: In der Liturgie hat die Barmherzigkeit ihre Quelle. Und ohne diese Quelle wird die Kirche zu jener berüchtigten ‚NGO‘, von der Papst Franziskus so gerne warnt.“ (Benjamin Leven, Keine Heiligkeit ohne Liturgie, katholisch.de, 11.4.2018, Quelle: http://www.katholisch.de/aktuelles/standpunkt/keine-heiligkeit-ohne-liturgie [Stand: 22. April 2018].
9. Vgl. hierzu Walter Bauer, Griechisch-deutsches Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testamentes und der frühchristlichen Literatur, Art. „λειτουργία“, Berlin 1988, Sp. 956.
10. Nur nebenbei sei bemerkt, dass die kirchliche Tradition nicht selten Maria von Magdala mit eben jener Frau identifiziert wurde, die Jesus die Füße gesalbt hat und die in Lukas 7,36-50 als namenlose Sündern begegnet. Zwar kann es sich prinzipiell um zwei verschiedene Ereignisse handeln. Gleichwohl lässt die Bemerkung in Johannes 11,2 die traditionelle Rollenzuschreibung in einem mindestens kritischen Licht erscheinen, auch wenn sie das Gewicht einer päpstlichen Interpretation aufweisen kann. Schließlich war es Papst Gregor I, der im Jahr 591 in einer Predigt Hippolyt folgend die lukanische Sünderin mit Maria von Magdala identifizierte.
Weitere Beiträge:

2 Replies

  1. Man hat ja manchmal tatsächlich bei dem einen oder anderen Geistlichenden Eindruck, dass er seine Unfähigkeit oder seinen Unwillen zu einer menschenzugewandten Seelsorge hinter einem besonders weihevollen liturgischen Programm verstecken möchte… Ihr Wort, Herr Dr. Kleine, in deren Ohren!
    Allerdings, so ganz überzeugt mich Ihre Behauptung, Marta stelle sozusagen den abgeklärten, nüchternen Glaubensvollzug in persona dar, nicht: Schließlich beschwert sie sich doch offensichtlich über die Passivität ihrer Schwester – und sogar direkt beim “Chef”: “Sag ihr doch, sie soll mir helfen!” Das wirkt nicht nur unsouverän, sondern auch unfair, schließlich könnte sie ja zunächst einmal direkt mit ihrer Schwester sprechen (das macht man ja auch im normalen Arbeitsalltag nicht, dass man eine Unstimmigkeit direkt eskaliert).
    “Marta aber war ganz davon in Anspruch genommen zu dienen” – für mich klingt das doch eher nach Helfersyndrom und NGO, siehe Quelle 8, die Sie zitieren.
    Viele Grüße
    Daniel Offermann

    • Lieber Herr Offermann, auf den esten. Blick könnten Sie Recht haben. Allerdings gibt es da einen Haken. Wer sagt denn, dass Marta nicht längst schon mit Maria gesprochen hat und gerade daher ihr Unmut rührt? Ich sehe da gerade den Hinweis ihrer Geschäftigkeit begründet, der ja letztlich der Gastfreundschaft dient. Alles hat eben seine Zeit: Jetzt gastfreundliche Vorbereitung, später Unterhaltung. Das unterließe Maria dann. Wie dem auch sei: der Text sagt dazu nichts. Es geht tatsächlich eben nicht um diese dissoziierende Gegenüberstellung, die die EÜ 1979 suggeriert. Gott sei Dank hält sich die EÜ 2016 hier näher am Urtext, der eben anderes im Sinn hat: während der gereifte Glaube sich bereits im Alltag bewährt, braucht der noch nicht gereifte Glaube noch die Unterweisung. Die aber ist ihrerseits auch notwendig, weil der Glaube nur dann reif ist, wenn er durch Verstehen und Lernen zur Erkenntnis wird. Er darf aber eben nicht nur in der Betrachtung stehen bleiben, dann bliebe er unreif. Gleichwohl ist diese Phase notwendig, um zur Erkenntnis zu gelangen. Und diese sich jetzt (!) bietende, einmalige Gelegenheit, die Marta offenkundig nicht mehr braucht (sonst würde Jesus sie ja auffordern, die Arbeit ruhen zu lassen und duch dazu zu setzen!), soll ihr nicht genommen wrrdrn – mögliche Absprache hin, mögliche Absprache her. Alles Notwendige zu seiner Zeit … und da ist Marta eben weiter …