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Ethica·Oecologica·Oeconomia

Das Essen der Anderen „Containern“, Lebensmittelverschwendung und das alttestamentliche Gesetz


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„Ich mag Müll“ – mit diesem Lied besingt Oskar in der Sesamstraße den Grund, warum er in einer Mülltonne lebt.1) Immer wieder betont er, dass er besonders das Gammelige, was in seiner Tonne landet, mag. Die Verbraucherzentrale geht davon aus, dass jährlich in Deutschland 11 Millionen Tonnen Lebensmittel im Wert von ca. 25 Milliarden Euro im Müll landen.2) Es gibt viele Gründe, warum oft noch genießbare Lebensmittel als Müll angesehen werden: weil Gemüse und Obst nicht den von den Kunden erwarteten Standards entspricht; weil Supermärkte nur allerfrischeste Ware anbieten wollen; weil das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist. In einer britischen Studie aus dem Jahr 2012 wird davon ausgegangen, dass 30-50% aller weltweit produzierten Lebensmittel weggeschmissen werden.3)

In Frankreich gibt es nun seit 2016 ein Gesetz, das dieses Problem zumindest teilweise angeht. Dort ist es nun Supermärkten verboten, Lebensmittel als Müll zu entsorgen. Nicht verkaufte, aber genießbare Waren sollen verbilligt angeboten oder gespendet werden. Ungenießbare Lebensmittel sollen zu Tierfutter gemacht werden oder zumindest kompostiert werden.4) In Deutschland gibt es ein solches Gesetz nicht.5) Sowohl bedürftige Menschen als auch Gegner der sogenannten Wegwerfkultur „containern“ daher in Deutschland, d.h. sie nehmen sich aus Mülltonnen und Abfallcontainern weggeworfene Lebensmittel. Da selbst der Müll noch Besitz der wegwerfenden Person ist, handelt es sich daher um Diebstahl. Auch wenn wegen Geringfügigkeit oft keine Strafverfolgung geschieht, ist das Containern gemäß den Gesetzesvorgaben strafbar.

Nachlese

In der Zeit des Alten Testaments gab es kein Mindesthaltbarkeitsdatum. Gemüse und Obst wurden nicht nicht gegessen, weil es den von den Kunden erwarteten Standards nicht entsprach. Man kann davon ausgehen, dass nicht tonnenweise Lebensmittel weggeschmissen wurden. Sondern es gab eine soziale Gesetzgebung, die den Landwirten vorschrieb, die Bedürftigen zu versorgen. Felder, Weinberge und Olivenbäume durften nicht vollständig abgeerntet werden. Die Restprodukte der Ernte gehörten den Armen, Fremden, Waisen und Witwen. Im Buch Levitikus ist der wirtschaftliche Ertrag durch die Versorgung der Bedürftigen begrenzt:

Wenn ihr die Ernte eures Landes einbringt, sollst du das Feld nicht bis zum äußersten Rand abernten. Du sollst keine Nachlese von deiner Ernte halten. Levitikus 19,9 (siehe auch Lev 23,22)

Die Ränder der Felder stehen denen zu, die am Rand der Gesellschaft stehen – und darüber hinaus gehören die bei der Ernte übersehenen Erträge nicht dem Besitzer des Feldes. Generell erklärt das Gesetz die Besitzverhältnisse des Landes in einer zweischichtigen Art. Zuerst wird ganz Israel angesprochen, da alles Land dem Volk als Gesamtheit gehört: „Ihr“. Sodann folgt die persönliche Anrede, die dem Feldbesitzer die Nachlese verbietet: „Du“. Israel und jeder Einzelne sind verantwortlich für die Bedürftigen.

In deinem Weinberg sollst du keine Nachlese halten und die abgefallenen Beeren nicht einsammeln. Du sollst sie den Armen und dem Fremden überlassen. Ich bin der HERR. Levitikus 19,10 (vgl. auch Deuteronomium 24,21)

Sowohl die Nachlese auf den Feldern als auch in den Weinbergen steht den Armen und Fremden zu. Darüber hinaus ist das am Boden liegende Fallobst der Besitz der Bedürftigen. Weder soll das am Boden liegende weggeworfen werden, noch Teil der Ernte sein. Das Buch Deuteronomium gibt auch für die Olivenernte das Verbot der Nachlese. Anders jedoch als im Weinberg gehören hier die auf den Boden fallenden Früchte dem Erntenden. Olivenbäume werden durch Schlagen auf den Stamm und auf das Geäst abgeerntet:

Wenn du einen Ölbaum abgeklopft hast, sollst du nicht auch noch die Zweige absuchen. Was noch hängt, soll den Fremden, Waisen und Witwen gehören. Deuteronomium 24,20

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Olivenernte auf dem Feld meines Schwippschwagers in Nahalal (Israel)

Die Olivenernte an sich hat etwas Gewalttätiges, doch die Methode spiegelt auch Gerechtigkeit wieder. Der Baum kann so nicht vollends abgeerntet werden. Am Ende bleibt ein Teil der Oliven an den Zweigen und dies ist der Anteil der personae miserae; der Anteil derjenigen, die hilfs- und schutzbedürftig sind.

Ertrag

Die Sozialgesetzgebung des Alten Testaments begrenzt die Gewinnmaximierung und verlangt die Versorgung von Bedürftigen mit Lebensmitteln. Die übersehenen Erträge, das Fallobst und die noch unreife Frucht stehen den personae miserae zu. Im Buch Levitikus reicht zur Begründung für dieses Gesetz die Autorität des Gesetzgebers; Gott sagt:

Ich bin der HERR. Levitikus 19,10

Das Buch Deuteronomium gibt darüber hinaus noch eine theologische Motivation:

… damit der HERR, dein Gott, dich bei jeder Arbeit deiner Hände segnet. Deuteronomium 24,19

Zur Sicherung des Wohlstands gehört es, Anteil am eigenen Wohlstand zu gewähren.6) Der Wohlstand zeigt sich in der westlichen Gesellschaft in den Unmengen von Lebensmitteln, die in Mülltonnen und Abfallcontainern landen. Diese Verschwendung ist nicht nur sinnlos, sondern auch asozial. In diesem Fall ist die Gesetzgebung im Alten Testament einen Schritt weiter als das Gesetz in Deutschland. Die Produktion von Lebensmitteln dient nicht allein dem Gewinn, sondern auch der Versorgung der Menschen. Nicht verkaufte und genießbare Lebensmittel gehören nicht in den Müll, sondern sie gehören den Bedürftigen.

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Bildnachweis

Titelbild: Dumpster diving in Stockholm, Sweden, fotografiert von Romuald Bokėj. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Bild im Text: Olivenernte in Nahalal (Israel), fotografiert von Till Magnus Steiner. Alle Rechte vorbehalten.

Einzelnachweis   [ + ]

1. Ich mag Müll“, Oskar aus der Mülltonne [letzter Zugriff: 09. Juni 2017].
2. Vgl. „Lebensmittel: Zwischen Wertschätzung und Verschwendung“, Verbraucherzentrale, 13.12.2016 [Stand: 09. Juni 2017].
3. Vgl. „Die Hälfte aller Nahrungsmittel landet im Müll“, Lena Jakat, Süddeutsche Zeitung, 10.012013 [Stand: 09. Juni 2017].
4. Supermärkte dürfen Lebensmittel nicht mehr wegwerfen“, Jan Henne, GEO, 08.02.2017 [Stand: 09. Juni 2017] – und in Italien gibt es ein Gesetz, das Supermärkten, die nicht verkaufte Lebensmittel spenden, Steuererleichterungen gewährt: „Italien setzt Zeichen im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung“, Daniel Anthes, Wirtschaftswoche, 08.08.2016 [Stand: 09. Juni 2016].
5. Verschiedene Supermarktketten haben sich freiwillig verpflichtet, nicht verkaufte, aber genießbare Lebensmittel an Hilfsorganisationen zu spenden (vgl. „Die Supermärkte sind besser als ihr Ruf“, Anne- Christine Herr, Legal Tribune Online, 30.12.2014 [Stand: 09. Juni 2017]).
6. Dies gilt für Israel im Besonderen im Angesicht der eigenen Erfahrung der Unfreiheit und Angewiesenheit in Ägypten (siehe Deuteronomium 24,22).
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